Ausgabe 2-2022 : Mai

Leitbildkommission ist in der ganz heißen Phase

Seit zwei Jahren beschäftigt sich eine Kommission mit der Weiterentwicklung des Leitbildes. Die neue Programmatik soll auf die Herausforderungen für einen katholischen Sozialverband in der heutigen Zeit reagieren. Auf der nächsten Bundesversammlung im November 2022 soll sie beschlossen werden. Zum Stand der Beratungen sprach das Kolpingmagazin mit der Leitung der Kommission: Klaudia Rudersdorf, Katharina Diedrich und Sascha Dederichs.

Kolpingmagazin: Ihr bildet die Leitung der Kommission Leitbildentwicklung. Was ist eure Aufgabe und welche Rolle habt ihr in diesem Gremium?

Klaudia: Die Kommission hat uns als dreiköpfiges Leitungsteam gewählt, sodass jede der drei Säulen des Kolpingwerkes durch eine oder einen von uns in der Leitung repräsentiert wird: die Kolpingjugend, die Katharina vertritt, die Einrichtungen und Unternehmen, für die Sascha in diesem Gremium ist, und der Gesamtverband, den ich repräsentiere. Wir sind völlig gleichberechtigt unterwegs – und ich darf für uns alle sagen, dass wir auch sehr einmütig unterwegs sind. Aber trotz allem hat jeder von uns einen speziellen Blick auf das Ganze.

Katharina: Die Kolpingjugend hat in manchen Punkten eine weitergehende Meinung als der Verband. Es geht auch darum, dass bestimmte Begriffe aus der Tradition des Verbandes heute nicht mehr selbstverständlich sind und von der Jugend hinterfragt werden.

Sascha: Ich versuche, im Sinne der hauptberuflich Mitarbeitenden mitzudenken, wenn wir am Text arbeiten. Sie sollen sich im Leitbild genauso wiederfinden können wie alle anderen Mitglieder. Außerdem versuche ich das einzubringen, wofür die Einrichtungen und Unternehmen stehen.

Eine grundsätzliche Frage: Was ist überhaupt ein Leitbild und wozu brauchen wir ein Leitbild?

Klaudia: Wir haben ein Leitbild, das deutlich macht, wofür wir stehen und was unser Handeln prägt. Dieses Leitbild ist aber schon über 20 Jahre alt. In dieser Zeit hat sich in der Gesellschaft und im Verband einiges bewegt. Deswegen bedarf das Leitbild einer Weiterentwicklung. Aber es muss nicht komplett neu gemacht werden; wir wollen es eher fortschreiben. Der Prozess der Leitbildentwicklung hat gezeigt, dass sich an den Grundlagen wenig verändert. Beim Familienbild aber braucht der Verband eine neue Definition und Themen wie Globalisierung und Digitalisierung müssen einen Platz finden.

Sascha: Ein Leitbild ist eine Grundlage und ein Orientierungsrahmen; es muss die Frage beantworten: Wer sind wir? Was machen wir? Und: Warum machen wir das? Letztendlich dient der Text jedem Mitglied als Selbstvergewisserung. Es macht zudem deutlich, welche Stärken Kolping hat und worauf wir stolz sein können.

Katharina: Ich gebe Klaudia recht: Es gibt da eine große gemeinsame Basis, die sich gar nicht so stark ändern wird. Aber in manchen Punkten ringen wir natürlich trotzdem um die Linie, weil die Heterogenität groß ist. Und wenn wir auf der Bundesversammlung ein erweitertes Leitbild beschließen, dann ist es eben ein gemeinsamer Startpunkt, von dem aus wir dann die Linie der kommenden Jahre entwickeln werden.

Klaudia: Die Heterogenität im Verband ist in der Tat größer geworden. Wir sind angetreten mit dem Anspruch, dass sich die Kolpingjugend sowie die Einrichtungen und Unternehmen diesmal explizit im Leitbild wiederfinden sollen. Die Kolpingjugend ist in manchen Fragen ein Stückchen weiter, weil sie eine andere Perspektive hat. Der Knackpunkt ist, dass wir uns auf etwas einigen müssen, das dann für alle Gültigkeit hat. Das macht unsere Arbeit spannender, aber auch umso schwieriger. Aber bin davon überzeugt, dass wir genau das brauchen, weil der Verband dadurch offener und zukunftsorientierter wird.

Du sprichst die Gültigkeit des Leitbildes an. Welche Verbindlichkeit hat es für das Denken und Handeln innerhalb des Verbandes?

Klaudia: Die Verbindlichkeit schreiben wir im Leitbild fest. Hier findet sich der Satz: „Bei Kolping kann Mitglied werden, wer das Leitbild akzeptiert“. Und wenn Mitglieder hinter den Aussagen nicht stehen können, dann sind sie bei diesem Verband falsch. Wenn wir bspw. über Familienbilder reden, dann kann man natürlich darüber diskutieren, ob wir eine „Ehe für alle“ brauchen. Aber am Ende des Tages muss klar sein, wer bei Kolping mittun will, der muss Diversität und jede Art von Lebensform respektieren und anerkennen.

Sascha: Ich glaube auch, dass das Leitbild eine hohe Verbindlichkeit haben muss. Aber natürlich ist es ja auch so, dass nicht jeder mit jedem einzelnen Punkt des Leitbildes übereinstimmen muss. Die großen Linien, die der Verband mit dem Leitbild festlegt, die sollte schon jedes Mitglied mittragen können. Wenn wir keine Verbindlichkeit festschreiben, dann brauchen wir auch kein Leitbild.

Katharina: Es ist immer die Frage, in welcher Detailschärfe wir ein Leitbild schreiben. Es führt ja nicht alles im Detail aus. An einigen Punkten gibt es auch einen gewissen Interpretationsspielraum. Wenn dies zu innerverbandlichen Diskussionen führt, dann hat das aber auch etwas Positives. Die Jugend muss ihre Eigenständigkeit und manchmal auch eine andere Meinung haben. Die aber auf den gemeinsamen Grundlagen aufbaut. Das ist unglaublich wichtig, weil wir uns sonst nicht weiterentwickeln.

In welchen Aussagen wird sich das neue Leitbild vom alten unterscheiden?

Katharina: Der erste Punkt ist die stärkere Betonung der Unternehmen und Einrichtungen sowie der Jugend, die im noch geltenden Leitbild gar nicht oder nur ganz am Rande vorkommen. Sie werden als eigenständig deklariert, stehen aber jeweils für Kolping als Ganzes. Das zweite ist die stärkere Betonung von Diversität und die Anerkennung verschiedenster Lebensformen. Bei dem Familienbegriff – auch wenn es immer noch nicht so ganz klar ist, wo die Reise endgültig hingeht – findet eine Weiterentwicklung statt, weil heute die Situation einfach eine andere ist als vor 22 Jahren, als das aktuell gültige Leitbild beschlossen wurde.

Klaudia: Für mich ist die Öffnung des Verbandes für Nicht-Christen einer der Hauptpunkte. Das haben nicht die Leitbildkommission oder der Leitantrag neu in die Welt gebracht, sondern es hat sich im Upgrade-Prozess gezeigt, dass sich der Verband öffnen möchte. Damit einher geht auch, dass jeder im Verband Verantwortung übernehmen kann.

Sascha: Einzelne Bereiche sind im Prinzip völlig neu hinzugekommen. So wird es voraussichtlich ein Kapitel zum Thema Diversität geben, und wir werden deutlich stärker auf den Bereich Nachhaltigkeit eingehen. Es gibt ein Kapitel zum Thema Digitalisierung, was 2000 auch noch nicht das Thema war, was es heute ist. Also: Wir haben schon auch mit dem Hinzufügen einzelner auch recht ausführlicher Kapitel auf gesellschaftliche Themen reagiert, die sich einfach in den letzten beiden Jahrzehnten ergeben haben. Das finde ich wichtig und das macht auch die Weiterentwicklung des Leitbildes aus.

Sascha Dederichs (38), Grundsatzreferent der Geschäftsführung im Kolping-Bildungswerk Paderborn.
Katharina Diedrich, Diözesanleiterin Kolpingjugend DV Hildesheim, ist Vertreterin der Kolpingjugend im Leitungsteam.
Klaudia Rudersdorf, Stellvertretende Bundesvorsitzende des Kolpingwerkes Deutschland, repräsentiert im Leitungsteam den Mitgliederverband.
Tim Schlotmann, Fachreferent für Familie und Generationen des Kolpingwerkes Deutschland, ist Geschäftsführer der Kommission.

Unterwirft sich Kolping damit nicht zu stark dem Zeitgeist? ​​​​​​​

Klaudia: Der Vorwurf, sich dem Zeitgeist zu unterwerfen, ist manchmal auch ein Totschlagargument. Wo ist denn die Grenze zwischen Zeitgeist und notwendiger Entwicklung? Wir laufen nicht irgendwelchen Modeerscheinungen hinterher, sondern es sind ja schon diese sogenannten Megatrends: Globalisierung, Digitalisierung, Nachhaltigkeit – da will ja hoffentlich keiner mit uns diskutieren, dass das Zeitgeisterscheinungen sind. Das ist gesellschaftliche Entwicklung, vor der man die Augen nicht verschließen darf. Mit Blick auf die Diversität finde ich auch nicht, dass das Zeitgeist ist, sondern dass die Zeit reif für eine Weiterentwicklung, für eine Veränderung des Blickwinkels und für eine Weitung des Denkens ist. Also: den Vorwurf, dass wir uns dem Zeitgeist beugen, den würde ich überhaupt nicht gelten lassen. Da würde ich eher zurückgeben: Das sind die Ewiggestrigen, die sich mit überhaupt nichts auseinandersetzen wollen.

Sascha: Ich kann direkt an Klaudias Ausführungen anschließen. Ich schaue mir immer an, was ist gut und was möchte ich bewahren. Und was muss dringend verändert werden. Genauso haben wir in der Kommission gearbeitet. Wir haben geschaut: Was ist uns nach wie vor wichtig und was im „alten“ Leitbild hat nach wie vor seine Gültigkeit? Wo ist einfach die Zeit und wo ist auch Wissenschaft weitergegangen? Also ich würde kein Grundsatzprogramm oder Leitbild ernst nehmen, dass nicht auf Themen wie Diversität, Klimaschutz, Nachhaltigkeit oder ein erweitertes Familienbild eingeht. Wir haben viel diskutiert – auch kontrovers. Deshalb werden hoffentlich alle das Ergebnis mittragen können. Es gibt eine gesellschaftliche Weiterentwicklung und die wollen wir auch abbilden.

Katharina: Ich muss da ein bisschen an das Kolping-Zitat denken: die Nöte der Zeit erkennen. Das ist ein Aufruf an uns, eben nicht immer das Gleiche zu machen, sondern zu gucken: welche Themen sind jetzt aktuell. Wir reden nicht von einem Leitbild, dass fünf Jahre alt ist, sondern von einem, dass 22 Jahre alt ist. Um das mal deutlich zu machen: Ich war vier Jahre alt, als das Leitbild beschlossen wurde. Wir sind in einer extrem schnelllebigen Welt und es geht nicht darum, irgendwelchen Themen hinterherzurennen. Aber wir lassen es auch nicht einfach laufen, sondern klären, was uns in dieser digitalisierten oder auch globalisierten Welt wichtig ist. Digitalisierung und Globalisierung werden passieren, egal ob wir uns dazu äußern oder nicht. Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass das die Realität ist. Deswegen renne ich nicht dem Zeitgeist hinterher, sondern ich positioniere mich zu neuen Entwicklungen. Digitalisierung gibt uns Mittel und Wege, mit denen wir arbeiten wollen. Aber sie birgt auch Gefahren und dann müssen wir auf die Nöte, die dadurch entstehen – wie zum Beispiel Bildungsschwierigkeiten – reagieren. Wir müssen dort aufpassen, dass bildungstechnisch niemand auf der Strecke bleibt. Das wichtige an diesen neuen Themen ist, dass wir sie nicht einfach laufen lassen.

Wie ist der aktuelle Stand der Beratungen? Und was ist bis zum Beschluss über das Leitbild auf der Bundesversammlung im Herbst noch geplant?

Klaudia: Es gibt seit Anfang des Jahres einen Entwurf für dieses erweiterte Leitbild. Es gibt eine Redaktionsgruppe, die sich aus der Kommission heraus konstituiert hat. Tim Schlotmann gehört als Kollege aus dem Bundessekretariat mit zu dem Kreis, weil er als Geschäftsführer der Kommission in Nachfolge von Michael Hermes die Arbeit koordiniert und uns maßgeblich bei der Redaktionsarbeit unterstützt. Mittlerweile befindet sich der Leitbildentwurf in der achten Fassung, weil wir nach allen Gesprächsrunden mit Expertinnen und Experten aus dem Verband Anregungen eingearbeitet haben. Nach den Anhörungstagen, die im April stattfanden, wird sich noch der Bundesvorstand damit befassen. Abschließend überlegen wir, uns noch Expertise von außerhalb des Verbandes zu holen, um zu prüfen, ob auch Außenstehende alles so verstehen, wie wir uns das vorstellen. Bis zum Juni oder Juli muss eine letzte Version da sein, die dann den Delegierten der Bundesversammlung zugestellt wird.

Sascha: Wir arbeiten jetzt gerade ziemlich genau zwei Jahre an der Fortschreibung des Leitbildes. Anfang des Jahres, als wir das Redaktionsteam konstituiert haben, habe ich gesagt: Wir sind jetzt in der heißen Phase. Jetzt würde ich ergänzen: Wir sind in der ganz heißen Phase.

Wie konnten und können sich die Kolpingmitglieder noch in den Leitbildprozess einbringen?

Klaudia: Die Kolpingmitglieder waren alle zu den Anhörungstagen im April eingeladen und hatten dort die Gelegenheit, sich inhaltlich einzubringen. Was dort gesagt und diskutiert wurde, nimmt die Kommission Leitbildentwicklung noch mit in die Beratungen, zu denen auch noch der Bundesvorstand hinzugezogen wird. Der Antrag, der dann an die Delegierten der Bundesversammlung geht, kann von diesen gerne noch diskutiert werden. Das liegt dann im Ermessen jedes Diözesanverbandes, ob mit dem Leitantrag noch einmal ein letztes Diskussionsformat gestaltet werden soll. Veränderungswünsche können dann aber nur noch über einen Änderungsantrag in die Bundesversammlung eingebracht werden. So gesehen besteht bis zum Schluss die Möglichkeit der Beteiligung.

Was ist geplant, damit die Kolpingmitglieder das neue Leitbild kennenlernen?

Katharina: Da gibt es viele Ideen, aber das ist auch noch nicht endgültig geklärt. Wir haben uns Gedanken gemacht, dass es eine Übersetzung in leichte Sprache geben könnte, weil die einzelnen Leitsätze zum Teil in ihrer Themenvielfalt sehr komplex sind und weil wir möchten, dass es dennoch für jeden verständlich ist. Es gibt auch Ideen, wie wir Inhalte beispielsweise über Videos oder soziale Netzwerke in den Verband hineintragen. Aber da ist noch nichts entschieden.

Klaudia: Bei dem Expert_innen-Tag mit den Mitarbeitenden in den Einrichtungen und Unternehmen ist noch einmal deutlich geworden, dass wir gemeinsam mit ihnen – und auch mit der Kolpingjugend – überlegen wollen, was es für unterschiedliche Formate braucht, um diese Gruppen innerhalb des Verbandes mit dem Leitbild anzusprechen. Das wollen wir noch einmal mit allen drei Säulen zusammen ausloten.

Sascha: Ich glaube auch, dass die Aufgabe von uns vieren nicht damit beendet ist, dass irgendwann das Leitbild verabschiedet ist. Wir werden die Rolle von Leitbild-Botschaftern übernehmen müssen. Wir werden dazu Veranstaltungen machen, die Kolpingsfamilien besuchen und uns als Referenten anbieten, um dafür zu sorgen, dass das neue Leitbild Akzeptanz findet. Wie ich uns kenne, kann ich mir gut vorstellen, dass unsere Arbeit nach der Verabschiedung des Leitbildes einfach noch ein Stück weiter gehen wird.

Klaudia: Als Vorläufer zur Kommission Leitbildentwicklung gab es ja die Arbeitsgruppe Upgrade, die die ganze Vorarbeit koordiniert und geleistet hat. Und es gibt ja noch einen zweiten Part: Neben den programmatischen und inhaltlichen Fragestellungen, um die wir uns kümmern, gibt es auch strukturelle Fragestellungen. Und dazu gehört auch noch mal die Frage: Welche Auswirkungen wird das neue Leitbild auf die Organisation des Verbandes haben. Was bietet denn der Bundesverband zum Beispiel an Formaten an, um das neue Leitbild bekannt zu machen? Was für Hilfestellung geben wir, damit die Diözesanverbände damit arbeiten und Multiplikatoren sein können? Dazu sollen auf der Bundesversammlung erste Ideen vorgestellt werden. Gut, dass keine Langeweile aufkommt, wenn das Leitbild beschlossen ist.

Fotos: Tobias Pappert, Marian Hamacher, Barbara Bechtloff, privat

Leitbild
Geschrieben von
Christoph Nösser

Tradition und Innovation in Balance

Vor 22 Jahren verabschiedete das Kolpingwerk sein aktuelles Leitbild. Seither hat sich viel verändert in Staat, Kirche und Gesellschaft. Die Zeit ist reif, die Aussagen von damals auf den Prüfstand zu stellen.