Ausgabe 4-2020 : November

"Nicht Herren über euren Glauben, sondern Mitarbeiter eurer Freude" (2 Kor 1,24)

Wie sieht die priesterliche Existenz und das Amt des Priesters in Zukunft aus? Darauf Antworten zu finden, ist eine der Aufgaben des Synodalen Wegs – denn die Kirche ist im Wandel. Ein Gastbeitrag von Andrea Kett.

Im Alter von 14 Jahren erlangte ich in meinem Heimatort kurzzeitige Berühmtheit: Ich marschierte auf das Postamt und erkundigte mich nach dem Porto für einen Brief an „Seine Heiligkeit, Papst Johannes Paul II., im Vatikan“. So etwas konnte trotz des Postgeheimnisses in einer Kleinstadt nicht unbeachtet bleiben. Vorher hatte ich mein Unverständnis darüber, dass ein besonders bei Jugendlichen sehr beliebter Kaplan der Liebe wegen sein Priesteramt aufgeben musste, auf mehrere Seiten Luftpostpapier gebannt und den Papst um Erläuterung gebeten. Das Antwortschreiben aus dem Vatikan war genauso kurz wie ernüchternd und nicht an mich adressiert, sondern an den Pfarrer meiner Heimatgemeinde. Dieser zitierte mich zu sich, erklärte mir, ich sei zu jung, um diese schwierige Thematik zu verstehen, und händigte mir ein Autogramm des Papstes aus – das ich zuhause wütend zerriss.
Heute, ein Theologiestudium und viele Jahre im Dienst verschiedener Bistümer und kirchlicher Organisationen später, erscheint mir der Pflichtzölibat aus pastoraler Sicht nicht weniger unsinnig als damals. Aber mir ist inzwischen klar, dass die Frage der priesterlichen Lebensform zwar eine wichtige, aber bei weitem nicht die einzige ist, die sich im Hinblick darauf, wie Priester ihrer Berufung heute gerecht werden können, stellt.

Andrea Kett (55) leitet im Bistum Aachen die Abteilung „Pastoral in Lebensräumen“.

Es verwundert nicht, dass sich in der Literatur zur Frage der priesterlichen Existenz überwiegend Beiträge von Theologen finden, die selbst Priester sind oder für die Ausbildung und Begleitung von Priestern Sorge tragen, wie Bischöfe oder Regenten. Als Frau, weder geweiht noch zölibatär lebend, maße ich mir nicht an, Priestern empfehlen zu wollen, wie sie zu sein, zu leben und zu arbeiten haben. Stattdessen nehme ich mit dem Schreiben dieses Beitrags meine Verantwortung als weibliche Führungskraft in der Kirche ernst, die laut Andrea Qualbrink unter Berufung auf den Wiener Organisationsberater Rudolph Wimmer darin besteht, die eigene Organisation zu „stören“, „indem sie von der Zukunft und von sich verändernden äußeren Bedingungen her denkt“.  Ich gehe das Thema also weder erfahrungsbezogen noch akademisch-theologisch an, sondern entwerfe aus pastoral-praktischer Perspektive ein Bild –  zugegebenermaßen ein ideales – davon, wie ich mir in einer Kirche im Wandel die Rolle des Priesters vorstelle.

Wenn ich von einer „Kirche im Wandel“ spreche, beziehe ich mich auf das von Alfred Lohmann entwickelte Kirchenbild der Vielgestaltigkeit: „Diese Kirchenmetapher zeichnet das Bild einer Kirche als geschichtliches Sakrament des Geistes, einer Kirche des Ereignisses, der Handlung, einer Kirche im Werden, im Prozess, in der Interaktion. In ihr wird eine bestimmte Haltung, ein bestimmter Lebensstil ,gelebt‘: eine sich selbst verschenkende Gastfreundlichkeit gegenüber dem Anderen. Diese Kirche muss geistlich immer neu um ihre Sakramentalität ringen, die nicht mehr ahistorisch hergeleitet wird oder einzig als vom eucharistischen Mittelpunkt herkommend gedacht wird; es geht um ein spezifisches Begegnungs- und Beziehungsgeschehen in der Welt, in der uns Gott zugänglich wird. Er zeigt sich uns in, mit und durch die Welt.“

An Lebenswirklichkeiten orientieren

Eine solche Kirche bewährt sich in den Settings, die ihr von außen gesetzt sind, und ist sich der Vorläufigkeit ihrer Sozialgestalt bewusst. Dem Relevanzverlust ihrer institutionellen Verfasstheit begegnet sie mit glaubwürdigem Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und lässt tätige Nächstenliebe im sozialen Nahraum konkret erfahrbar werden. Sie distanziert sich von der Vorstellung, „Hüterin des Glaubens“ sein zu müssen, und bietet stattdessen Kommunikationsformen an, die sich an den Lebenswirklichkeiten und -themen der Menschen orientieren, sie unverzweckt mit der existenziellen Dimension des Christentums bekannt macht und ihre eigene Deutungshoheit (religiöser) Erfahrungen respektiert. Und den abnehmenden Ressourcen im Hinblick auf pastorales Personal und finanzielle Mittel setzt diese Kirche eine konsequente Orientierung an den Charismen der Menschen und Vertrauen in die dezentrale Selbstorganisation engagierter Christen entgegen.

Was heißt das bezogen auf die Existenz von Priestern heute? Hat das Priesteramt überhaupt noch eine Daseinsberechtigung, wenn, wie Paul Zulehner sagt, die geschichtliche Entwicklung die Priester hinsichtlich des ererbten Reichtums an pastoralen Aufgaben „entblößt“ hat und nicht nur das priesterliche Portfolio, sondern damit auch Bedeutung und Macht geschrumpft sind? 

Ja, dann erst recht!, halte ich dagegen. Unabhängig davon, welche Zulassungsbedingungen es in Zukunft geben wird, bleibt das Amt konstitutiv für die Mission und die Sakramentalität der Kirche – vorausgesetzt, es ordnet sich ein in die Programmatik des „Christseins unter den Menschen“, in der das Evangelium vom Wohlergehen des Anderen und der Gemeinschaft her verheutigt und die oben zitierte „sich selbst verschenkende Gastfreundlichkeit“ gelebt wird. Eine Aussage von Christoph Rüdesheim verdeutlicht, wie das gedacht werden kann. Im Rückgriff auf Lumen Gentium erläutert er, dass die Kirche Sakrament ist, wenn sie zwischen dem Gottesbezug auf der einen und einem Welt- und Menschenbezug auf der anderen Seite vermittelt, also gleichzeitig auf den verweist, aus dem sie lebt, und darauf hindeutet, für wen sie da ist. „Stets ist neu zu fragen, wozu sie in diesem oder jenem Kontext Kirche Jesu Christi ist.“ 

Für den priesterlichen Dienst sowohl im Territorium als auch im kategorialen Einsatz leitet sich daraus substanziell die Aufgabe ab, „das Nicht-aus-sich selbst und Nicht-für-sich selbst der Kirche präsent zuhalten und stets sich selbst und alle anderen glaubhaft daran zu erinnern“. Das kann sich in der Feier der Sakramente, zum Beispiel in der Eucharistie konkretisieren, wenn der ordinierte Amtsträger vergegenwärtigt, dass Christus sich im eucharistischen Brot selbst verschenkt. Es kann auch sichtbar und wirksam werden, wenn er der Gemeinde oder Einrichtung, in der er tätig ist, immer wieder neu den Impuls gibt, aus sich heraus zu gehen und sich im wahrsten Sinne des Wortes für diejenigen zu verausgaben, deren Wohl und Würde auf dem Spiel steht, wenn in seinem authentisch gelebten Dienstamt also die viel zu häufig auseinander dividierte Einheit von Liturgie, Verkündigung und Diakonie zusammengehalten wird.

Win-Win-Situation

Die Tatsache, dass in einer solchen Kirche die Lebendigkeit und Nachhaltigkeit pastoraler Räume und Orte nicht vom „Dasein“ (bewusst im doppelten Wortsinn verstanden) eines Priesters abhängen und die Verantwortung für den Auftrag der Kirche, die „Sorge für das Leben“, geteilt wird, eröffnet dem Amtspriestertum neue Chancen. Franz-Josef Rauch hat den Satz geprägt: „Die Sendung des Priesters besteht nicht im Machen, sondern im Sein.“ Der im Zulehnerschen Sinne „entblößte“ Priester hat die Freiheit, das Christsein unter den Menschen radikal zu leben. Das erfordert Entschiedenheit und Mut – und einen gesunden Umgang mit sich selbst, denn „Leib und Leben sind gleichsam das Medium seines Dienstes und müssen darum geschützt und gepflegt werden“. 

Priestertum so verstanden, lebt von Austausch und Kooperation mit anderen und ist auf Gemeinschaft angelegt, die Resonanz gibt und als Korrektiv fungiert, und zwar von Anfang des Studiums an, durch die Berufseinführung hindurch und an den weiteren Lebensstationen. Das schließt ein geschwisterliches Miteinander von Männern und Frauen auch in geistlichen Ämtern und Leitungspositionen ein, wie es etwa in katholischen Verbänden oder ganz selbstverständlich in anderen Lebensbereichen praktiziert wird: voneinander lernend, sich gegenseitig ergänzend, frei von Konkurrenz.

Diese Rahmenbedingungen legen nahe, dass ein Priester nicht nur vom Bischof ordiniert, sondern zusätzlich von der Gemeinschaft, in deren Dienst er sich stellt, je nach seinen spezifischen Charismen für bestimmte Aufgaben autorisiert wird. Zu diesen Aufgaben muss nicht notwendigerweise die Leitung gehören. Wie auch immer das Portfolio konkret aussieht, in jedem Fall wird eine Win-Win-Situation geschaffen. Die Gemeinde wählt die Person aus, von der sie sich gut repräsentiert fühlt, die Charismen einbringt, die sonst fehlen würden, und verleiht ihr die für den Dienst nötige Vollmacht. Und der Amtsträger kann entsprechend seiner Fähigkeiten arbeiten, sich des Zu- und Vertrauens der Gemeinde sicher sein und wird es in der Regel nicht nötig haben, sich auf seine potestas (lateinisch für Macht, d. Red.) zu berufen. So kann er zum „Mitarbeiter der Freude“ einer gemeinsamen Kirche werden.  

Kurz und kompakt

Das ist der Synodale Weg

  • Strukturierte Debatte mit Beschlüssen einer sogenannten Synodalversammlung.
  • Start: 1. Dezember 2019
  • Anlass: Die katholische Kirche hat Vertrauen verloren (z.B. wegen des Themas sexueller Missbrauch), viele Gläubige sind unzufrieden.
  • Ziel: Reformen in der Kirche

Das ist die Struktur

  • Gespräche finden in insgesamt vier Synodalforen statt, die jeweils an einem festgelegten Themengebiet arbeiten.
  • Die vier Foren werden von einer Doppelspitze geleitet (je ein Bischof und ein Laienvertreter) und erarbeiten Vorschläge für die Synodalversammlung.

Das sind die vier Foren

  • Macht, Partizipation und Gewaltenteilung
  • Priesterliche Lebensformen
  • Zugang von Frauen zu Ämtern und Diensten
  • Sexualmoral

So geht es weiter

  • Corona-bedingt wird die zweite Synodalversammlung erst vom 4. bis zum 6. Februar 2021 stattfinden. Als eine Art Zwischenschritt trafen sich die Teilnehmenden zuletzt in kleineren Gruppen auf fünf regionalen Konferenzen. 
  • Die letzten beiden Synodalversammlungen werden vom 30. September bis 2. Oktober 2021 und vom 3. bis 5. Februar 2022 durchgeführt.

Fotos: Shannon Douglas, Shalone Cason (beide Unsplash), Bistum Aachen/Andreas Steindl