Ausgabe 3-2021 : Juli

Weil sie nicht töten wollen

Ob sie ihr Ziel lebend erreichen, wussten Nidal Rashow und Housen Gauer nicht: Das Risiko gingen sie dennoch ein – denn ihre Heimat zu verlassen, war für sie alternativlos. Zwei Fluchtgeschichten.

Zufrieden: Nidal Rashow ist stolz auf das, was er in Deutschland bisher erreicht hat, will aber nicht als Maßstab für andere Geflüchtete gelten. „Viele sind stark traumatisiert“, bittet er um Verständnis.

Treffpunkt: Ebertplatz. Frische Luft, Abstand – coronakonform. Im Hintergrund plätschert das Wasser des Springbrunnens gegen matte silberne Edelstahlscheiben und sorgt so für eine kühlende Brise. Doch selbst ohne sie lässt es sich an diesem Juni-Nachmittag bei angenehmen 24 Grad hier auf dem größten Platz der Kölner Ringstraßen gut aushalten. „Es ist schon verrückt“, sagt Nidal Rashow – kurze Haare, dunkler Bart – und blinzelt in die Sonne. Das karierte Hemd trägt er über der hellblauen Jeans. „Genau jetzt vor sechs Jahren saß ich in einem klapprigen Boot auf dem Mittelmeer.“ Als einer von etwa 450 Menschen. Mehr als 300 zu viele, um noch vernünftig navigieren zu können.

Von einer kühlenden Brise keine Spur. Nicht hier, auf hoher See, irgendwo zwischen Libyen und Italien. Nicht an Deck und erst recht nicht im Maschinenraum, der ebenfalls mit Menschen prall gefüllt ist. Sengende Hitze, Hunger, Durst. Rashows Unterlippe ist zu diesem Zeitpunkt längst so spröde, dass sie in der Mitte gerissen ist. Doch seine Gedanken sind damals woanders. „Ich hatte einfach nur gehofft, dass uns eine Hilfsorganisation findet, bevor wir kentern“, erzählt der 35-Jährige in nahezu fehlerfreiem Deutsch. „Lange hätte sich das Boot nicht mehr auf dem Wasser gehalten.“

Rettung nach 17 Stunden

Nach 17 Stunden auf dem Meer ist es das Rote Kreuz, das das überfüllte Boot entdeckt und somit dafür sorgt, dass Rashow seine Geschichte erzählen kann. Es ist die Geschichte einer gefährlichen Flucht, eines Neuanfangs mit 28 Jahren – und einer gelungenen Integration. Eine Geschichte, die nicht erzählt werden müsste, würde sich Syrien nicht seit 2011 im Bürgerkrieg befinden.

„Ohne den Krieg wäre ich definitiv nicht nach Deutschland gekommen. Ich war mit meinem Leben in Syrien glücklich."
Nidal Rashow

Ausgelöst vom friedlichen Protest gegen das autoritäre Regime von Präsident Baschar al-Assad im Zuge des Arabischen Frühlings Anfang 2011 hat sich inzwischen ein Konflikt entwickelt, in den verschiedenste religiöse und ethnische Gruppen sowie zahlreiche Drittstaaten involviert sind. Ein Ende ist nicht einmal ansatzweise in Sicht. Etwa 1,7 Millionen Frauen, Männer und Kinder sind derzeit innerhalb Syriens auf der Flucht, schätzen die Vereinten Nationen (UN). Mehr als vier Millionen seien bereits ins Ausland geflohen.

„Ohne den Krieg wäre ich definitiv nicht nach Deutschland gekommen“, erzählt Rashow. „Ich war mit meinem Leben in Syrien glücklich.“ Trotz der Kämpfe in Homs, Syriens drittgrößter Stadt, schließt er sein Englisch-Studium 2012 noch ab und arbeitet als Lehrer. Dann meldet sich das Militär. Es sei Zeit für den Wehrdienst. Schnell schreibt sich der frischgebackene Absolvent in einen anderen Studiengang ein. Um Zeit zu gewinnen. „Ich hatte gehofft, dass sich die Lage bessert. Aber nach zwei Jahren kam die klare Ansage, dass es keine Verlängerung mehr geben wird und ich spätestens 2015 zum Militär muss.“

Fünf Stationen in drei Monaten

Vor dem Krieg lag die Wehrpflicht in Syrien noch bei einem Jahr und neun Monaten. Seit den ersten Kämpfen gibt es kein offizielles Ende: Der Dienst endet, wenn der Krieg vorbei ist. Für die Eingezogenen bedeutet das wenige Monate Grundausbildung, ehe sie als Soldaten auf den Straßen stehen – in einem Kampf gegen ihre Mitbürger. „Das konnte ich einfach nicht. Mein Ziel war es, Lehrer zu werden und zu unterrichten. Nicht, Menschen zu töten.“ Was also tun? Untertauchen? Nicht möglich. „Es gab ja an jeder Ecke Straßensperren, die Personalien kontrollieren“, erinnert sich Rashow. Ihm bleibt nur die Flucht. Das finden auch seine Eltern, die extra einen Teil ihres Grundstücks verkaufen, um dem ältesten ihrer neun Kinder die Flucht mitzufinanzieren.

„Der Abschied war nicht einfach. Man weiß ja nicht, ob man überhaupt ankommt. Aber als junger Mann hast du keine anderen Möglichkeiten, wenn du nicht töten willst.“ Exakt drei Monate liegen zwischen dem Tag des Abschieds und dem 1. August 2014. Dem Tag, an dem Rashow in Bonn ankommt. Der Stadt, in der er noch immer lebt. Der letzten von fünf Stationen: Türkei, Libyen, Italien, Frankreich, Deutschland. Da die Grenze zur Türkei 2014 noch geöffnet ist, gestaltet sich die Ausreise ins Nachbarland und der Flug als Tourist nach Libyen noch nicht als große Hürde. Doch plötzlich scheint die Flucht beendet.

Mit 50 Menschen in einer Wohnung

Angekommen in einer kleinen Stadt gleich am Meer, soll am nächsten Tag der gefährlichste Part anstehen: die Fahrt übers Mittelmeer. „Die Schlepper haben uns dort mit etwa 50 Leuten in eine Wohnung gesteckt“, erzählt Nidal Rashow. „Wir wurden aber immer wieder vertröstet“. Am 13. Tag rufen Nachbarn die Polizei. Rashow muss ins Gefängnis. „Dort haben wir die Hoffnung verloren, als sie uns sagten, dass sie uns zurück nach Syrien schicken wollen.“ Ihre Rettung: Korruption. Der Schlepper besticht die Polizisten. Es kann weitergehen. „Danach haben wir uns vor Ort aber einen anderen Schlepper ausgesucht.“ Drei Tage und eine Rettung in letzter Sekunde durch das Rote Kreuz später, ist Rashow auf Sizilien.

Seit 2018 engagiert sich Nidal Rashow (weißes T-Shirt) als Honorarkraft für das Kolping-Netzwerk für Geflüchtete und leitet dort unter anderem Workshops.

Die restliche Flucht im Zeitraffer: Selbst organisierte Zugfahrten über Rom, Mailand und Nizza nach Frankfurt. Asylgesuch bei der Polizei. Aufnahmelager in Gießen. Zwischenstation in Dortmund. Ankunft in Bonn. Endlich sicher. „Eigentlich wollte ich wegen meinen Sprachkenntnissen ja nach England, aber ohne meinen Pass konnte ich nicht einreisen – und den musste ich in Libyen im Gefängnis lassen.“ So ist es dann doch Deutschland geworden“, sagt Rashow und schiebt schnell hinterher: „Zum Glück.“

Wie im Zeitraffer wirkt auch, was er in den vergangenen sechs Jahren erreicht hat. Ehrenamtliche Helfer legen ihm nahe, Soziale Arbeit zu studieren. Parallel dazu engagiert sich Rashow beim Kolping-Netzwerk für Geflüchtete (siehe Kasten auf Seite 12) und betreut geflüchtete Kinder für das Bonner Jugendamt – das ihm danach eine Vollzeitstelle als Sozialarbeiter anbietet. In der Zwischenzeit heiratet er und wird Vater einer Tochter. „Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen macht mir unglaublich viel Spaß, von daher freue ich mich, wenn es im Herbst wieder beim Jugendamt losgeht.“

Denn noch laufen die letzten Monate seines Sonder­urlaubs. Den hat der 35-Jährige bekommen, um dem Bachelor noch einen Master in internationaler Politik folgen zu lassen. Der Deutsche Akademische Austauschdienst hat ihm für seine Studienleistungen unlängst einen Preis verliehen. Etwas anderes ist ihm aber noch viel wichtiger: Sein Personalausweis. Seit 2020 ist Nidal Rashow offiziell Deutscher. Erst seitdem fühle er sich richtig integriert. „Denn jetzt zählt meine Stimme.“ Etwas, worauf die Bürgerinnen und Bürger Syriens noch immer warten.

Ganz entspannt: Housen Gauer (Bild oben) am Ufer des Altrheins in seiner neuen Heimat Bobenheim-Roxheim (Rheinland-Pfalz).

Zwar hat die Schrift inzwischen etwas an Farbe verloren, gut zu lesen sind die blauen Buchstaben aber noch immer – jedenfalls für alle, die Arabisch können. „Das bedeutet ,Herzlich willkommen in deiner neuen Wohnung‘“, übersetzt Housen Gauer gut gelaunt, den Text auf dem grünen Zettel an seiner Küchentüre. „Das hängt hier seit ich vor fünf Jahren eingezogen bin – und solange ich hier wohne wird es auch hängen bleiben.“

Für den 39-Jährigen ist es mehr als nur eine nette Geste zum Einzug, die mit den Umzugskartons im Papiermüll landet. Es ist die tägliche Erinnerung, dass sich im April 2016 nicht nur eine Tür zu einer eigenen Wohnung öffnete, sondern auch die zu einer neuen Familie. „Ich habe Heiko vor Begeisterung fast angeschrien. Er hatte extra im Asylheim nach jemandem gesucht, der arabisch kann und eine schöne Handschrift hat.“

Eine kleine Geste mit großer Wirkung: „Herzlich willkommen in deiner neuen Wohnung“ steht auf Arabisch auf dem Zettel an Housen Gauers Küchentür. Eine Einzugs-Überraschung seines späteren Adoptivbruders.

Heiko ist der Sohn jener Frau, die Housen angeboten hat, ins leerstehende Erdgeschoss ihres Hauses zu ziehen. Zwei Jahre später adoptiert sie ihn. Heiko ist jetzt sein Bruder. „Meine Sachbearbeiterin sagt immer, ich sei ein Glückskind, weil ich ja jetzt zwei Familien habe. Und sie hat absolut Recht“, sagt der Mann mit dem grau-schwarzen Haaren, der gefühlt immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen hat.

Ohne eine Familie könne er nicht leben. Die Gauers haben ihm wieder eine gegeben. Hier, in Bobenheim-Roxheim, einer 10.000-Einwohner-Gemeinde in Rheinland- Pfalz. Knapp drei Kilometer entfernt von Worms – und über 3.800 Kilometer von Damaskus, Housen Gauers Heimatstadt.

Dem Tod zweimal ins Auge geblickt

Bis Mitte 2015 wohnt er zusammen mit seinen Eltern und fünf der sechs Geschwistern in einem Ort unweit der syrischen Hauptstadt. „Dass man eine eigene Wohnung hat, gibt es bei uns eigentlich nicht“, erklärt Gauer, der damals noch al Hakeem heißt. „Man zieht erst aus, wenn man heiratet. Egal, wie alt man ist.“ Der Krieg tobt bereits seit vier Jahren, doch der Alltag geht für Gauer damals trotzdem weiter. Täglich pendelt er nach Damaskus, wo er in einer Bank eine eigene Abteilung leitete. Sein berufliches Ziel ist aber ein anderes. Eines Tages Jura als Professor an der Universität lehren.

Der Antrag auf ein Promotionsstudium ist längst gestellt, als ihn das gleiche Schicksal ereilt wie Nidal Rashow: der Wehrdienst. Die Armee braucht neue Soldaten. Verweigern? Nicht möglich. „Dabei kann ich mir nicht mal im Ansatz vorstellen, einen Menschen umzubringen“, sagt Gauer. „Vielleicht ist das ja ein Schulkamerad, ein Nachbar oder ein Arbeitskollege.“ Doch die Zeit drängt. Sein jüngerer Bruder hat erfahren, dass das Militär nicht mehr lange auf sich warten lässt. Houssen Gauer bleibt ein Monat, sich zu entscheiden. Und um seine Flucht vorzubereiten.

„Der bewusst gesuchte Kontakt mit Deutschen hat mir geholfen, ihre Lebensart, ihren Lebensstil und ihre Mentalität besser zu verstehen. Wir kommen als Syrer ja aus einer ganz anderen Kultur."
Housen Gauer

Zunächst geht es mit dem Flugzeug in die Türkei, von wo Schlepper ihn mit einem Schlauchboot auf die griechische Insel Kos bringen sollen. Ein Unterfangen, das ihn dem Tod gleich zweimal ins Auge blicken lässt.

Über den ersten Versuch, auf die Insel überzusetzen, kann er auch sechs Jahre später noch nicht sprechen. Der zweite Anlauf endet nur um Haaresbreite nicht mit dem Frontalzusammenstoß mit einem Schiff der türkischen Küstenwache. „Ich habe in diesem Moment nur an meine Mutter gedacht. Es ist wirklich ein Wunder, dass wir das überlebt haben“, sagt er mit leicht belegter Stimme.

Erlösende Kurznachricht

Gauers jüngster Bruder ist zum Zeitpunkt der Flucht der Einzige, der über jeden Schritt Bescheid weiß. Seine Eltern sollen erst informiert werden, wenn klar ist, ob ein Fluchtversuch gelungen oder gescheitert ist. Jedes Mal schickt Housen Gauer seinem Bruder dieselbe SMS: „In einer Stunde fahren wir los. Ich muss jetzt mein Handy bis morgen ausschalten. Wenn du dann keine Nachricht von mir bekommst, bin ich nicht mehr am Leben.“ Der dritte Versuch endet nicht auf einem Schiff der türkischen Küstenwache, sondern am Sandstrand von Kos. Sein Bruder bekommt die erlösende Textnachricht. Und kann endlich schlafen.

Gauer wird insgesamt einen Monat unterwegs sein. Über Nord-Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich landet er schließlich im Asylheim in Bobenheim-Roxheim – wo er bei einer Veranstaltung der evangelischen Gemeinde schließlich seine neue Familie kennenlernt. Ungefähr ein Jahr habe es gedauert, bis er sich auch auf Deutsch verständigen konnte. „Der bewusst gesuchte Kontakt mit Deutschen hat mir geholfen, ihre Lebensart, ihren Lebensstil und ihre Mentalität besser zu verstehen“, erzählt der 39-Jährige. „Wir kommen als Syrer ja aus einer ganz anderen Kultur.“

Das neue Zuhause: Im Flur hat sich Housen Gauer einen Kupferstich seines Wohnortes, der kleinen pfälzischen Gemeinde Bobenheim-Roxheim aufgehangen.
Das neue Zuhause: Im Flur hat sich Housen Gauer einen Kupferstich seines Wohnortes, der kleinen pfälzischen Gemeinde Bobenheim-Roxheim aufgehangen.
Auch die Kolping-Roadshow, für die er nebenberuflich als Honorarkraft arbeitet, hat hier schon Station gemacht.

Ein großer Traum

Jetzt sei es an der Zeit, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Neben seiner Arbeit in einem Notariat und für das Kolping-Netzwerk für Geflüchtete hat er sich daher jüngst nach kurzem Zögern für den Beirat für Migration und Integration seines neuen Heimatortes zur Wahl gestellt. Mit Erfolg. „Zuletzt haben wir im Beirat zum Beispiel Geflüchtete dazu animiert, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen und haben für sie Termine beim Hausarzt ausgemacht“, erklärt er die Aufgaben des Gremiums, das zudem für Migranten immer ansprechbar sei. „Wenn wir nicht selbst helfen können, wollen wir auf jeden Fall Hilfe vermitteln.“

Für seinen größten Traum sucht er noch nach dem passenden Ansprechpartner, fürchtet allerdings, dass es diesen nicht geben wird. „Ich habe meine Eltern seit sieben Jahren nicht gesehen, aber sie sind nicht mehr die Jüngsten und beide mittlerweile krank.“ Gerne würde er ihnen zeigen, wie er nun lebe – und ihnen seine deutsche Familie vorstellen. „Aber die Behörden haben Angst, dass sie Asyl beantragen könnten. Von daher glaube ich, dass es ein Traum bleiben wird.“ Seine Hoffnung: Dass sich die Lage in Syrien soweit ändert, dass er seine Eltern selbst besuchen kann.

Das wünscht sich auch Nidal Rashow, der seine Hoffnung auf einen Flug nach Deutschland für zumindest seine Mutter noch nicht aufgegeben hat. Wenn er nachweise, dass er alle Kosten übernimmt und sie kein Asyl anmeldet, könne er es vielleicht schaffen, dass sie ins Flugzeug steigen darf. Mit ihren 55 Jahren sei sie für mitteleuropäische Verhältnisse zwar im besten Alter, nicht aber nach syrischen. „Die harte Arbeit auf der Olivenplantage hat meine Eltern aufgezehrt.“ Ein 70-jähriger Deutscher sehe deutlich jünger aus, als sein Vater mit Mitte 50. „Ich möchte meiner Mutter endlich einmal meine Frau und meine Tochter vorstellen“, sagt der 35-Jährige. „Ich werde alles versuchen, dass ich sie noch einmal sehen, noch einmal umarmen kann, bevor sie stirbt.“

Fotos: Barbara Bechtloff, Marian Hamacher und Kolping-Netzwerk für Geflüchtete

Housen Gauer im Videoporträt

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Geflüchtete zu unterstützen, ist für das Kolpingwerk Deutschland selbstverständlich: Im Verband geschieht das auf ganz unterschiedliche Weise. Wie und wo, erfahrt Ihr hier im dritten Teil unseres großen Themenschwerpunkts Fluchtursachen.