Ausgabe 2-2022 : Mai

Tradition und Innovation in Balance

Vor 22 Jahren verabschiedete das Kolpingwerk sein aktuelles Leitbild. Seither hat sich viel verändert in Staat, Kirche und Gesellschaft. Die Zeit ist reif, die Aussagen von damals auf den Prüfstand zu stellen.

Unser Leitbild ist die Basis, auf der weiterführende Aussagen und Handlungsvorgaben entwickelt werden können.“ So lautet der grundlegende Satz zur Bedeutung des Leitbildes des Kolpingwerkes Deutschland in seiner Fassung vom 28. Mai 2000. Das Leitbild ist also der Orientierungsrahmen für das Denken und Handeln im Verband. Es beantwortet die Frage, wer wir sind und wofür Kolping steht.

Doch gelten die Aussagen heute noch genauso wie vor 22 Jahren? „In dieser Zeit hat sich in der Gesellschaft und im Verband einiges bewegt. Deswegen bedarf das Leitbild einer Weiterentwicklung“, sagt Klaudia Rudersdorf (58). Die stellvertretende Bundesvorsitzende des Kolpingwerkes ist Mitglied des Leitungsteams der Kommission Leitbildentwicklung. Diese 30-köpfige Kommission aus Delegierten aller Gliederungen einschließlich der Kolpingjugend sowie der Einrichtungen und Unternehmen stellt seit zwei Jahren alle Sätze des noch geltenden Leitbildes auf den Prüfstand. Die Bestandsaufnahme von Klaudia Rudersdorf klingt eher nach Reform als nach Revolution: „Das Leitbild muss nicht komplett neu gemacht werden; wir wollen es eher fortschreiben. Der Prozess der Leitbildentwicklung hat gezeigt, dass sich an den Grundlagen wenig verändert.“

Katharina Diedrich (26), Diözesanleiterin der Kolpingjugend im Diözesanverband Hildesheim, ergänzt: „Die Kolpingjugend hat in manchen Punkten eine weitergehende Meinung als der Verband. Es geht auch darum, dass bestimmte Begriffe aus der Tradition des Verbandes heute nicht mehr selbstverständlich sind und von der Jugend hinterfragt werden.“ Deshalb gelte es an einigen Punkten, miteinander um die Linie zu ringen. Schließlich kommen sowohl die Kolpingjugendlichen als auch die Mitarbeitenden der Einrichtungen und Unternehmen im aktuellen Leitbild kaum vor. „Sie alle, die Jugendlichen und die hauptberuflichen Mitarbeitenden, sollen sich im Leitbild genauso wiederfinden können wie alle anderen Mitglieder“, sagt Sascha Dederichs (38), Grundsatzreferent der Geschäftsführung im Kolping-Bildungswerk Paderborn. Dadurch fällt der Leitbildkommission die Aufgabe zu, die ganze Heterogenität des Verbandes einzufangen, was nicht ganz leicht ist. „Aber ich glaube, genau das brauchen wir, weil der Verband dadurch offener und zukunftsorientierter wird“, meint Klaudia Rudersdorf.

Markante Weiterentwicklungen

Das neue Leitbild wird sich also an markanten Stellen von dem aktuellen unterscheiden. „Für mich ist die Öffnung des Verbandes für Nicht-Christen einer der Hauptpunkte“, führt die stellvertretende Bundesvorsitzende weiter aus. Das Thema habe nicht die Leitbildkommission aufgebracht, sondern werde seit Längerem im Verband diskutiert. Schon im Upgrade-Prozess, der auch die strukturellen Fragen des Verbandes in den Blick nimmt, habe sich gezeigt, dass sich der Verband öffnen möchte. Das bedeutet einerseits, dass der Verband katholisch bleibt. Andererseits soll jeder, der zu den Grundsätzen des Kolpingwerkes steht, Mitglied werden und auch Verantwortung übernehmen können.

Wichtig ist auch die stärkere Betonung der Kolpingjugend sowie der Einrichtung und Unternehmen als Säulen des Verbandes, die eigenständig sind und trotzdem jeweils für Kolping als Ganzes stehen. Zudem reagierte die Leitbildkommission auf neue gesellschaftliche Themenbereiche, wie Sascha Dederichs erklärt: „Ich würde heute kein Grundsatzprogramm oder Leitbild ernst nehmen, dass nicht auf Themen wie Diversität, Klimaschutz, Bewahrung der Schöpfung oder ein erweitertes Familienbild eingeht. Wir haben viel diskutiert – auch kontrovers. Deshalb werden alle das Ergebnis mittragen können. Es gibt eine gesellschaftliche Weiterentwicklung und die wollen wir auch abbilden.“

Das Leitbild muss also ausgewogen sein und eherne Grundsätze genauso zur Geltung bringen wie innovatives Denken. „Das muss wohl ausgewogen sein“, sagt Tim Schlotmann, Geschäftsführer der Leitbildkommission, „wenn wir allen Mitgliedern in unserem generationsübergreifenden Verband gerecht werden wollen.“

Den Vorwurf, sich damit dem Zeitgeist zu öffnen oder gar zu unterwerfen, will Klaudia Rudersdorf nicht gelten lassen: „Das ist manchmal auch ein Todschlagargument. Wo ist denn die Grenze zwischen Zeitgeist und notwendiger Entwicklung? Wir laufen nicht irgendwelchen Modeerscheinungen hinterher, sondern beschäftigen uns mit Megatrends: Globalisierung, Digitalisierung, Nachhaltigkeit – da will ja hoffentlich keiner mit uns diskutieren, dass das Zeitgeisterscheinungen sind.“ Katharina Diedrich macht die Bedeutung von Veränderungen an ihrem Alter fest: „Ich war vier Jahre alt, als das aktuelle Leitbild beschlossen wurde. Wir sind in einer extrem schnelllebigen Welt und es geht nicht darum, irgendwelchen Themen hinterherzurennen. Aber wir lassen es auch nicht einfach laufen, sondern klären, was uns in dieser  digitalisierten oder auch globalisierten Welt wichtig ist. Digitalisierung und Globalisierung werden passieren, egal ob wir uns dazu äußern oder nicht. Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass das die Realität ist.“

Noch viel Arbeit für Leitbildkommission

Realität wird das neue Leitbild, wenn die Bundesversammlung im November 2022 darüber beschlossen hat. Doch bis dahin ist noch einige Arbeit zu leisten. Zunächst gilt es, die Anmerkungen der Kolpingmitglieder, die sich im April an den Anhörungstagen beteiligt haben, in das Leitbild einzuarbeiten. Im Juli soll dann der letzte Stand fristgerecht als Leitantrag an die Delegierten der Bundesversammlung versendet werden.

Interview

Leitbildkommission ist in der ganz heißen Phase

Seit zwei Jahren beschäftigt sich eine Kommission mit der Weiterentwicklung des Leitbildes. Die neue Programmatik soll auf die Herausforderungen für einen katholischen Sozialverband in der heutigen Zeit reagieren. Auf der nächsten Bundesversammlung im November 2022 soll sie beschlossen werden. Zum Stand der Beratungen sprach das Kolpingmagazin mit der Leitung der Kommission: Klaudia Rudersdorf, Katharina Diedrich und Sascha Dederichs.