Ausgabe 4-2023 : November

Ein Blick hinter die Fassade der Täter

Mario Stahr ist Sozialpädagoge aus Ulm. Er arbeitet seit vielen Jahren täglich mit Gewalttätern. Mit dem Kolpingmagazin spricht er über die Bedeutung von Täterarbeit für die Prävention von Gewalt.

Kolpingmagazin: Was ist Täterarbeit?

Stahr: Am Anfang schauen wir immer erstmal, welche Notfallpläne helfen, um eine sehr eskalative Gewalt zu vermeiden, denn viele der Täter, die zu uns kommen, leben aktuell noch in der Beziehung. Das sind kurzfristige Lösungen. Ursachen für die Gewalttaten bestehen immer noch. Das braucht in weiteren Schritten viel länger. Da schauen wir dann gemeinsam: Wo fängt Gewalt an? Welche Formen von Gewalt gibt es, wie sieht ein Gewaltkreislauf aus? Welche Auswirkungen hat Gewalt auf alle Beteiligten und die Kinder? Wie habe ich mich als Kind gegenüber meinem Vater erlebt, und wie erlebe ich mich jetzt als Vater gegenüber meinem Kind? – Das sind nur einige Inhalte des Sozialen Trainingskurses nach den Standards der BAG TäHG der mindesten ein halbes Jahr dauert und etwa 25 Sitzungen umfasst.

Mario Stahr ist Sozialpädagoge aus Ulm. Hier arbeitet er seit zehn Jahren in der psychologischen Beratungsstelle und ist im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit häusliche Gewalt e.V. (BAG TäHG). Sie ist dem profeministischen Dachverband von Täterarbeitseinrichtungen in Deutschland angeschlossen. Die Mitglieder bieten Beratungsprogramme für gewaltausübende Männer in unterschiedlichen Formaten an und kooperieren mit verschiedenen Institutionen und Behörden. Stahr arbeitet seit vielen Jahren täglich mit Gewalttätern. Er kennt all ihre Täterstrategien, klärt auf über Gewaltzyklen, hilft beim Bearbeiten von Traumata und entwickelt gemeinsam mit Tätern alternative Strategien zur Stressbewältigung. Wir sprachen mit ihm über die Bedeutung von Täterarbeit für die Prävention von Gewalt.

Wie kommen die Männer zu ihnen?

Es gibt verschiedene Wege, zum Beispiel über die Staatsanwaltschaft, das Jugendamt, das Gericht und die Polizei.

Wie hoch ist die Rückfallquote der Männer, die das Programm komplett durchlaufen haben?

Nach unseren Erfahrungen ca. zehn Prozent. Das ist erstmal wenig im Vergleich zu anderen Rückfallquoten, wie zum Beispiel bei Suchterkrankten. Da kommen wir zu dem Punkt, dass gar nicht alle, die kommen, auch die ganze Zeit dabei sind. Es ist nicht möglich, mit jemandem zu arbeiten, der darstellt und sagt, dass überhaupt nichts passiert ist, obwohl es mehrfach zu zum Teil schwerer Gewalt gekommen ist. Aber die, die das Programm komplett durchlaufen, da kann man wirklich sagen, die haben genug an der Hand, um dann auch auf Dauer eine gewaltfreie Beziehung leben zu können.

"Täterarbeit ist Opferschutz. Solange die gewaltausübende Person keine Hilfe bekommt, macht sie weiter wie bisher".
Mario Stahr

Was kann die Politik tun?

Sie sollte die Istanbul-Konvention vollumfänglich umsetzen. Angefangen bei der Hilfe für die von Gewalt Betroffenen: Viel mehr und bessere, flächendeckendere Finanzierung von Beratungsstellen, Frauenhäusern und Täterarbeitseinrichtungen finanzieren. Es gibt deutschlandweit circa 90 Einrichtungen, die der BAG TäHG angehören. Das ist zu wenig. Es gibt Lücken, durch die Menschen bis zu 100 Kilometer und mehr reisen müssten. Das darf nicht sein. Es muss flächendeckend finanziert werden. Es ist klar die Aufgabe des Staates, das zu finanzieren.

Was sind Gründe dafür, dass Menschen Gewalt ausüben?

Die Veranlagung für Gewalt bringen gewaltausübende Menschen mit in die Beziehung. Zum Beispiel, weil sie nie gelernt haben, anders mit Stress, Emotionen und Konflikten umzugehen oder selbst Gewalt erlebt haben. Es gibt verschiedene Ausgangslagen. Nicht jeder Mensch, der als Kind Gewalt erlebte, übt als Erwachsener selbst Gewalt aus. Aber jeder, der als Erwachsener Gewalt ausübt in Beziehungen, hat als Kind selbst Gewalt erlebt. Die Beziehung kann zu Beginn trotzdem liebevoll und harmonisch sein. Dann kommen gegebenenfalls kleine Anlässe, die erstmal nur zu Diskussionen und Streit führen und dann immer größer werden. Aber eben auch, wenn ein Rollenbild mit einhergeht, das nicht auf Gleichberechtigung beruht. Jemand mit zum Beispiel einem sehr patriarchalen Rollenbild zeigt das nicht von vornherein, sonst würde er keine Beziehung eingehen können.

Wie blicken Sie auf Gedenktage und Aktionen wie z.B. den Orange Day, die auf die Gewaltthematik aufmerksam machen sollen?

Wenn ich mir etwas wünschen würde, dann dass es keine Gedenktage geben muss, weil es zu keinen schweren Gewalttaten mehr kommt. Ansonsten braucht es keine Gedenktage, um über das Thema häusliche Gewalt zu berichteten. Je häufiger darüber berichtet wird, umso besser ist das.

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Fotos: Africa Sudio/shutterstock.com; privat

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