Ausgabe 4-2021 : Oktober

Irgendwo dazwischen

„Ein Leben im falschen Körper“ – so werden transidente Personen oft beschrieben. Zwei Betroffene erzählen, wie sie selbst und ihr Umfeld den Weg zum anderen Geschlecht erlebt haben.

Bereits als Kind war bei Elke Spörkel der Wunsch da, als Mädchen zu leben.

Elke Spörkel öffnet die Tür ihres Einfamilienhauses in Isselburg nahe der niederländischen Grenze. Sie erscheint in ihrer Kleidung sehr weiblich. Die evangelische Pfarrerin hat sich für das Interview zurechtgemacht. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. „Darf ich euch ein Stück Kuchen anbieten?“ fragt sie freundlich. Wer sie nicht kennt, wird spätestens dann kurz überrascht, wenn Spörkel spricht. Ihre Stimme klingt ungewöhnlich tief, fast eine typische Männerstimme.

Wer Spörkel bereits länger kennt, lässt sich dadurch nicht mehr aus dem Konzept bringen. In ihrem Umfeld wissen praktisch alle Bescheid: Die 65-jährige Pfarrerin hatte früher einen männlichen Vornamen. Als Elke lebt sie erst seit rund zehn Jahren.

Transident – was ist das?

Elke Spörkel ist transident. Der Begriff „trans“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „jenseits“ oder „über“. Auf transidente Menschen bezogen heißt das, dass diese Personen sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren können, das aufgrund der äußeren Merkmale nach der Geburt eingetragen wurde. So auch bei Spörkel. Schon immer fühlte sie sich in ihrem Körper fremd; sie sehnte sich stehts danach, ihre Identität als Mädchen, als Frau leben zu können. Transident zu sein ist dabei weder eine Krankheit, noch hat es mit der sexuellen Orientierung zu tun. Auch ist es keine Phase, die wieder vorbeigeht. Alles Vorurteile, die in der Gesellschaft oft verbreitet sind und die auch die ausgebildete Psychotherapeutin und Diplom-Psychologin Lena Dierksmeier gut kennt.

Sie hat in ihrer Arbeit seit einigen Jahren einen Schwerpunkt auf transidente Menschen gelegt. Der Bedarf sei da. Schätzungen zufolge leben in Deutschland zwischen 20.000 und 80.000 transidente Personen. „Was die Bedürfnisse der Betroffenen sind, das wissen viele überhaupt nicht“, erzählt Dierksmeier. Die Klientinnen und Klienten, die zu ihr kommen, bringen viele Fragen mit. Bin ich richtig so? Wie kann ich meinem Umfeld mitteilen, dass ich mich im falschen Körper fühle? Nicht selten gehe das mit depressiven Phasen einher, weiß Dierksmeier. Der Leidensdruck sei bei vielen enorm.

Innerlich ein Spagat

Auch Elke Spörkel bekam das zu spüren. 1984 begann sie als Pfarrer in der evangelischen Gemeinde in Haldern in Nordrhein-Westfalen zu arbeiten. Sie war als Pfarrer beliebt – immer ein offenes Ohr für alle, kam gut bei den jungen Menschen an. Nebenbei war Spörkel Familienvater von insgesamt sieben Kindern. Ein nach außen erfülltes Leben. Für Spörkel selbst aber innerlich oft ein Spagat. Bereits in der Kindheit zog sie sich immer wieder zurück in die Heimlichkeit, um ihre weibliche Seite leben zu können. Der Wunsch, als Mädchen oder als Frau zu leben bestand, seitdem sie sich erinnern kann. Doch Vorbilder oder öffentlich zugängliche Informationen waren nicht vorhanden. „Lange dachte ich, ich wäre mit meinem Gefühl alleine auf der Welt“, erzählt Elke Spörkel heute. Der Gedanke, dass sie selbst transident sein könnte, kam ihr erst später.

Ein nach außen weibliches Erscheinungsbild ist für Elke Spörkel wichtig.
„Ich habe etwas vorgelebt, ein Bild, eine Täuschung – dass Menschen dann enttäuscht waren, ist kein Wunder.“
Elke Spörkel

2010 gingen dann Gerüchte durch Haldern. Der evangelische Pfarrer im Dorf sei in Frauenkleidern gesehen worden. Für Spörkel eine entscheidende Zeit. Einem Zusammenbruch folgten die Fragen wie „Kann ich noch? Will ich noch?“ Spörkel nahm an einer psychosomatischen Reha-Maßnahme teil und konnte dort erstmals fünf Wochen als Frau öffentlich leben – ein Befreiungsschlag. Danach war klar: In die Gemeinde möchte sie zurückkehren – aber nicht als Mann. Mit dem Rückhalt des damaligen Superintendenten Dieter Schütte folgte 2011 das Outing. Die Reaktionen waren unterschiedlich.
 

„Ich weiß, mein Weg ist mein Weg, und es gibt auch ganz viele andere Wege. Und das ist völlig ok so", sagt Elke Spörkel.

Im privaten Umfeld erhielt Spörkel wenig Unterstützung. Obwohl Spörkels damalige Ehefrau über die innersten Wünsche und die Sehnsucht des Partners Bescheid wusste und dies auch tolerierte, ließ sie sich nach dem öffentlichen Bekanntmachen scheiden. Auch bei den sieben Kindern, für die Spörkel jahrelang Vater war, war die Situation nicht einfach. Ein erwachsenes Kind Spörkels legte sogar den Nachnamen ab. Rückhalt erhielt die Pfarrerin zunächst vor allem in der Gemeinde. Die erste Reaktion auf das Outing war hier Beifall. Trotzdem mussten sich viele mit der Vorstellung, dass der Pfarrer jetzt auf einmal eine Frau sei, erst anfreunden. Spörkel kann das nachvollziehen. „Na klar, da braucht man Zeit und stellt sich Fragen. Kann ich damit umgehen? Will ich damit umgehen? Wie soll ich damit umgehen?“ Für einige hat Spörkel als Person der Öffentlichkeit, als Vorbild, versagt. „Ich glaube, ich habe etliche zutiefst enttäuscht. Denen habe ich etwas vorgelebt – ein Bild, eine Täuschung. Dass die dann enttäuscht waren, ist kein Wunder“, reflektiert sie.

Elke Spörkel neben ihrem alten männlichen Ich: Die lebensgroße Figur, die als Halterung für den Talar dient, ist ein Überbleibsel aus ihrer Zeit als Mann.

Gesetzlicher Rahmen und Bürokratie

Das Outing ist nur einer vieler Schritte auf dem Weg der Transition – aber einer der wichtigsten. Auch in den psychotherapeutischen Stunden von Lena Dierksmeier ist das einer der Grundpfeiler. „Für viele transidente Personen ist das Outing die größte Herausforderung. Wie sage ich das meinen Eltern, meinem Umfeld?“, erzählt sie. 

Psychotherapie, Namensänderung, Hormontherapie und mögliche geschlechtsangleichende Operationen – die Liste an Möglichkeiten, um auch im gefühlten Geschlecht leben zu können, ist lang. Die Kosten für geschlechtsangleichende Maßnahmen übernimmt in Deutschland dabei die Krankenkasse. Das entschied 1987 das Bundessozialgericht. Dazu sind allerdings einige Voraussetzungen, wie zum Beispiel eine psychotherapeutische Begleitung notwendig, die mit einem Gutachten einher gehen. Die Vorgaben für die Namensänderung regelt in Deutschland das seit 1981 bestehende Transsexuellengesetz (TSG). Eine von der FDP und den Grünen geforderte Reform des TSG zum Selbstbestimmungsgesetz scheiterte im Bundestag kürzlich. Das Ziel des Selbstbestimmungsgesetzes: Weniger Hürden für die Betroffenen im Prozess der Geschlechtsangleichung. Dierksmeier kann das nachvollziehen. „Für die Gutachten müssen teils sehr intime Fragen beantwortet werden.“ Sie wünscht sich Veränderung.

Der Weg zum Mann-Sein

Auch Luca Duysak kennt das Problem. Der 27-Jährige ist als biologische Frau zur Welt gekommen und hat 2017 den Weg zum Mann-Sein begonnen. „Papierkram ist überall – ich kann das zum Teil nachvollziehen, dass das benötigt wird. Für Leute, die sich in ihrer Entscheidung aber so sicher sind und möglichst schnell geschlechtsangleichende Maßnahmen beginnen möchten, ist das allerdings nur eine zusätzliche Hürde mehr.“ Luca spricht aus Erfahrung. Viele Schritte auf dem Weg zum „Mann-sein“ hat der gelernte Einzelhandelskaufmann aus der Nähe von Bonn bereits hinter sich.
 

Luca Duysak

Wie auch Elke Spörkel merkte er bereits in seiner Kindheit, dass er irgendwie anders ist. „Man fühlt sich wie in einer Blase und fragt sich: Wann komme ich da heraus?“, versucht er das Gefühl zu beschreiben, das er vor der Transition hatte. „Wenn die Blase dann einmal geplatzt ist, merkt man, wie frei man dann auf einmal ist.“ Für Luca geschah dies im Vergleich zu Elke Spörkel früh. Sein Umfeld war nicht überrascht. „Meine Mutter meinte, sie habe sich nur gefragt, wann ich es denn endlich erzählen würde“, meint er. Luca ist dankbar für die Reaktionen. „Ich hatte das Glück, Leute in meinem Umfeld zu haben, die hinter mir stehen oder mir zumindest nicht im Weg stehen.“ 

„Man fühlt sich wie in einer Blase und fragt sich, wann komme ich da heraus?“
Luca Duysak

2017, mit 23 Jahren, hat er dann mit einer psychotherapeutischen Begleitung begonnen. Dierksmeier führt solche Begleitungen durch und weiß, was Betroffenen gut tut. „Sich auf Augenhöhe zu begegnen, ist total wichtig“, betont sie. „Das geht dabei los, dass ich in der ersten Stunde frage, wie die Person genannt werden möchte.“

Mindestens zwölf Stunden professionelle Begleitung sind notwendig, um mit der Hormoneinnahme beginnen zu können. Dabei bekommen die Transmänner, also biologisch ursprüngliche Frauen, in regelmäßigen Abständen das Hormon Testosteron verabreicht, die Transfrauen Östrogen. Die Hormone müssen lebenslang eingenommen werden und sorgen für äußere, aber auch innere Veränderungen. „Wenn ich Patienten von mir länger nicht mehr gesprochen habe und sie dann am Telefon habe, erkenne ich die Stimme oft gar nicht mehr“, schmunzelt Dierksmeier.

Luca erhielt von seinem Umfeld viel Unterstützung und ist dafür sehr dankbar.

Der Hormontherapie folgen oft geschlechtsangleichende Operationen, die schrittweise vorgenommen werden können. Luca hatte die erste 2021: Die Brustabnahme, oder auch Mastektomie. Für den jungen Mann eine Erleichterung. Schluss ist für ihn hier allerdings noch nicht. Für Luca stand schnell fest: „Ich möchte alle geschlechtsangleichenden Operationen machen. Erst dann fühle ich mich auch vollkommen als Mann.“

Bereits jetzt schätzt Luca das Gefühl, von der Außenwelt als Mann wahrgenommen zu werden. Zum Zeitpunkt des Interviews stand Luca kurz vor seiner zweiten Operation, bei der die Eierstöcke und die Gebärmutter entfernt werden. Vor dem Eingriff habe er Respekt, aber keine Angst.

Glaube gibt Kraft

Auch Elke Spörkel kennt Veränderungen des Körpers. Sie nimmt seit über zehn Jahren weibliche Hormone. „Als ich angefangen habe, Östrogen zu nehmen, hat sich das Gefühlsleben komplett verändert. Ich war viel näher dran an meinen Tränen. Jede Stimmung wurde verstärkt“, berichtet sie.

Während die 65-jährige Pfarrerin auf dem schwarzen Ledersessel im heimischen Wohnzimmer sitzt und erzählt, wirkt sie selbstbewusst. Das war nicht immer so. Nach ihrem Outing folgte auch eine depressive Phase. Was ihr Kraft gegeben hat? „Ich hatte das Glück, ein ganzes Netz an Menschen zu haben, die mich aufgefangen haben. Und dann war auf jeden Fall auch der Glaube da, der mich gehalten hat“, meint Spörkel, „ich war mir sicher, dieser Gott, an den ich glaube, der hält mich in der Hand.“
 

2016 änderte sich die Situation in der Gemeinde nach dem ersten Rückhalt zum Zeitpunkt des Outings. Als Spörkel ihre heutige Frau kennenlernt und dieser einen Heiratsantrag macht, fordern einige in der Gemeinde ihren Rücktritt. Der Kirchenvorstand beschloss, nicht mehr mit Spörkel als Pfarrerin zusammen arbeiten zu wollen. Spörkel verließ die Gemeinde, in der sie dreißig Jahre lang tätig war.

Heute arbeitet sie als Seelsorgerin in Krankenhäusern und Altenheimen. Gegenwind erfährt sie dort kaum. „Für die allermeisten älteren Menschen ist das überhaupt kein Problem.“ Ihren Weg bereut sie nicht. Was hat sie zurückgehalten, sich erst 2011 zu outen? „Alles!“ Die Antwort kommt klar und schnell. „Man ist immer auch Kind seiner Zeit und Kind seiner Lebensgeschichte“, erläutert Spörkel. „Lange hatte ich das Gefühl, ich muss mich für das, was ich bin, im Tiefsten schämen.“ Erst der steigende Leidensdruck führte zu einer Veränderung der Lebenssituation. „Ich weiß, mein Weg ist mein Weg, und es gibt auch ganz viele andere Wege. Und das ist völlig ok so.“

„Ich glaube nicht, dass das Leben schwarz-weiß ist. Das ist die Sehnsucht vieler, aber ich glaube, die Welt ist bunt.“
Elke Spörkel

Dass sich Leute von Spörkel abgewandt haben, bedauert sie. Aber es sind andere Leute hinzugekommen. „Ich mache Segnungen für transidente Menschen. Wenn man ihnen die Hand auflegt und sagt, so wie du bist, ist es gut – das berührt mich unheimlich!“, erzählt die Pfarrerin begeistert. Inzwischen leitet die 65-Jährige eine Selbsthilfegruppe für transidente Menschen. Rund 25 bis 30 Personen zwischen 14 und 70 Jahren treffen sich dort regelmäßig. 

Dass Elke Spörkel und ihre Transidentität häufig Gesprächsthema sind und sich Leute daran stoßen, ist ihr bewusst. Die Haltung der Pfarrerin ist dazu klar: „Ich glaube nicht, dass das Leben schwarz-weiß ist. Das ist die Sehnsucht vieler, aber ich glaube, die Welt ist bunt und es gibt auch ganz viel zwischen schwarz und weiß.“ Was sie sich wünscht? „Ich bin der Meinung, dass wir alle ein Stück weit davon weg kommen müssen, über Menschen zu urteilen.“

Ein ausführliches Interview mit Luca Duysak findest Du hier.

Um gendergerechte Sprache geht es zudem in dem Beitrag "Eine Frage der Gerechtigkeit". 

Fotos: Barbara Bechtloff, Franziska Reeg

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1 Kommentare

  • Paul Schroeter
    am 28.10.2021
    6 Seiten zu Geschlechtervielfalt, Transidentität einer evangelischen Pfarrerin und Geschlechtergerchter Sprache im neuen Magazin. So geht Kolping Upgrade! Ich bin begeistert!
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