Ausgabe 3-2021 : Juli

Was zwingt Menschen zur Flucht ?

Kriege, Klimakatastrophen, bittere Armut. Die Gründe, warum Menschen Ihre Heimat verlassen oder verlassen müssen, sind vielfältig! Die Fluchtursachen müssen erkannt und bekämpft werden, damit Menschen in ihrer Heimat leben können.

Ein überlebender Migrant wird im Mai in der spanischen Enklave Ceuta von einem Mitglied des spanischen Roten Kreuzes an er Genze Marokko/Spanien getröstet. Tausende Migranten waren von der marokkanischen Küste über das Mittelmeer nach Ceuta gekommen, die meisten davon schwimmend.

Im Jahr 2020 waren 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist ein neuer Höchststand, den das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) anlässlich des Weltflüchtlingstages im Juni bekannt gegeben hat. Demnach hat sich die Zahl der Geflüchteten in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Trotz der coronabedingten Reisebeschränkungen haben fast drei Millionen Menschen mehr als im Vorjahr aufgrund von Konflikten oder Verfolgung ihre Heimat verlassen. Aus Syrien kommen die meisten Geflüchteten (6,7 Millionen Menschen bis Ende 2020). Hinzu kommen 1,7 Millionen Vertriebene im Land.

Über 42 Prozent der Geflüchteten weltweit sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen schätzt, dass fast eine Million Kinder zwischen 2018 und 2020 als Geflüchtete geboren wurden. Sie werden voraussichtlich noch viele Jahre als solche leben müssen. Mehr als zwei Drittel aller Menschen, die aus ihrem Heimatland flohen, stammen aus nur fünf Ländern: Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myanmar. Und die meisten Flüchtlinge weltweit (86 Prozent) werden von Nachbarländern aufgenommen, die oft selbst Entwicklungsländer sind. Sie tragen im Gegensatz zu den Industrienationen wie Deutschland die Hauptlast, denn nur ein kleiner Teil aller Geflüchteten findet den Weg in reiche Länder.

Keine Hierarchie der Fluchtgründe

Hinter jeder dieser Zahlen würden Menschen stehen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, sowie Schicksale von Flucht, Entwurzelung und Leid, sagt Uno-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi und ergänzt: „Jeder Einzelne verdient unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung – nicht nur durch humanitäre Hilfe, sondern indem Lösungen zur Beendigung ihrer Not gefunden werden.“

Mitte Juni hat die von der Bundesregierung beauftragte Fachkommission Fluchtursachen ihren Bericht vorgelegt. Darin benennen die 24 Mitglieder aus Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaft und internationalen Organisationen die nach ihren Erkenntnissen wesentlichen Ursachen von Flucht und irregulärer Migration, und sie legen Handlungsempfehlungen vor. Als direkte Auslöser für Flucht und sogenannte irreguläre Migration (illegale Einwanderung) benennt die Kommission Konflikte und Verfolgung, das Versagen von Regierungen und Institutionen sowie Armut und fehlende Lebensperspektiven.

Hinzu kommen indirekte Ursachen wie die Auswirkungen des Klimawandels und die Zerstörung der Umwelt. Mangelnde Schutz- und Reintegrationssysteme in Transit- und Herkunftsländern führen zu weiteren Wanderungsbewegungen. Dies befördert, ebenso wie das Agieren von Schleusernetzwerken, die illegale Einwanderung in andere Länder. Eine Hierarchie der Fluchtgründe gebe es nicht, sagt die Kommission. Es gebe fast immer mehrere Gründe, die Menschen zum Verlassen Ihrer Heimat bewegen. Deshalb empfiehlt die Kommission ein Paket mit verschiedenen Maßnahmen, um Flucht und irregulärer Migration entgegenzuwirken.

Die wichtigsten Faktoren für Flucht und irreguläre Migration. Quelle: Fachkommission Fluchtursachen der Bundesregierung (2021): Krisen vorbeugen, Perspektiven schaffen, Menschen schützen. Bericht der Fachkommission Fluchtursachen der Bundesregierung. Berlin.

Dazu sagt Bärbel Diekmann, eine der Vorsitzenden der Kommission: „Fluchtursachenbekämpfung kann nur gelingen, wenn Menschen die Möglichkeit haben, eine bessere Lebensperspektive in ihren Ländern aufzubauen. Dem müssen unsere Anstrengungen gelten.“ Entwicklungshilfeminister Gerd Müller ergänzt, dass Bevölkerungswachstum und Klimawandel die Fluchtursachen der kommenden Jahre bestimmen werden.

So werde sich die Bevölkerung in Subsahara-Afrika in den kommenden 30 Jahren auf 2,1 Milliarden Menschen verdoppeln. Und aktuell gebe es 25 Millionen Klimaflüchtlinge, doch die Weltbank prognostiziere einen Anstieg auf 125 Millionen in den nächsten 20 Jahren, wenn der Klimawandel nicht begrenzt werde, betonte der Minister. Eine weitere Fluchtursache ist laut Müller die Corona-Pandemie: „Sie hat 150 Millionen Menschen in absolute Armut zurückgeworfen“.

"Jeder Einzelne verdient unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung – nicht nur durch humanitäre Hilfe, sondern indem Lösungen zur Beendigung ihrer Not gefunden werden."
Uno-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi

In bewaffneten Auseinandersetzungen wird Vertreibung oft gezielt forciert. Menschenrechtsverletzungen und die systematische Verfolgung einzelner Personen oder Gruppen treiben viele Menschen in die Flucht. Im Vergleich zu Kriegen zwischen verfeindeten Staaten haben innerstaatliche Konflikte, wie bewaffnete Aufstände und Bürgerkriege, stark zugenommen. Rebellen, Drogenkartelle und andere kriminelle Gruppen sind weltweit für immer mehr Todesopfer verantwortlich. Dabei ist nicht allein die Angst vor Gewalt, sondern auch die Zerstörung der Lebensgrundlagen Ursache für Migrationsbewegungen. Wenn Gesundheitssysteme, Bildungssysteme und Arbeitsplätze zerstört sind, bleibt oft nur die Flucht als letzter Ausweg.

Ausführlich beschreibt die Fachkommission die Verletzungen des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten. Vergewaltigungen werden weltweit gezielt eingesetzt, um die Zivilbevölkerung zu demütigen und einzuschüchtern. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch daran, dass Kinder in verschiedenen Ländern zwangsrekrutiert und als Kindersoldaten missbraucht werden.

Unter Drogen gesetzt, begehen sie oft unbeschreibliche Gräueltaten – auch an ihren eigenen Verwandten. Schwer traumatisiert entkommen Kinder und Jugendliche nur selten den Milizen, und sind dann dringend auf Hilfsangebote angewiesen.

Wovon 87 Prozent der Weltbevölkerung betroffen sind

Auch die Verfolgung aus politischen Gründen nimmt weltweit zu. Civicus Monitor, eine internationale Plattform zivilgesellschaftlicher Organisationen, berichtet, dass in 114 Ländern die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt, wenn nicht sogar völlig unterdrückt sind. Davon betroffen sind 87 Prozent der Weltbevölkerung, im Wesentlichen Länder des Nahen Ostens und in Afrika.

Ein weiterer Grund, die Heimat zu verlassen, ist für viele Menschen die Verfolgung aufgrund ihrer Religion oder ihrer Weltanschauung. Der Bericht der Fachkommission verweist auf die ethisch-religiöse Diskriminierung in Myanmar, von der besonders die mehrheitlich muslimischen Rohingya betroffen sind, die 1982 zu Staatenlosen erklärt wurden. Nachdem im Jahr 2017 die Rohingya-Rebellengruppe ARSA einen Angriff auf das Militär verübt hatte, reagierte die Armee mit massiver Gewalt. Daraufhin flüchteten über 870.000 Rohingya nach Bangladesch.

Im Jahr 2016 feierte Rainer Maria Kardinal Woelki in Köln die Fronleichnamsmesse mit diesem Flüchtlingsboot als Altar. „Wir wollen den Menschen auf der Flucht deutlich machen, dass Christus sich so mit ihnen identifiziert, dass er mit ihnen im Boot sitzt. Sie sollen hier bei uns eine neue Lebensperspektive gewinnen“, erklärte der Erzbischof. Das Boot hat inzwischen Station in vielen Gemeinden des Erzbistums gemacht.

Wenn Gruppen sich auf eine religiös geprägte Ideologie berufen, rechtfertigen sie damit oft gewaltsame Übergriffe, die Fluchtbewegungen nach sich ziehen. Beispiele sind die gewaltsamen Übergriffe und Massenentführungen durch Boko Haram, eine islamistisch terroristische Gruppeirung in Norden Nigerias.

Am Beispiel Venezuela wird deutlich, wie ein Mix aus schlechter Staatsführung, Misswirtschaft und Korruption Menschen dazu bringt, ihre Heimat zu verlassen. 76 Prozent der venezolanischen Bevölkerung lebt inzwischen unterhalb der Armutsgrenze. In dem rohstoffreichen Land sind das Sozialsystem und das Gesundheitssystem längst zusammengebrochen. Seit 2017 haben über fünf Millionen Menschen das Land verlassen und vor allem in anderen Ländern Lateinamerikas Schutz gesucht. Allein Kolumbien mit seinen rund 50 Millionen Einwohnern, hat 1,8 Millionen Menschen aufgenommen.

Enorme Gewalt

Ist ein Land reich an Rohstoffen, dann bedeutet das nicht, dass die Bevölkerung im Wohlstand lebt. Das extreme Gegenteil ist oft der Fall. Beispiel: die Demokratische Republik Kongo. Hier müssen Menschen mit einfachsten Mitteln Rohstoffe wie Coltan aus dem Boden holen, die für die Produktion von Smartphones unverzichtbar sind. Dabei sind sie permanent schlimmsten Menschenrechtsverletzungen und enormer Gewalt ausgesetzt. Darauf machen Kolping und missio in Rahmen ihrer gemeinsamen Handyspendenaktion aufmerksam. Die Fachkommission Fluchtursachen beschreibt noch weitere wichtige Fluchtursachen, die hier nicht alle aufgegriffen werden können.

Abschließend hat die Kommission aus der Vielzahl ihrer Empfehlungen 15 ausgewählt, die sie der derzeitigen und der künftigen Bundesregierung mit auf den Weg gibt. Fluchtursachen müssen umfassend betrachtet und bekämpft werden. Deshalb fordert die Kommission ein ressortübergreifendes Vorgehen. „Wir schlagen die Einrichtung eines Rates für Frieden, Sicherheit und Entwicklung vor“, sagt Gerda Hasselfeldt, die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes.

Zu den Empfehlungen der Kommission gehören auch der Aufbau sozialer Sicherungssysteme, die Stärkung von Institutionen und guter Regierungsführung sowie die gezielte Förderung von Klimaschutz. Das Gremium fordert zudem mehr Aufmerksamkeit für Binnenvertriebene und die Unterstützung von Aufnahmeländern. Ferner spricht sich der Rat für eine Allianz mit anderen Staaten zur dauerhaften Übernahme von Geflüchteten aus, dem sogenannten Resettlement.

Der Bundesverband entwicklungspolitischer und humanitärer Nichtregierungsorganisationen (VENRO), in dem auch Kolping International Mitglied ist, fordert, dass die Empfehlungen nach der Bundestagswahl bei den Verhandlungen zur Regierungsbildung berücksichtigt werden.

Fotos: picture alliance/Bernat Armangue und Georg Wahl

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Ob sie ihr Ziel lebend erreichen, wussten Nidal Rashow und Housen Gauer nicht: Das Risiko gingen sie dennoch ein – denn ihre Heimat zu verlassen, war für sie alternativlos. Weshalb genau und was sie auf ihrer gefährlichen Flucht erlebt haben, lest ihr hier im zweiten Teil unseres großen Themenschwerpunkts Fluchtursachen.