Ausgabe 1-2021 : Februar

Und dann kam Corona

Ende Januar war es ein Jahr her, dass das Corona-Virus erstmals auch in Deutschland nachgewiesen wurde. Was hat uns Covid-19 in dieser Zeit gelehrt? Der Versuch einer Zwischenbilanz. Ein Gastbeitrag von Thomas Dörflinger.

Zwar scheint Licht am Ende des Tunnels, aber es wird noch dauern, bis die Corona-Pandemie tatsächlich überwunden ist. Schon jetzt ist aber klar: Covid-19 war eine Herausforderung, die Staat, Wirtschaft und Gesellschaft an die Grenzen geführt hat. Dass dabei auch Fehler gemacht wurden, ist per se weder verwunderlich noch verwerflich. Insofern wäre zu wünschen, dass dem Ende der Pandemie eine zwar schonungslose, gleichzeitig aber sachliche und ruhige Analyse folgt. Es geht nicht darum, jemanden auf die Anklagebank zu setzen – und schon gar nicht darum, Sündenböcke zu finden. Das Ziel ist schlicht, dass alle für die Zukunft etwas lernen. So versteht sich dieser Beitrag als Zwischenbilanz, und wenn ich mit dieser auf Widerspruch stoßen sollte – dies ist ausdrücklich gewollt. Nur der Widerstreit von Meinungen ermöglicht letztlich einen inhaltlichen Fortschritt. Dialektik nannten das die großen Denker.

Das fängt im Kleinen am. Beginnen wir also bei uns selbst: Unser Leben wurde zwangsweise entschleunigt. Das hatte mitnichten nur Nachteile. Plötzlich kommen Dinge in den Blick, die vorher der allgemeinen Hektik und dem beruflichen Stress zum Opfer fielen. Wenn alles ein wenig langsamer laufen würde, kommt man also auch zum Ziel, vielleicht sogar etwas weniger oberflächlich. Mir ist die bewegende Video-Botschaft des mexikanischen Nationalpräses Padre Saúl Ragoitia Vega vom April 2020 noch gut vor Augen, in der er sagte, wir würden unsere persönlichen Begegnungen ganz neu schätzen lernen, wenn alles einmal vorbei sei. Bleibt es also dabei, dass wir uns nur darauf freuen, wieder einmal einen kräftigen Händedruck austauschen oder jemanden in den Arm nehmen zu können? Oder bedeutet Empathie in Wirklichkeit nicht doch, dass ein kurzes gutes Wort an das Gegenüber mehr wert wäre, als ein hastiges „Wie geht’s?“, das die Antwort schon gar nicht mehr abwartet, weil die gleiche Frage bereits dem Nächsten gestellt wird? Klingt vielleicht trivial, aber das Nachdenken lohnt.

Digitale Treffen ersetzen keine Theke

Apropos kleine Geste. Auch für uns im Kolpingwerk Deutschland war ein Lockdown völlig neu und hat zunächst einmal ein wenig Ratlosigkeit provoziert. In dieser Phase tut eine Geste gut, wie sie zum Beispiel die Kolpingsfamilie Kronach (Oberfranken) ihren Mitgliedern hat zukommen lassen. Eine kleine Aufmerksamkeit, etwas Süßes und ein Glas Wein zeigen, dass die Verbundenheit auch hält, wenn man sich nicht persönlich treffen kann. Die Einführung digitaler Formate ging vergleichsweise rasch, nicht zuletzt, weil die Kolpingjugend bereits vor Corona Erfahrungen damit hatte. Allerdings gilt auch: in einem Verband wie dem unsrigen ist digital nur dort eine Alternative, wo erstens Breitband flächendeckend zur Verfügung steht (nicht selten hapert es schon daran) und zweitens die Mitglieder in der Lage sind, damit umzugehen. Letzteres sage ich ohne jeden Vorwurf; da ist einfach noch Luft nach oben. Die Erfahrung der letzten Monate zeigt: nicht jede Arbeitsgruppe oder Kommission muss zwingend in Präsenz tagen, was uns Reisekosten sparen könnte. Aber: Wer nach getaner Arbeit ein gemeinsames Getränk an der Theke schätzt, weiß natürlich, dass digitale Treffen durchaus ihre Grenzen haben.

Nicht mehr als nur zwei nette Gesten

Es liegt wohl in der Natur des Menschen, manches erst dann besonders wertzuschätzen, wenn es nicht (mehr) zur Verfügung steht. Dazu gehört auch der Besuch eines Gottesdienstes. Selbstredend ist eine digitale Eucharistie zuhause am Notebook besser als gar keine. Aber schon die Erfahrung, aus dem Haus zu müssen, wenn man zur Kirche möchte, gemeinsam zu singen oder einen Chor zu hören, zeigt: Gemeinsam Gottesdienst zu feiern, hat auch etwas mit persönlicher Anwesenheit und Begegnung zu tun. Andererseits dürften viele meine Erfahrung geteilt haben, dass die Zahl der Besucher eines digitalen Gottesdienstes oftmals höher war als die Summe der Gläubigen in allen ansonsten stattfindenden Sonntagsmessen zusammen. Nicht nur Älteren und Kranken wurde so die Teilnahme ermöglicht; vermutlich wurden auch Menschen erreicht, die unter „normalen“ Bedingungen nicht zur Kirche gekommen wären. Heißt für die Zukunft: Man kann das Eine tun, ohne das Andere zu lassen. Wenn Kirche auf digitale Formate als Ergänzung und nicht als Alternative zu herkömmlichen Angeboten setzt, kann das die Reichweite deutlich erhöhen! Auch für das Kolpingwerk kann dies gerade im internationalen Kontext eine interessante Variante sein.

Schon der Beginn der Pandemie hat offengelegt, dass manche Sektoren unseres Gesundheitswesens schlecht organisiert sind.

Das betrifft etwa die Bevorratung von Masken oder Desinfektionsmitteln. Dem abzuhelfen, dürfte vergleichsweise einfach sein. Schwieriger gestaltet sich die Personalsituation im Gesundheits- und Pflegebereich, die schon vor der Pandemie angespannt war. Beifall vom Balkon und ein einmaliger Bonus sind nette Gesten, mehr aber auch nicht. Wer mit den Beschäftigten dort spricht, erfährt rasch, dass das eigentliche Problem nicht einmal die Bezahlung ist, sondern die Arbeitsbedingungen. Reden wir also über Zeitbudgets, die in erster Linie den Patienten und nicht der Dokumentation und der Bürokratie dienen müssen. Kontrolle ist gut, aber mehr Kontrolle bedeutet nicht automatisch auch mehr Qualität. Und daneben gilt: Wer einen harten Job macht, muss dafür auch ordentlich bezahlt werden. 
 

Nicht nur in den Schriften Adolph Kolpings, auch bei vielen Vordenkern, die an Soziallehre und Soziale Marktwirtschaft eher von der ökonomischen Warte herangingen, kommt der Familie eine besondere Bedeutung zu. Da die in unseren Augen nicht ausreichende Wertschätzung familiärer Arbeit seit Jahrzehnten ein Dauerbrenner-Thema für das Kolpingwerk ist, darf man schon noch einmal die Frage aufwerfen, ob die staatliche Kinderbetreuung als Regel die richtige Weichenstellung ist. Wenn die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit zwingend an der Funktionalität öffentlicher Kinderbetreuung hängt, ist klar, dass es unter pandemischen Bedingungen zu Schwierigkeiten kommt, unter denen Familien wie Betriebe leiden. Es wäre folglich einen Gedanken wert, ob es mit Hilfe flexibler Arbeitszeiten und mehr Homeoffice nicht andere, weniger krisenanfällige Modelle geben könnte, die die tatsächliche Vereinbarkeit innerhalb der Familie darstellen und nicht die Auslagerung von Erziehung in staatliche Zuständigkeit bedeuten.

Die Grenzen der Globalisierung

Apropos Krisenanfälligkeit. Rein aus Kostengründen mag es sicher in der Wirtschaft einmal sinnvoll gewesen sein, Teile der Produktion ins Ausland zu verlagern. Aber: Wenn Transportwege durch Pandemien unterbrochen werden, legt dies dann auch gleich die ganze Produktionskette lahm. Folglich dürften die Erfahrungen aus der Pandemie einerseits die Grenzen der Globalisierung deutlich machen, andererseits aber auch manche der bisherigen scheinbaren Notwendigkeiten hinterfragen.

Nicht jede Dienstreise der letzten Jahre dürfte in der Zukunft noch gebucht werden...

... wenn die Erkenntnis vorliegt, dass man in einer Video-Konferenz zum selben und gleichzeitig schnelleren Ergebnis gelangt. Aber es stellen sich auch grundsätzliche Fragen: Zweifelsohne war es richtig, dass der Staat insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen während des wochenlangen Lockdowns durch direkte Hilfen unter die Arme griff. Schon aus ordnungspolitischen Gründen ist allerdings die Frage erlaubt, ob es zukünftig nicht sinnvoller wäre, die Bildung einer vernünftigen Eigenkapitaldecke im Mittelstand steuerrechtlich zu begleiten, um die Krisenresistenz dort zu verbessern.

Was für Unternehmen richtig ist, kann für Familien nicht falsch sein. Die von Victor Feiler (Kolping-Referent für Gesellschaftspolitik) im Kolpingmagazin schon öfter und zu Recht dargestellte Gefahr, die Gesellschaft drohe ökonomisch auseinanderzufallen, ist leider ein Stück realer geworden – aufgrund möglicher Insolvenzen und steigender Arbeitslosigkeit. Man muss kein Fan des bedingungslosen Grundeinkommens sein, um festzustellen: Breite Teile der Mittelschicht leben quasi von der Hand in den Mund. Das funktioniert – solange nichts schief geht. Sparen, auch das wusste Kolping selbst bereits, ist eine Tugend. Sie muss aber auch ermöglicht werden. Dahinter steckt nicht nur die Forderung nach auskömmlichen Löhnen, gemeint ist auch die Option für Kleinanleger, für schlechte Zeiten etwas zurücklegen zu können. Die gegenwärtige Zinspolitik macht dies aber nahezu unmöglich und fördert stattdessen die Hand-in-den-Mund-Mentalität. Nachhaltigkeit sieht anders aus!
 

Der Online-Handel ist einer der wenigen Profiteure der Corona-Pandemie.

Natürlich ist Nachhaltigkeit aber auch eine Forderung an uns selbst. Es wäre ja ein Fortschritt, wenn Corona auch die Erkenntnis befördert hätte, dass der Landwirt aus der Region oder das Geschäft um die Ecke vielleicht doch ihre Vorteile gegenüber manchem Internet-Konzern haben. Umgekehrt sehen wir bedingt durch die Pandemie vor Ort in vielen Einzelhandelsgeschäften Online-Shops realisiert; besser spät als nie. Letztlich haben wir es als Verbraucher selbst in der Hand, wie es weitergeht. Wer immer noch meint, wegen 20 Cent im Netz ein Schnäppchen bei Unternehmen machen zu müssen, die ihre Steuern (wenn überhaupt) im Ausland zahlen und mit geringem Personal auskommen, wird sich über sterbende Innenstädte und fehlende Ausbildungsplätze in der Zukunft nicht beschweren dürfen.

Bereits im April 2015 hat sich das Kolpingwerk in einer Erklärung mit der sich verändernden politischen Kultur befasst. Seither ist diese „Kultur“ sicher kaum besser geworden; auch das hat sich in der Pandemie deutlich gezeigt. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Oft ist es der schlichte Umstand, dass man nicht mit-, sondern lieber übereinander redet. Oder einander schon gar nicht mehr zuhört. Zwar kann man über diverse Plakate, die bei Demonstrationen gegen die Corona-Politik getragen werden, tatsächlich nur noch den Kopf schütteln. Andererseits gilt auch: Die bloße Kritik dieser Auftritte verhindert sie weder noch ändert sie diese. Adolph Kolping wusste übrigens, dass für die Änderung gesellschaftlicher Missstände die Beseitigung ihrer Ursachen notwendig ist.

Was gegen obskure Theorien hilft

Hier eine Bemerkung vorab: Es macht wenig Sinn, einen Hardcore-Verschwörungstheoretiker von seinen Auffassungen abbringen zu wollen, ebenso wenig lässt sich ein fanatischer Rechtsextremer von den Qualitäten des Rechtsstaates überzeugen. Politik, Medien und Gesellschaft stehen aber vor der Aufgabe, das Durchdringen obskurer Theorien in die Mitte der Gesellschaft zu verhindern. Das bekommt man aber nicht hin, wenn nur ein rhetorischer Wettbewerb darüber stattfindet, wer denn die härteste Formulierung gegen jene findet, die an den extremen Rändern operieren.
 

Drei Beispiele hierzu. Erstens: Hätte die Bundesregierung in ein sie beratendes Expertengremium unter Federführung des Robert-Koch-Instituts (RKI) auch Virologen und Epidemiologen berufen, die vom RKI abweichende Meinungen vertreten, hätte dies höchstwahrscheinlich an den Empfehlungen nichts geändert, da die Wissenschaft größtenteils die Position des RKI teilt. Der Vorwurf, man habe sich einseitig beraten lassen, wäre aber ins Leere gelaufen. 

Zweitens: Gerade in Krisenzeiten müssen Beschlüsse die höchstmögliche Legitimation haben – also die des Parlaments. Wenn aber Entscheidungen durch ein Gremium, etwa die Runde der Kanzlerin mit den Bundesländern, festgelegt werden, das in der Verfassung an keiner Stelle hierzu autorisiert ist, ist dies nicht nur für Fachleute im Verfassungsrecht ein Unding. Man stelle sich übertragen auf den Verband einmal vor, der Bundessekretär würde im Benehmen mit den Diözesanverbänden Entscheidungen treffen, für die der Bundeshauptausschuss oder die Bundesversammlung zuständig ist. Der Aufschrei wäre groß. Und das zu Recht! Hätte der Bundestag, an dessen Handlungsfähigkeit zu keinem Zeitpunkt Zweifel bestanden, aber debattiert und entschieden, ohne dass andere zuvor bereits die Bevölkerung über das Wesentliche in Kenntnis gesetzt hätten, hätte dies an den Entscheidungen in der Sache nichts geändert. Jedoch: Der Vorwurf, die Politik würde im Hinterzimmer gemacht, wäre ins Leere gelaufen.

Drittens: Wer die sehr heterogene Ansammlung von Demonstranten gegen die Corona-Politik pauschal als „Covidioten“ bezeichnet, läuft Gefahr, jene, die teils aus Unkenntnis, teils aus Zweifel dort mitgelaufen sind, in die Arme derer zu treiben, für die diese Bezeichnung tatsächlich zutrifft. Differenzierung statt Schubladisierung wäre gerade für Medien das Gebot der Stunde, denn die Dinge sind selten so einfach, wie viele sie gerne hätten. Der Vorwurf, viele jener Demonstranten präsentierten nur Parolen und einfache Lösungen, trifft zwar zu. Wer aber in der Analyse dieser Aktivitäten genau jene Sorgfalt vermissen lässt, die er auf der anderen Seite von den Aktivisten (wohlgemerkt zu Recht) einfordert, stellt seine eigene Argumentation auf tönerne Füße und spült Wasser auf die Mühlen jener Kräfte, die er eigentlich zu bekämpfen sucht.

Thomas Dörflinger (55) war von 2004 bis 2018 Bundesvorsitzender des Kolpingwerkes Deutschland. Zwischen 1998 und 2017 saß er für die CDU zudem im Deutschen Bundestag. Seit seinem Abschied aus dem Parlament arbeitet er wieder als Freier Journalist.

Fotos: Ashkan Forouzani/unsplash, Marian Hamacher, congerdesign und Wilfried Pohnke/Pixabay, Ludolf Dahmen