Ausgabe 4-2020 : November

Mehr als nur ein Vereinsgründer

Johann Gregor Breuer würde in diesem Jahr 200 Jahre alt. Wer aber war er? Und was hat er mit dem Kolpingwerk zu tun? Ein Blick auf den Menschen, der zur Lösung der sozialen Frage beigetragen und Adolph Kolping geprägt hat.

"Herr du hast meinem Leben ein Ziel gesetzt, das ich nicht überschreiten kann", steht auf Johann Gregor Breuers Grabstein in Elberfeld geschrieben.

Um es vorwegzunehmen: mit Johann Gregor Breuer hat man sich in Kolpingkreisen nicht immer so ganz einfach getan. Der Grund? Generationen von Kolpingschwestern und -brüdern ist diese Zeile aus dem Gesellenlied in Fleisch und Blut übergegangen: „Er wollt‘ Gesellenvater sein, das Handwerk liebt er noch. Er gründet den Gesellenverein!“ Und jetzt heißt der Gründer des ersten Gesellenvereins in Elberfeld, heute ein Stadtteil von Wuppertal, gar nicht Kolping? Wer war dieser Breuer, Johann Gregor mit Vornamen, dessen 200. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern? Und was hat er mit dem Kolpingwerk zu tun? Ein kleiner Blick zurück – in der Würdigung einer Persönlichkeit, die für Adolph Kolping und sein Werk von nicht unerheblicher Bedeutung gewesen ist.

Ein Aufwachsen mit Hindernissen

Johann Gregor Breuer kommt im November 1821 in Neuss zur Welt; er ist das letzte von insgesamt acht Kindern des Müllermeisters Wilhelm Breuer und dessen Frau Christine. Zwar schildert er selbst seine Kindheit als harmonisch und lobt sein harmonisches Elternhaus; dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Zusammenleben der Familie nicht von langer Dauer ist. Breuers Mutter stirbt, als er nicht ganz sieben Jahre alt ist. Die Verantwortung liegt nun beim ältesten Sohn Joseph, dem die Mutter quasi auf dem Sterbebett das Versprechen abnimmt, er wolle nicht nur für die Familie und seinen gut 15 Jahre jüngeren Bruder, sondern auch für den Vater sorgen. Die Familie wird so im wahrsten Sinne des Wortes zerrissen. Joseph ist damals als Hauslehrer auf Schloss Auel, einem Gut in der Umgebung beschäftigt. Als er berufsbedingt nach Neuhonrath übersiedelt, nimmt er zunächst den bisher bei Verwandten untergebrachten Johann Gregor, später auch den Vater und eine Schwester zu sich. Johann Gregor Breuer zählt erst 14 Lenze, als er seine erste Vereinsgründung auf den Weg bringt: der „Armen-Kranken-Verein“ in Neuhonrath: bei den besser Situierten werden Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände gesammelt, die man anschließend den Armen zur Verfügung stellt. 1841 wird er, dann in Elberfeld, zu den Mitbegründern des dortigen Krankenvereins gehören, wo er seine Erfahrungen aus Neuhonrath sinnstiftend einbringen kann. Nach der Heirat des Bruders herrscht Platzmangel im Hause Breuer, und Johann Gregor, der zuvor neben der Schule zuhause auch als Küchenhilfe arbeitet, soll in der so genannten „Präparandenschule“ in Lohmar für seinen späteren Beruf als Lehrer vorbereitet werden.

Johann Gregor Breuers Beitrag zur Lösung der sozialen Frage war ein wichtiges, wenn nicht sogar entscheidendes Moment für Adolph Kolpings Engagement.

Johann Gregor Breuer gründete schon in jungen Jahren seinen ersten Verein.

Pädagoge mit Ambitionen

Die Lohmarer Einrichtung dient dazu, junge Männer mit Volksschulabschluss für ihren späteren Wechsel ins Lehrerseminar zu befähigen. Breuer ist knapp 16, als er dort eintritt. Die Weichen in Richtung Wuppertal werden durch Kaplan Max Reimacher in Lohmar gestellt; dessen Vater ist an der Mädchenschule Elberfeld als Lehrer tätig. Auf Vermittlung Reimachers kommt Breuer als Hilfslehrer nach Elberfeld. Die Begegnung mit dem dortigen Pfarrer Franz Oberrhe wird prägend für Breuer. Der junge Hilfslehrer erlebt einen betagten Geistlichen mit einer ausgeprägten sozialen Ader. Der Pfarrer hilft, wo er kann, bisweilen auch aus der eigenen Tasche, wenn es um die Finanzierung des Schulgeldes für Bedürftige geht. Nach dem erfolgreichen Besuch des Lehrerseminars in Kempen kehrt Breuer im April 1844 an die Wupper zurück. Kurze Zeit ist er als Privatlehrer tätig, dann wechselt er als Lehrer an die Mädchenschule in Elberfeld. Bereits ein Jahr später, im Alter von knapp 24, avanciert Johann Gregor Breuer formal zum Schulleiter. Der Umstand ist allerdings tragisch, sein Vorgänger stirbt 28-jährig. 

Ein Lehrer, selbst ein Schulleiter gehört in der Mitte des 19. Jahrhunderts keinesfalls zu den materiell Privilegierten. Zwar ergänzen freie Kost und Logis die eigentliche Bezahlung. Vom eigenen Lohn aber hat ein Schulleiter wie Breuer diverse Sozialleistungen, etwa für pensionierte Lehrkräfte oder Hilfslehrer zu bestreiten, weshalb vom Jahressalär in Höhe von 1.000 Talern nur gut die Hälfte übrigbleibt. Damit sind keine großen Sprünge zu machen. Die Erfahrungen aus der eigenen Jugend und das Erleben eines durchaus beschränkten finanziellen Umfelds auch in seiner Tätigkeit als Lehrer erklären, weshalb Breuer bereits bald nach seiner zweiten Ankunft in Elberfeld sich Überlegungen widmet, wie durch Vereinsgründungen auf dem Gebiet der Sozialfürsorge etwas verbessert werden könnte. Diese Aktivitäten beobachtet die Elberfelder Bevölkerung teils mit Anerkennung, teils mit leicht hämischem Spott. Schon bald trägt Johann Gregor Breuer im Industriezentrum an der Wupper einen inoffiziellen Spitznamen:

Der Generalgründer

Nach dem Krankenverein ist die „Gesellschaft Parlament“ chronologisch die erste Vereinsgründung Breuers in Elberfeld, 1845. „Bürgersinn, Unterhaltung und Geselligkeit im menschlichen Miteinander auf christlicher Grundlage“, so konzipiert Breuer die Zielsetzung des Vereins – aus heutiger Sicht fast ein früher Vorläufer der Service-Clubs. Allerdings führen die aufpeitschenden politischen Auseinandersetzungen der späten 1840er Jahre, verbunden mit der Verarmung breiter Kreise zu einem deutlichen Mitgliederrückgang. Breuer verhindert die Auflösung dadurch, indem er die Restmitglieder gewinnt, sich für den Bau eines Krankenhauses stark zu machen, den er selbst ab 1849 mit der Gründung des Hospitalvereins begleitet und der 1855 letztlich die Einweihung des St. Josefs-Hospitals folgt. Die „Gesellschaft Parlament“, deren Charakter Breuers Biograph Fritz Jorde mit den Worten „zur Wahrung gemeinsamer Interessen und zur gegenseitigen Aneiferung im katholischen Glauben und Leben“ beschreibt, ist dabei auch als Reaktion auf das Aufkommen des so genannten Deutsch-Katholizismus zu sehen. Unter Anführung des schlesischen Geistlichen Johannes Ronge protestiert diese Bewegung gegen den Primat des Papsttums, gegen Zölibat und Beichte.

Ebenfalls 1845 gründet Johann Gregor Breuer in Elberfeld einen katholischen Mädchenverein. Sind die Mädchen zu jener Zeit bei ihrer Schulentlassung etwa zwölf Jahre alt, sollen sie in dem Verein auf ihre spätere Rolle in Familie und Hausarbeit vorbereitet werden; parallel dazu ruft er ein Jahr später eine private Handarbeitsschule ins Leben. Auch der Jungfrauenverein, den Breuer 1847 auf den Weg bringt, widmet sich der Unterstützung bedürftiger Mädchen. 1871 kommt der „Frauen- und Mütterverein“ hinzu. Zeit seines Lebens ist Breuer ein großer Freund der Kirchenmusik. Schon 1846 baut er einen Jünglingschor auf, aus dem wenig später der Gesellenverein entstehen wird; der Mädchenverein fungiert auch als Mädchenchor und 1850 formiert sich auf seine Initiative hin der Kirchenchor „Cäcilia“.

Breuer verfolgt mit seinen Vereinsgründungen sowohl innerkirchlich als auch darüber hinaus sozialpolitische Ziele. Dafür steht exemplarisch der ab 1866 aufgebaute „Spar- und Darlehnsverein zum Hl. Josef“, den er über 16 Jahre hinweg selbst leitet und der als ein Vorläufer der heutigen Genossenschaftsbanken gilt. Darüber hinaus bilden sich auf seine Anregung hin Baufördervereine für die Kirchen Herz Jesu, St. Suitbertus und St. Marien in Elberfeld.

Von 1845 bis 1849 war Adolph Kolping Kaplan in St. Laurentius. Graffiti an der Kirchenmauer erzählen heute die Geschichte es heiligen Laurentius.

Wegbereiter für Adolph Kolping

Für das Kolpingwerk besonders interessant ist natürlich die Gründung des Gesellenvereins in Elberfeld. Ausgehend vom Jünglingschor gründet Johann Gregor Breuer im Herbst 1846 den Gesellenverein in Elberfeld, der wenig später in Jünglingsverein umbenannt wird, da unter seinen Mitgliedern auch solche sind, die sich noch nicht im Gesellenstand befinden. In einer umfassenden Denkschrift reflektiert er nebst Statut über Aufgaben und Ziele des Vereins; die heranwachsende Jugend solle „eine fortgesetzte sorgfältige Überwachung, fortbildende Unterweisung und freundliche Handleitung“ erfahren. Adolph Kolping wird 1849 bei seiner ersten Vereinsgründung in Köln darauf zurückgreifen. Folgt man Breuers Autobiographie, dann kommen Kolping und Breuer 1845/46 in Kontakt, als Kolping nach seiner Priesterweihe seine erste Stelle als zweiter Kaplan in Elberfeld antritt. 

Kolping ist begeistert von Breuers Idee und soll ihm die Worte „Da haben Sie aber ein Ding gemacht, daran hab‘ ich all mein Lebtag gefreit“ zugerufen haben. Nach dem Weggang des bisherigen Präses Steenaerts tritt Kolping 1847 an dessen Stelle. Die Wertschätzung zwischen Johann Gregor Breuer und Adolph Kolping ist mindestens zu diesem Zeitpunkt gegenseitig. Breuer äußert sich mehrfach anerkennend über das Charisma von Präses Kolping und die Art und Weise, wie er es verstehe, auf die jungen Männer zuzugehen. Dem folgt später der Hinweis, dass die Ehrentitel „Gesellenvater“ und „Vater Kolping“ auf seine, Breuers Anregung zurückgehen.

Am Lebensende und in der Erinnerung reflektiert Breuer sein Zusammenwirken mit Kolping völlig anders: Kolping habe ihn in Elberfeld zur Seite gedrängt und ihm die Gründung des Elberfelder Vereins streitig gemacht. Man muss zum Hintergrund wissen, dass sich schon zu Lebzeiten Kolpings die Meinung festsetzte, Kolping sei der Gründer in Elberfeld gewesen. Kolping selbst mag man ankreiden, er habe dem nicht entschieden genug widersprochen; der spätere Generalpräses Schäffer tut sich schwer mit dem Eingeständnis, dass Breuer die Urheberrechte bezogen auf den Elberfelder Gesellenverein zustehen. In die Geschichte des Kolpingwerkes ist dies als „Gründungsstreit“ eingegangen. Auch wenn die Kirchenanwälte im Zuge des Seligsprechungsverfahrens für Kolping über 100 Jahre später nach eingehender Untersuchung kein bewusstes Fehlverhalten des Gesellenvaters erkennen – der Gründer in Elberfeld ist Breuer und nicht Kolping. Gleichfalls gehört zur Wahrheit, dass die Gesellenvereine Kolpings in ihrer (inter-)nationalen Dimension, in ihrem Charakter als Hospitium und ihrem eigenverantwortlichen Auftrag an die Gesellen zwar auf dem Ansatz Breuers, den man heute als Jugendsozialarbeit bezeichnen würde, fußen, aber über ihn hinausgehen.
 

Elberfeld zu Lebzeiten Breuers und Kolpings

Breuer als Publizist und Politiker 

Würdigt man Breuer als Politiker, dann weniger im Sinne von Parteipolitik und Mandat, wohl aber als einen politischen Akteur. Er erkennt die Notwendigkeit, dass sich die Kirche publizistisch umtun muss und gründet 1858 das „Wupperthaler Kirchenblatt für Katholiken“. Er versucht, diesen Gedanken auch reichsweit zu transportieren, allerdings ohne Erfolg. Er veröffentlicht zahlreiche sozialpolitische Aufsätze in den „Christlich-sozialen Blättern“ und ist auch kirchenpolitisch präsent – bei der Versammlung christlich-sozialer Vereine 1868 in Krefeld und drei Jahre später bei der Generalversammlung katholischer Vereine in Mainz. Damit kann man ihm durchaus das Verdienst zusprechen, erstens die soziale Frage des 19. Jahrhunderts wesentlich früher als andere, nicht zuletzt früher als das Lehramt der Kirche erkannt zu haben, und zweitens im Rahmen seiner Möglichkeiten auch etwas zur Verbesserung beigetragen zu haben. Und: Es ist wiederum eine Vereinsgründung, die des Vereines „Eintracht“, die es ihm 1870 ermöglicht, einen Parteienstreit innerhalb der Elberfelder Katholiken beizulegen.

Johann Gregor Breuer bekommt mit Gertrud Kesseler, die er 1847 heiratet, sieben Kinder; fünf davon sterben früh. Um ihn selbst wird es nach seiner Pensionierung 1881 ruhig, er zieht sich zu seinem Sohn nach Höchst zurück. Auf einer Genesungsreise nach San Remo verstirbt Breuer und wird unter großer Anteilnahme 1897 in Elberfeld beigesetzt.
Die Sozialgeschichte dort als einer der deutschen Brennpunkte der industriellen Revolution wäre ohne sein Engagement anders und mit Sicherheit prekärer verlaufen. Man möchte Generalpräses Heinrich Fischer folgen, wenn dieser 1963 feststellt, dass Johann Gregor Breuer „einen gewichtigen und eigenständigen Beitrag zur Lösung der sozialen Frage in der Mitte des 19. Jahrhunderts geleistet“ habe, wenn man anfügt, dass dieser Beitrag für Adolph Kolping, sein Wirken als Kaplan und Präses in Elberfeld und sein späteres Engagement als Gründer des Kölner Gesellenvereins und Stifter eines weltweiten Verbandes, das wir heute als Kolpingwerk kennen, ein wichtiges, wenn nicht sogar das entscheidende Moment gewesen ist.

Elberfeld zu Lebzeiten Breuers und Kolping

Fotos: Georg Wahl, Archiv Kolpingwerk Deutschland