Ausgabe 1-2023 : Februar

Zerreißprobe Krieg: Leben im Ausnahmezustand

Europa im Jahr 2023: Seit 12 Monaten herrscht Krieg vor der Haustür. Was Menschen in diesen Zeiten bewegt.

Herbert und Gaby Schöner, Ulrich Kraus, Sybille Dittrich, Stefan Urban und Heinz Schaaf bei der Übergabe von 1.089 Paketen für die Weihnachtsaktion 2022 des DV Augsburg.

Viktoria lebt seit einigen Jahren mit Ehemann Tino und ihrem Sohn Ilay in der Nähe von München. Sie fühlt sich dort zu Hause, aber ihre Heimat bleibt die Ukraine. Seit dem 24. Februar hat sich ihr Leben um 180 Grad gedreht. Zu Beginn des Krieges fühlte sie sich wie gelähmt. Sie habe keinen klaren Gedanken fassen können, berichtet die junge Ukrainerin im Gespräch.

Ihr vierjähriger Sohn Ilay sei in dieser Zeit ein bisschen zu kurz gekommen, beteuert Viktoria und schlägt die Augen nieder. Sie schluckt schwer. "Er hat dann viel Zeit mit seinem Papa verbracht. Ich hatte keine Kraft ihm zu erklären, in welcher Gef­ahr Oma und Opa schweben. Ich musste mich erstmal sammeln und habe dann mein Möglichstes getan, um Freunden und Bekannten bei der Flucht zu helfen." Durch den Kindergarten sei Ilay spielerisch an das Thema herangeführt worden, habe Regenbögen gemalt und Friedenstauben gebastelt.

Ein Bild aus guten Tagen: Die schwangere Viktoria mit Ehemann Tino zu Besuch bei ihren Eltern in der Ukraine.

"Krieg ist eine absolute Ausnahmesituation. Alles normale Leben, alle Gesittung, alle Sicherheit sind außer Kraft gesetzt. Mit einem Mal sieht man sich mit etwas absolut Bedrohlichem, Bösen konfrontiert. Der Mensch kann sich auch an Extremsituationen allmählich anpassen, die Psyche lernt, sich in einer gänzlich veränderten Realität zurecht zu finden", erklärt der Diplompsychologe Peter Conzen. Conzen war jahrelang als Leiter der Erziehungs- und Familienberatungsstelle des Cartiasverbandes für die Stadt Bonn tätig. Für uns hat er einen Blick auf die psychischen Auswirkungen des Kriegsgeschehens geworfen und unterstreicht, wie wichtig es ist, mit Kindern die Kriegsereignisse sehr behutsam aufzuarbeiten.

"Krieg ist eine absolute Ausnahmesituation. Alles normale Leben,(…)alle Sicherheit sind außer Kraft gesetzt."
Peter Conzen, Diplompsychologe

Kinder und der Krieg

Kinder könnten natürlich noch nicht ausreichend realistische Vorstellungen vom Krieg entwickeln und auch noch keine zukünftigen Entwicklungen antizipieren, sagt Conzen. Kinder realisierten aber sehr deutlich, dass etwas Bedrohliches in der Luft liege, und registrierten sehr genau die Ängste der Erwachsenen. "Hier ist es wichtig, mit betroffenen Jungen und Mädchen über ihre Ängste zu sprechen und – soweit es möglich ist – ein Gefühl des Gehalten- und Geschützt-Seins aufrechtzuerhalten", so Conzen weiter. 

Dass das eine Herausforderung sein kann, berichtet Viktoria aus eigener Erfahrung:
 

"Es ist schwer die Situation einem Vierjährigen zu erklären. Wir achten darauf, dass er keine Nachrichtenbilder sieht."
Viktoria

Trotzdem bekomme Ilay einiges mit. Er wisse zum Beispiel ganz genau, dass Putin der Mann sei, der im Land seiner Großeltern alles kaputt mache: "Neulich sind wir hier in München an einem Haus vorbeigelaufen, das eine zerbrochene Scheibe hatte – da hat er mich gefragt: 'Kommt Putin jetzt auch zu uns?' Ich habe ihm dann erklärt, dass wir hier in Sicherheit sind. Er vermisst seine Großeltern sehr und fragt oft, wann er sie wieder in den Ferien besuchen kann", berichtet Viktoria.
 

Viktoria (l.) mit Freundin Khrystyna (r.) an ihrem Stand auf dem Pfaffenhofener Weihnachtsmarkt. Sie verkaufen selbstgemachte, ukrainische Ware, um Geld für Hilfsprojekte zu sammeln.

Nirgends sicher

Viktorias Eltern leben in der Ostukraine in einer ruhigen Gegend, in der lange keine Truppen gesichtet wurden. "Die Front ist weit entfernt. An den wöchentlichen Raketenbeschuss und den damit verbundenen täglichen Stromausfall hatten sich alle schnell gewöhnt. Die ukrainische Abwehr funktioniert gut, so kann nicht viel Schaden angerichtet werden", berichtet Viktoria noch Anfang Januar 2023. Nur wenige Tage später schlägt im 40 Kilometer entfernten Dnipro eine Rakete in einem neunstöckigen Wohnhaus ein. Viele Verletzte und auch einige Tote sind zu beklagen. Der Schock in der Bevölkerung sitzt tief, denn in der näheren Umgebung gibt es keinerlei militärische Ziele. Schlagartig sind viele der Zivilisten ohne Obdach – die Minusgrade des Winters erschweren die Lage zusätzlich. 

In der Extremsituation des Krieges verfielen die meisten Menschen in ein Stadium einfachen psychischen Funktionierens. Typisch sei eine radikale Spaltung zwischen Gut und Böse, Freund und Feind, Richtig und Falsch. "Wenn man mitansieht, wie Menschen verletzt und getötet werden, wird rasch eine Mischung aus Angst, Verzweiflung, Wut und Panik freigesetzt. Ein Bedürfnis nach Rache wird bei den meisten unstillbar", führt Conzen aus. Die Kriegspropaganda, Gerüchte und Fake-News sowie autoritäre Parolen heizten diese Spaltung noch an. In solchen Situationen sei es schwer, abzuwägen, rational und selbstkritisch zu denken oder sich gar in die andere Seite – den Feind – einzudenken. Der Feind, würde nur noch als böse erlebt – egal ob es sich um Zivilisten, Frauen oder Kinder handle. Jede Aggression, jede Gegenwehr erschiene gerechtfertigt, das Gewissen sei dann vielfach außer Kraft gesetzt. 
 

"Dieser Riss zwischen den Kulturen, zwischen Russland und der Ukraine, dieser Riss wird immer größer."
Andreas Blümel

Diese Feindschaft und die Frage, wie sie überwunden werden könne, geistert auch Andreas Blümel durch den Kopf. Das Mitglied des Kolping-Bundesvorstandes ist mit einer Frau verheiratet, die aus der Ukraine stammt: "Dieser Riss zwischen den Kulturen, zwischen Russland und der Ukraine, dieser Riss wird immer größer. Es gibt keine Grautöne mehr, nur noch Entweder – Oder. Es ist tödlich, dass man die verschiedenen Meinungen nicht mehr zusammenbringen kann. Ich dachte immer die Ukraine wäre ein Land, das den Ausgleich zwischen den verschiedenen Gesinnungen im Land schaffen könnte. Momentan habe ich keine Idee, wie eine Friedensverhandlung aussehen könnte." Auch Conzen ist ratlos: "Es ist ein ganz verfahrenes Kriegsgeschehen, ich bin da kein Experte, aber ehrlich gesagt habe ich keine Idee, wie sich dieser Konflikt lösen lassen könnte."

Andreas Blümel (rechts) mit seiner Frau (2.v.r.) bei Übergabe von Spenden in der Ukraine.

Ein tiefer Riss

Den Münchner Alexander macht das Kriegsgeschehen ebenfalls betroffen. Er selbst hat russische Wurzeln und fühlt sich dem Land darum auch kulturell verbunden. Auch er spüre den tiefen Riss, der durch den Krieg zwischen den ehemaligen Bruderländern entstanden sei und sich nun auch durch beide Länder ziehe, Familien und Freundschaften spalte. Auch innerhalb russischer Familien gingen die Meinungen stark auseinander, berichtet er. Er war selbst schon mehrfach in beiden Ländern zu Gast und erinnert sich mit Freude an diese Momente zurück.

Mit vielen Kilometern Abstand blickt er besorgt auf die aktuelle Lage in der Ukraine, aber auch auf die derzeitigen Entwicklungen in Russland. Nach dem 24. Februar 2022 müsse er Moskau in einem anderen Licht betrachten, gibt er zu Bedenken. Seiner Meinung nach helfe der Krieg niemandem: "Ich weiß, dass da in meinem Körper zwei verschiedene Herzen schlagen: Ich wünsche der Ukraine einen Erfolg und gleichzeitig trauere ich mit Russland und hoffe, dass das Land eine gute Zukunft findet", sagt Alexander.   

Angesichts der zunehmenden Zerrissenheit und des wachsenden Hasses ist es für die vom Krieg Betroffenen umso wichtiger, die Anteilnahme der Menschen in ihrem Umfeld und weltweit zu spüren. Viktoria zieht daraus in Augenblicken der Verzweiflung die Kraft, weiterzumachen. 
 

"Ein einfaches 'Ich denke an dich und deine Familie' hilft sehr".
Viktoria

"Besonders am Anfang haben mir sehr viele geschrieben und ich hatte das Gefühl: Okay es ist wirklich schlimm, aber es stehen mir viele Leute zur Seite und wollen helfen. Das war total berührend, dass die Leute so offen sind. Ein einfaches 'Ich denke an dich und deine Familie' hilft sehr", sagt Viktoria.

Anteilnahme und das Bedürfnis zu helfen waren auch für Andreas Blümel der Antrieb, sich für die Menschen im Kriegsgebiet einzusetzen. Die gefährliche Situation vor Ort hielt ihn nicht davon ab, immer wieder mit Kolpingmitgliedern aus dem Diözesanverband (DV) Erfurt ins Land zu reisen.

Als Russland im Oktober die ukrainische Infrastruktur ins Visier nahm und gezielt das Kohlekraftwerk in Burschtyn angriff, war Familie Blümel voller Sorge. Viele ihrer Freunde arbeiten dort und auch Mitglieder befreundeter Kolpingsfamilien wohnen in der Nähe. Doch alle überlebten den Angriff. Immer wieder habe er den Familien vor Ort angeboten, ihnen bei der Flucht zu helfen und Wohnraum in Deutschland zur Verfügung zu stellen, berichtet Blümel. Doch bis dato hätten die Ukrainer*innen das Angebot ausgeschlagen: "Die Menschen sind stolz auf ihr Land und wollen sich nicht vertreiben lassen; sonst, so sagen sie, hat Putin gewonnen."

Junge Hoffnungsträger

Alexander Blümel teilt das Engagement seines Vaters. Der Diözesanleiter der Kolpingjugend im DV Erfurt studiert derzeit in Hamburg und arbeitet dort ehrenamtlich im Generalkonsulat der Ukraine. Er ist Mitglied im ukrainischen Hilfsstab und hat hier vor allem mit jungen Geflüchteten zu tun. Diese, so sagt er, seien voller Hoffnung auf einen baldigen Kriegsausgang. Mit einer freien, demokratischen Ukraine, die sich der EU anschlösse. Ihr langfristiges Ziel sei die Rückkehr in die Heimat und der Wiederaufbau. Über Onlinetools nähmen die jungen Leute weiterhin am ukrainischen Schulunterricht teil. Gleichzeitig seien sie sehr bemüht, Deutsch zu lernen, um alle Bildungschancen, die sich ihnen böten, nutzen zu können: "Sie hoffen, dadurch ihre Voraussetzungen auf dem internationalen Arbeitsmarkt zu stärken." Die Perspektive auf eine Zukunft vermittle Sicherheit, erläutert Conzen. Um nicht nur geduldet zu werden, würden sich Geflüchtete gern zügig in der neuen Umgebung nützlich machen. Es sei wichtig, dass sie auf freundliche, hilfsbereite Menschen träfen.
 

Kolping hilft: Kolping hat sich bisher auf vielen Wegen um Hilfe für die Ukraine bemüht. Vielerorts wurden Spenden gesammelt, Hilfstransporte und/oder Benefizveranstaltungen aber auch Sprachkurse organisiert.

Hilfsbereitschaft verbindet

Einer dieser hilfsbereiten Menschen ist Thorsten Schröder vom DV Augsburg. Er pflegt seit vielen Jahren freundschaftliche Kontakte in die Ukraine. Ihm beschert der Krieg ebenfalls viele Stunden der Sorgen um liebgewonnene Menschen. In Augs-burg wurden unmittelbar nach Bekanntwerden der ersten Angriffe Pläne geschmiedet, wie man vor Ort zielgerichtet helfen könne. So setzte sich eine Lawine der Hilfe in Gang, die sich nach kurzer Zeit über ganz Bayern erstreckte. Ein positiver Nebeneffekt der Hilfsaktionen sei, so Schröder, dass es die Menschen wieder näher zueinander gebracht hätte – auch die Kolpingmitglieder aus verschiedenen Kolpingsfamilien. Der gemeinsame Dienst für eine gute Sache, das sei Grundsatz bei Kolping, der in die Tat umgesetzt würde. "Ein klares Zeichen, dass Kolping wirkt", sagt Thorsten Schröder.

Der Artikel bezieht sich auf die aktuelle Lage des Kriegsgeschehens in der Ukraine im Zeitraum 24.02.22 bis zum Redaktionsschluss am 27.01.23.

Kriegsschauplatz Ukraine – Kolping wirkt!

Die große Spenden- und Hilfsbereitschaft für Kolpinggeschwister und die Menschen in der Ukraine lässt sich kaum in Worte fassen. "Wir sind stolz, dass so viele Kolpingmitglieder in ganz Deutschland und auch International sich für Menschen in Not engagieren und damit den Gedanken Kolpings nicht nur im Herzen, sondern mit der Tat hinaus in die Welt tragen. An dieser Stelle möchten wir Euch allen für Eure Ideen, Eure Mühen, Euren Mut und Eure Spenden danken. Die Hilfe kommt an und verändert die Situation für viele Menschen zum Besseren. Zusammen sind wir Kolping!“, sagt Alexandra Horster, Bundesvorsitzende des Kolpingwerkes Deutschland. Stellvertretend für die vielen Aktionen werden in diesem Beitrag zwei Initiativen vorgestellt.

Das Kolping-Netzwerk Ukraine sammelt auf einem Padlet außerdem Informationen, Fragen und Angebote zur Ukraine-Hilfe gesammelt. Auch dient dieses Padlet dem Austausch über sonstige organisatorische Dinge. Egal, ob Ihr Spendentransporte, Aktionen plant oder Euch einfach nur austauschen wollt: Schickt Eure Anfragen und Angebote gerne an Sophia Büttner (sophia.buettner(at)kolping.de) vom Kolping-Netzwerk Ukraine. Zum Padlet
Kolping International betreibt ein Online-Tagebuch zur Ukraine-Hilfe, mehr dazu
 

Fotos: Thorsten Schröder/Kolpingwerk DV Augsburg, Andreas Blümel, Viktoria