Ausgabe 3-2022 : Juli

Die beste Version deiner selbst

Selbstoptimierung ist ein Megatrend. Verheißt die Steigerung der eigenen Leistungsfähigkeit Lebenssinn oder ist ein Scheitern vorprogrammiert?

Wenn Jonas morgens gefragt wird, ob er gut geschlafen hat, muss er nicht mehr überlegen. Die Antwort weiß sein Fitnesstracker, die Uhr an seinem Handgelenk. Die hat Jonas‘ Tief- und Leichtschlafphasen minutengenau dokumentiert. Das Frühstück hingegen wird noch nicht automatisch erfasst. Jonas – die Redaktion hat seinen Namen geändert – ist als Bankkaufmann tätig, ein ganz normaler Mitvierziger, der seine Erfahrungen mit den Möglichkeiten des digitalen Zeitalters sammelt und vieles ausprobiert. Jetzt tippt er in die Ernährungs-App seines Handys ein, was und wieviel er gegessen hat. Währenddessen meldet sich die Wetter-App, die mit einem Sensor verbunden ist und unter anderem den CO2-Gehalt der Innenräume misst: Bitte lüften! Jonas steht auf und legt auf dem Weg vom Frühstückstisch zum Küchenfenster sechs Schritte zurück, was wiederum der Uhr an seinem Handgelenk nicht entgeht. Sie hält Jonas dazu an, sich ausreichend zu bewegen. 

Mit Luftsensor auf dem Küchenschrank, Fitnesstracker am Handgelenk und seiner Ernährungs-App auf dem Handy ist Jonas noch vergleichsweise übersichtlich mit "Gadgets" ausgestattet. Der Tracking-Markt bietet Geräte zur permanenten Überwachung der Hirnströme, des Sauerstoffgehalts im Blut oder der Körpertemperatur an. Mitteilsame Menschen können natürlich jeden einzelnen dieser Gesundheitswerte in sozialen Netzwerken teilen und ihre Follower über den täglichen Fitnessgrad auf dem Laufenden halten. Der Megatrend "Selbst­optimierung" hat inzwischen einen eigenen Wirtschaftszweig hervorgebracht. 14 Prozent der Deutschen nutzen laut einer Umfrage von 2021 mehrmals pro Woche digitale Gesundheits- oder Fitnessanwendungen. Der Umsatz entsprechender Apps hat sich seit 2017 von 35 auf 101 Millionen Euro fast verdreifacht. Im selben Zeitraum stieg der Umsatz der ergänzenden Ausrüstung von 374 auf 437 Millionen Euro – im Jahr des ersten Corona-Lockdowns 2021 kratzte er an der Marke von einer halben Milliarde. 

"Gesundheit wird zur Religion"

Doch ganz so jung wie sein Name ist der Trend wohl nicht. Hatten sich die Deutschen in der "Fresswelle" der Wirtschaftswunderjahre noch eine schützende Speckschicht angefuttert, setzte spätestens in den Siebzigerjahren ein Umdenken bei Ernährung und Bewegung ein. 1983 flimmerte die erste Aerobic-Sendung über den öffentlich-rechtlichen Bildschirm. Fitnessstudios im weiteren Sinne gab es sogar schon im 19. Jahrhundert, 1997 ging in Deutschland die Kette McFit an den Start und machte das Trainieren im "Gym" mit attraktiven Preisen zum Massenphänomen. Der heutige Trend der Selbstoptimierung scheint also nur eine logische Fortsetzung zu sein. Manche sprechen inzwischen schon von "Selbstoptimierung 2.0", bei der es nicht mehr nur darum geht, die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern, sondern an Dingen wie Achtsamkeit und Selbstliebe zu arbeiten. Selbstoptimierung verheißt Glück und Lebenssinn, einen gesunden Geist in einem gesunden Körper und scheint auch an christliche Nächstenliebe anschlussfähig, insoweit diese ein gewisses Maß an Selbstliebe einschließt. Andererseits entstammt der Begriff der Optimierung dem technisch-mathematischen Bereich und läuft darum Gefahr, den Menschen als ein bloßes Produkt seiner selbst zu verstehen. Die ökonomischen Ideale von Effizienz und Leistung dominieren die globalisierte Wirtschaft und machen vor der einzelnen Person und deren ureigenem Leib längst nicht mehr Halt. Holger Zaborowski, Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, warnt davor, dass der Wunsch nach Selbstoptimierung zu einer "zynischen Ideologie" werden kann. Für ihn geht die Idee einer individualistisch orientierten Selbstoptimierung an der menschlichen Wirklichkeit vorbei, weil der Mensch daran nur scheitern könne.

"Wir haben uns nicht selbst ins Leben gebracht, sondern sind geboren worden", sagt Holger Zaborowski. "Wir sind von Anfang an auf andere Menschen bezogen und existieren in Gemeinschaft. Wir leben nicht nur voneinander, sondern füreinander. Und so optimiert wir auch sein mögen, sterben müssen wir alle. Dies ist aus der Sicht der Ideologie der Selbstoptimierung eine große Kränkung, gegen die es mit allen Mitteln vorzugehen gilt."
 

Das scheint zumindest verständlich. Gerade weil wir wissen, dass wir eines Tages sterben werden, wünschen wir uns ein gesundes und möglichst langes Leben. "Doch hier werden oft menschliche Grundbedürfnisse ins Extrem getrieben", wendet Holger Zaboworski ein. "Gesundheit wird zu einer Religion. Im Vordergrund steht dann das Bedürfnis nach Erlösung – von den Grenzen unserer Existenz und letztlich sogar von unserer Existenz, wie wir sie bislang kennen. Aber ist das überhaupt möglich? Gilt es nicht vielmehr, die Grenzen unserer Existenz anzuerkennen und in und mit ihnen zu leben?"
 

Zwischen Maskerade und Selbstakzeptanz

Eine mögliche Antwort auf diese Frage gibt die promovierte Sozialpsychologin und Autorin Judith Braun. Sie unterscheidet in ihrer Definition von Selbstoptimierung zwischen Prozess und Inhalt. Mit anderen Worten: Bevor ich in den einschlägigen Online-Shops die gängigen Geräte bestelle und die nötigen Apps herunterlade, frage ich mich zunächst ehrlich nach meinem Ziel: "Wofür und warum setze ich mir dieses Ziel? Was könnte ich stattdessen tun? Was opfere ich dafür? Mache ich das für mich oder für andere Menschen und deren Erwartungen an mich?" Judith Braun setzt sich seit einigen Jahren mit Selbstoptimierung – und der Kritik daran – auseinander und stellt fest, dass sich der Begriff zuletzt gewandelt habe. 

"Selbstoptimierung wird immer mehr als Phänomen auf gesellschaftlicher Ebene betrachtet, das die Möglichkeit aber auch die Erwartung beschreibt, dass wir immer noch ein bisschen besser werden können, wenn wir uns nur anstrengen", erläutert Judith Braun. 

"Solange ich die Ressourcen und vor allem die Zeit habe, an mir zu arbeiten und meine persönlichen Ziele zu verfolgen, wirkt das Versprechen der Selbstoptimierung sehr verheißungsvoll: dass ich in allem besser werden kann, wenn ich diszipliniert darauf hinarbeite." Sobald aber die zeitlichen und andere Ressourcen fehlten, baue der Gedanke an Selbstoptimierung zusätzlichen Druck auf. "Während viele Leute im Lockdown anfingen, Sport zu machen, Brot zu backen oder ihre Häuser zu renovieren, versuchte ich einfach nur, den Alltag mit zwei kleinen Kindern zu organisieren und irgendwie ein bisschen zu arbeiten", erinnert sich Judith Braun. "Wenn ich die Bilder und Berichte von hübsch dekorierten und frisch renovierten Häusern sah, die mir zeigten, was andere in dieser Zeit der erzwungenen Ruhe alles schafften, fühlte ich mich schlecht und hatte das Gefühl, selbst nicht genug zu tun."
 

Vielleicht wäre Selbstoptimierung nur halb so schön, wenn wir sie niemandem zeigen könnten. Darum werden Fotos von tollen Häusern, vor allem aber von tollen Körpern millionenfach auf Facebook oder Instagram, TikTok und Snapchat geteilt, geklickt, gelikt. Selbstinszenierung ist Belohnung und Ansporn zugleich. Wobei die Bilder ihrerseits mittels Filtertechnik wiederum optimiert sind und den Anspruch ins Unerreichbare hochschrauben. Maya Götz, die die Forschungseinrichtung IZI des Bayerischen Rundfunks leitet, befürchtet eine Verzerrung des Verständnisses von "natürlich" und "spontan". In ihrem Fazit einer Studie von 2019 über den Einfluss von Influencerinnen auf junge Mädchen schreibt Maya Götz: "Die Maskerade wird zum unhinterfragten Standard und lässt keine Abweichung zu." 

Dagegen regt sich indes Widerstand: Die "Body Positivity"-Bewegung wirbt in den Sozialen Medien für Selbstakzeptanz und größere Vielfalt von Schönheitsidealen. Allerdings steht auch bei Hashtags wie #allekörpersindschön wiederum die Inszenierung des Äußerlichen im Vordergrund. Selbstoptimierung funktioniert also auch jenseits gängiger Schönheitsideale; statt der gelaufenen Schritte und der Luftqualität wird dann eben das Maß an täglicher Selbstliebe online mit den Followern abgeglichen. Wenn man es sich denn leisten kann.
 

Da läuft einem das Wasser im Munde zusammen – auch wenn das Essen nur virtuell "geteilt" wird. Hoffentlich ist der erste Bissen noch warm.

Zeit für Selbstoptimierung 3.0?

Der Soziologin Judith Braun ist jedenfalls beim Betrachten der perfekten Bilder klar geworden, "dass Selbstoptimierung auch ein Privileg ist." Sie hat nach ihrer Promotion fünf Jahre im kalifornischen Silicon Valley gelebt und dort ihren international zusammengewürfelten Freundeskreis befragt, wie das Thema Selbstoptimierung in verschiedenen Kulturen der Welt gesehen wird. David aus Peking etwa berichtete, dass bei einem Zwölfstundentag und einer Sechstagewoche schlicht die Zeit dafür fehle. Was David, der in einer Diktatur aufgewachsen ist, hingegen an der Idee fasziniert: "Das eigene Ich zu entdecken." Vielleicht ein neuer Zugang zu dem, was wir "Menschenwürde" nennen?
 

"Was wäre, wenn sich das Konzept von Selbstoptimierung weiter wandelt und die Menschen sich darauf konzentrieren, ihre Beziehungen zu anderen Menschen und zur Umwelt zu verbessern?"
Judith Braun

Wozu nach Ansicht des Philosophen Holger Zaborowski aber gerade auch die Begrenztheit und Verletzlichkeit gehöre. "Der Mensch muss sich nach christlichem Verständnis nicht selbst optimieren oder erlösen", so Holger Zaborowski. "Er soll sich freilich moralisch bessern, ein guter Mensch werden und ein gutes Leben führen. Damit sollte der konkrete praktische Einsatz für menschliche Lebensumstände für alle verbunden sein."

Dazu passt vielleicht dann doch Judith Brauns Idee einer "Selbstoptimierung 3.0". "Was wäre", fragt sie auf ihrem Blog, "wenn sich das Konzept von Selbstoptimierung weiter wandelt und die Menschen sich darauf konzentrieren, ihre Beziehungen zu anderen Menschen und zur Umwelt zu verbessern?"

Jonas hat indes seinen Weg gefunden, genau das zu tun. Seit kurzem fährt er mit dem Rad zur Arbeit. Darüber freut sich sein Fitnesstracker genauso wie das Klima und die Umwelt.


Fotos: Epiximages, alvarez, evrik ertik/istock; privat

Selbstoptimierung
Geschrieben von
Franziska Reeg

Darf man... auf Social-Media nur Perfektes posten?

Noch schnell das super gesunde Frühstück fotografieren, dann ab ins Fitnessstudio: Auf den Social-Media-Plattformen wirkt oft alles ganz schön perfekt.

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