Ausgabe 2-2022 : Mai

Sozialwahl: Denn nicht nur der Staat gestaltet

2023 sind wieder mehr als 50 Millionen Versicherte dazu aufgerufen, an den Sozialwahlen teilzunehmen. Das Kolpingwerk Deutschland nimmt dabei eine besondere Rolle ein

Jetzt beginnt die Einwirkzeit. 30 Minuten muss die zuvor sorgsam mit einem Pinsel aufgetragene Farbe in den Haaren bleiben, ehe Kathrin Zellner damit beginnen kann, sie vorsichtig auszuwaschen. Manch eine Kundin greift nun zu einer der ausliegenden Zeitschriften. Irgendwie muss die Zeit ja rumgebracht werden. Nichts Besonderes für Zellner, die im Kolpingwerk Deutschland Mitglied des Bundesvorstands ist. Eine Alltagsszene. Kundinnen, die die Wartezeit mit Lesen verbringen, dürfte sie in ihren 21 Jahren als Friseurin ebenso oft beobachtet haben, wie beim Spitzenschneiden Haare zu Boden rieseln. Und doch musste die 37-Jährige zuletzt so einige Male schmunzeln, wenn der Griff zu Spiegel, Stern, Brigitte und Co. ging – weil sie genau wusste, was das deutschlandweit für Berufskolleginnen und -kollegen hätte bedeuten können.

„Als die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards für das Friseurhandwerk sowie für die Beauty- und Wellnessbetriebe formuliert wurden, hieß es zunächst, dass Zeitschriften nur unter hygienischen Bedingungen ausgelegt werden dürfen und sowohl vor als auch nach einer Kundin desinfiziert werden müssen“, erzählt die Friseurmeisterin, die im niederbayerischen Röhrnbach (knapp 20 Kilometer nördlich von Passau) im Salon ihrer Mutter arbeitet. „Das hätte zur Folge gehabt, dass ich nach der zweiten Kundin schon keine Zeitschrift mehr gehabt hätte – denn die hätte sich längst aufgelöst. So ein Vorgehen hätte in der Praxis einfach nicht funktioniert, meint Zellner. Und sagte das auch genauso in jener Arbeitsgruppe, die diese Corona-Arbeitsschutzstandards formulieren sollte. Die Folge: Die Zeitschriften mussten nicht eingenebelt werden. Das einfache Desinfizieren der Hände reichte. „Das war nur eine von mehreren Situationen, in denen ich mir dachte, dass es gut ist, dass ich als Praktikerin bei der Formulierung der Standards mitgearbeitet habe“, sagt sie.

Kathrin Zellner strebt bei der Sozialwahl bereits ihre dritte Amtszeit an.

Dass Zellner über die Hygienemaßnahmen für ihre Branche mitentscheiden durfte, verdankt sie ihren Ehrenämtern. Denn sie ist nicht nur Vize-Präsidentin in der Selbstverwaltung der regionalen Handwerkskammer, sondern sitzt für die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) auch in zahlreichen Ausschüssen und Gremien der sogenannten sozialen Selbstverwaltung.

Doch was heißt das eigentlich? Rein juristisch ist von Selbstverwaltung die Rede, wenn staatliche Verwaltungsaufgaben an nichtstaatliche Organe übertragen werden. So sollen Bürger:innen unmittelbar daran beteiligt werden, staatliche Aufgaben zu erfüllen und so eine Gestaltungsmöglichkeit zu haben. Zellner beschäftigt sich zum Beispiel als Vorsitzende des Rehabilitationsausschusses unter anderem mit Themen, die Reha-Maßnahmen betreffen oder Forschungsvorhaben zum Fachbereich Rehabilitation anstoßen und begleiten. „Neben den Friseuren werden auch die Kliniken, Kindertageseinrichtungen, Tierärzte und die weiteren bei der BGW Versicherten Branchen immer genau betrachtet“, erklärt sie.

Wichtige Pfeiler

Andere Aktive in weiteren Bereichen der sozialen Selbstverwaltung entscheiden unter anderem darüber mit, welche Zusatzleitungen von Krankenkassen angeboten werden oder beraten unentgeltlich zu allem rund um die Rentenversicherung. Tätig sein kann man nämlich in den gesetzlichen Krankenkassen, in der Unfallversicherung und in den Rentenversicherungsträgern. Diese drei Felder sind wichtige Pfeiler der Sozialversicherung, zu der außerdem noch die Pflege- und Arbeitslosenversicherung zählen. „Ehrenamtliche, die in diesen Bereichen aktiv sind, haben so die Gelegenheit, sich für Menschen einzusetzen, die in die Sozialversicherung einzahlen“, betont Alexander Suchomsky (siehe auch Interview auf Seite 46). Der 37-Jährige ist im Kolpingwerk nicht nur Referent für Arbeitswelt und Soziales, sondern gleichzeitig auch Bundesgeschäftsführer der ACA.

Hinter dem Kürzel verbirgt sich die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Arbeitnehmerorganisationen – ein Zusammenschluss der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB), dem Bundesverband evangelischer Arbeitnehmerorganisationen (BVEA) und des Kolpingwerkes. Gemeinsam treten die Verbände bei der Sozialwahl an, die alle sechs Jahre stattfindet. „Diese Wahl ist ein ganz wichtiger Grundpfeiler unseres Sozialsystems, weil dort die Versicherten die Möglichkeit haben, ehrenamtliche Vertrer:innen in die Organe der Selbstverwaltung zu wählen“, erklärt Suchomsky.

2023 werden alle Versicherten erneut dazu aufgerufen, Selbstverwalter:innen in die Organe der Sozialversicherungen zu wählen – auch als „Versichertenparlamente“ bekannt (siehe Grafik). Zur Wahl stehen dann aber keine einzelnen Kandidat:innen, sondern Listen mit Kandidierenden bestimmter Organisationen – etwa der ACA. Die sucht übrigens noch nach Bewerber:innen, die im kommenden Jahr auf ihrer Liste antreten wollen. „Damit man sich ohne großen Aufwand für ein Engagement in der Selbstverwaltung bewerben kann, haben wir mit www.aca-bund.de eine neue Homepage auf den Weg gebracht. Mit wenigen Klicks kann man jetzt alle wichtigen Daten an uns schicken“, sagt der Referent, der natürlich hofft, dass bei der nächsten Wahl auch viele Kolpinger auf der ACA-Liste zu finden sind.

Ein ganz bewusster Schritt

Kathrin Zellner sieht in einer Kandidatur für die ACA auch eine gute Gelegenheit, Kolpings soziale Werte und Wertvorstellungen in die soziale Selbstverwaltung einzubringen. Sie hat sich mit der BGW für eine Berufsgenossenschaft als Tätigkeitsfeld entschieden. Dort sind allerdings nicht nur Versicherte aus dem Friseurhandwerk unfallversichert, sondern unter anderem auch Arbeitnehmende aus Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen oder aus der Wohlfahrtspflege. Inzwischen ist Zellner schon seit zwölf Jahren in der sozialen Selbstverwaltung aktiv. Ein Schritt, den sie so immer wieder gehen würde und nächstes Jahr auch ganz bewusst erneut antritt. „Mitgestalten zu können, macht einfach Spaß“, sagt sie. „Unter anderem dann, wenn man auf Themen, die den eigenen Beruf betreffen, Einfluss nehmen kann.“

Beatrix Becker wird 2023 zum zweiten Mal für die ACA bei der Sozialwahl antreten.

Für Beatrix Becker ist die Triebfeder ihres Engagements in der sozialen Selbstverwaltung, dass Arbeitnehmende nach einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit gesundheitlich gut versorgt sind. Sie möchte dazu beitragen, die Arbeit im Gesundheitssystem menschengerecht zu gestalten, Unfälle zu verhindern und Berufskrankheiten vorzubeugen beziehungsweise die sich aus einer Berufskrankheit oder einem Arbeitsunfall ergebende Versorgung bestmöglich sicherzustellen. „Dass ich mich da in der ACA sehr gut einbringen kann, habe ich sehr schnell gemerkt“, sagt die Schriftführerin der Kolpingsfamilie Recklinghausen-Zentral. 2011 trat die 63-Jährige erstmals für die ACA an und ist seitdem Versichertenvertreterin der BGW.

Der zeitliche Aufwand für das Ehrenamt in der Selbstverwaltung halte sich in Grenzen, meint Becker: „Vieles sind mittlerweile Routinesachen, Absprachen oder Sitzungen.“ Kathrin Zellner ist für die ACA pro Monat etwa zwei Tage unterwegs. „Durchschnittlich im Jahr ist das aber deutlich weniger, wenn man nicht in so vielen Gremien ist wie ich“, sagt sie mit einem Augenzwinkern. „Da muss sich niemand erschrecken. Und dass es sich gelohnt hat, sich zur Wahl gestellt zu haben, merkt man meist recht bald.“ Etwa an einem kleinen Schmunzeln im Gesicht, wenn die Kundin zu einer Zeitschrift greift.

Fotos: Barbara Bechtloff, privat; Grafik: Soziale Selbstverwaltung

Wo man sich bewerben kann

Mehr Informationen zur ACA gibt es auf der Homepage www.aca-bund.de.
Das Bewerbungsformular als Soziale:r Selbstverwalter:in kann man hier ausfüllen.

Interview
Geschrieben von
Marian Hamacher

„Ein klares Zeichen setzen“

Alexander Suchomsky ist beim Kolpingwerk nicht nur Referent für Arbeitswelt und Soziales, sondern gleichzeitg auch Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Arbeitnehmerorganisationen (ACA). Im Interview spricht er unter anderem darüber, welche Bedeutung die Sozialwahl hat, warum es sich lohnt, für die ACA zu kandidieren und wieso es Sinn macht, bei der Wahl seine Stimme abzugeben.