Ausgabe 4-2021 : Oktober

Hilfe, die ankommt

Von einem auf den anderen Tag haben viele Menschen ihre gesamte Habe verloren, einige sogar ihr Leben. So sieht es vier Wochen nach der Flutkatastrophe bei betroffenen Kolpingsfamilien im Ahrtal aus.

Anmutig schlängelt sich die Ahr durch ihr Tal. Weinberge säumen den Flusslauf, an dem der Ort Dernau liegt. Dieser idyllische Eindruck täuscht so gewaltig, dass einem bei genauerem Hinsehen schwindelig wird. Denn in den Häuserreihen an der Ahr klaffen Lücken, und wo es grün sein sollte, sind große braune Flächen sichtbar. Überall ist Baulärm zu hören.

Vier Wochen nach der Flutkatastrophe besucht Julia Semmling, Geschäftsführerin des Kolping-Diözesanverbandes (DV) Trier, Dernau im Ahrtal. Sie möchte sich ein Bild von der Situation vor Ort machen und den Menschen zuhören, um zu erfahren, welche Hilfe sie hier benötigen. Denn zurzeit kommen permanent Mails, Telefonanrufe und vor allem Spendengelder von Kolpingsfamilien aus ganz Deutschland und sogar aus dem Ausland bei ihr an. Alle möchten einen Beitrag zum Wiederaufbau leisten, und Julia Semmling hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Hilfsangebote zu koordinieren.

Julia Semmling, Diözesangeschäftsführerin im DV Trier

Treffpunkt ist das Haus von Familie Bertram. Edgar Bertram ist Vorsitzender der Kolpingsfamilie Dernau. Sein Haus liegt weiter oben am Hang, und es wurde daher nur am Rande von der Flutwelle getroffen, die mit unglaublicher Kraft am 14. Juli eine Schneise der Verwüstung durch das Ahrtal riss. Familie Bertram bietet seitdem Schlafmöglichkeiten für Familie, Freunde und freiwillige Helfende an, die ihren Urlaub storniert haben und nun in Dernau mit anpacken. Als Julia Semmling ankommt, sitzt das Ehepaar Bertram mit seinen Gästen noch am Frühstückstisch beisammen. Die Erschöpfung ist allen anzusehen. Geschichten werden erzählt, von der steigenden Flut, der Angst, von Rettungsaktionen und von der Sorge um Familienangehörige, die lange nicht erreichbar waren, weil das Internet-, sowie das Fest- und das Mobilfunknetz zusammengebrochen waren. Immer wieder brechen die Stimmen. Immer wieder werden Tränen weggewischt. Es wird schnell klar, dass die Menschen hier traumatisiert sind. Immerhin starben allein in Dernau fünfzehn Menschen, davon drei durch Suizid.

Einige Gebäude in Dernau können nicht gerettet werden.

Aber dann sind da auch die vielen Geschichten über die unzähligen Menschen, die schon wenige Tage nach der Flut mit Traktoren, Werkzeug und Ausrüstung aus ganz Deutschland kamen, um zu helfen. „Da war diese Jugendhilfsorganisation aus Löhne“, berichtet Marie-Therese Bertram. „Die haben den verwüsteten Friedhof wieder in Ordnung gebracht, mit kleinen Schippen zwischen den Grabsteinen.“ Edgar Bertram fügt hinzu: „Und anschließend kamen Jugendliche aus Bielefeld und haben auf allen Gräbern Rosen verteilt.“

Die Schwägerin der Bertrams, Elke Kreiselmeyer, stellt fest: „Bei allem Schlimmen, was passiert ist, wird man ganz wach für das Bedürfnis der anderen. Und das ist es, was wirklich glücklich macht. Anderen Menschen zu helfen.“ Not, die Menschen zusammenbringt – das gibt Hoffnung. Benno Kastenholz, der geistliche Begleiter der Kolpingsfamilie, sagt: „Wenn in Zukunft irgendwo eine Katastrophe passiert, wir helfen auf jeden Fall! Wir denken jetzt in völlig anderen Dimensionen.“

Eine Umweltkatastrophe?

Auch Julia Semmling ist anzumerken, wie sehr sie diese Geschichten berühren. „Ich kam aus dem Urlaub und öffnete morgens um acht die erste E-Mail von einer Kolpingsfamilie aus dem Allgäu mit einem Hilfsangebot. Da dachte ich noch, Kolping bräuchte kein eigenes Spendenkonto. Drei Stunden später war das erste Konto bereits eingerichtet.“ Denn es gibt viele engagierte
Kolpingsfamilien, die für die betroffenen Kolpingsfamilien vor Ort spenden wollen.

Ein Wirt zeigt Edgar Bertram, Benno Kastenholz und Julia Semmling seine zerstörte Weingaststätte in Dernau.
Bis die Häuser wieder bewohnbar sind, wird noch viel Zeit vergehen.
Die Zeichen der Solidarität sind überall sichtbar.
In Dernau sind viele Versorgungsfahrzeuge unterwegs.

Gemeinsam mit Edgar Bertram und Benno Kastenholz geht Julia Semmling durch das Dorf. Auf ihrem T-Shirt steht „Tatkraft“. Das Schlagwort aus der Kolping-Imagekampagne beschreibt die Situation und den Geist hier vor Ort sehr gut. Aus allen Richtungen ist der Lärm der Stemmhämmer zu hören, überall schaufeln Menschen den abgeschlagenen Putz aus offenen Fenstern auf die Straße. Die Luft ist erfüllt von Staub. Auch vier Wochen nach der Katastrophe hängt beißender Ölgestank in der Luft. Neben der Zerstörung ist die Kontamination der Böden ein großes Problem. „Das ist auch eine Umweltkatastrophe hier“, sagt Benno Kastenholz.

Den Häusern, die den Straßenrand säumen, sieht man ihre Schönheit noch an, auch wenn viele von ihnen mittlerweile entkernt sind. Und manche müssen wohl noch abgerissen werden, wenn die Gutachter, die heute und morgen hier unterwegs sind, zu dem Schluss kommen, dass sie einsturzgefährdet sind. Edgar Bertram steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Der 65-jährige, gestandene Winzer kann immer noch nicht fassen, was hier passiert ist. Im Dorf sind viele Trupps von freiwilligen und professionellen Helfern unterwegs.

Konkret und sinnvoll Hilfe leisten

Der Weg führt zu weiteren Kolpingmitgliedern: Doris und Stefan Kalt. Die beiden haben einen Malerbetrieb, den die Flut schwer getroffen hat. Die Räume gleichen jetzt Rohbauten, und der Garten sieht aus wie eine Baustelle. Während Julia Semmling sich mit den beiden unterhält, erklärt Manfred Sebastian, ein befreundeter Elektriker und ebenfalls Kolpingmitglied, dass die alten Steckdosen und Lichtschalter wegen Kurzschlussgefahr durch Korrosion nicht mehr benutzt werden können. Julia Semmling greift das auf als eine Möglichkeit, konkret und sinnvoll Hilfe zu leisten. „So langsam bekomme ich ein Bild“, sagt sie. „Die Hilfe müssen wir mit den Kolpingsfamilien vor Ort abstimmen. Wir müssen genau wissen, wer was braucht.“ Die Nachricht des Dernauer Bürgermeisters und Kolpingmitglieds Alfred Sebastian, macht Hoffnung: 80 Prozent der Kosten zur Beseitigung der Schäden würden aufgefangen. So sei wenigstens die finanzielle Existenz vieler Bürger halbwegs gesichert, auch wenn sie keine Elementarversicherung haben.

„Das Wasser stieg zwischen vier und fünf Metern in viereinhalb Stunden.“
Stefan Kalt

Und dann beschreibt Stefan Kalt sehr eindrücklich, mit welcher Geschwindigkeit das Hochwasser gestiegen ist: zwischen vier und fünf Metern in viereinhalb Stunden. „Bei einem Stand von acht Metern wurde der Pegelmesser zerstört.“ Seitdem gab es drei Wochen lang kein Brauchwasser und dreieinhalb Wochen keinen Strom. Bis heute wurde viel belasteter Schlamm aus den Häusern geschippt, Böden wurden herausgerissen und Häuser wurden entkernt. Das alles mit Hilfe der vielen Freiwilligen. Diese Arbeit ist bald beendet. „Dann ist bis Februar erstmal Sanieren und Trocknen angesagt“, erklärt Stefan Kalt. Mit Sorge erwarten die Menschen den Herbst und Winter. „Bis dahin müssen die Heizungen repariert und die Warmwasserversorgung gesichert sein“, sagt Manfred Sebastian und spricht damit ein Kernproblem an. Denn es müssen so viele Häuser in Stand gesetzt werden, dass Handwerker knapp sind.

Julia Semmling und Edgar Bertram überlegen mit Stefan Kalt, wie sinnvolle Hilfe geleistet werden kann.

In Sinzig

Von Dernau aus fährt Julia Semmling 17 Kilometer flussaufwärts nach Sinzig. Der Weg entlang der Ahr ist schockierend. Die Straße existiert nur noch in Teilen, die Brücken über den kleinen Fluss sind zerstört. Oft stehen die Häuser nur zur Hälfte und offenbaren Einblicke in das Privatleben der ehemaligen Bewohner. So sieht man z. B. Bademäntel und Schlafanzüge an Türen hängen, nur dass die Räume vor diesen Türen fehlen. Und die Eisenbahnschienen zwischen Straße und Flusslauf wirken, als hätte ein riesenhaftes Kind achtlos seine Spielzeugeisenbahn auf die Schienen fallengelassen.

In Begleitung von Diakon Bernd Schmickler, dem Präses der Kolpingsfamilie Sinzig, trifft Julia Semmling Kolpingschwester Marion Wendt. Sie wohnt mit ihrer Schwester 150 Meter von der Ahr entfernt, und ihr Haus ist schwer von der Flut getroffen. Bernd Schmickler ist seit vielen Jahren ein enger Freund von ihr. Er stand ihr bei, als ihr erster Mann sich von ihr trennte, und begleitete ihren zweiten Mann, als dieser starb. Jetzt ist er da und steht ihr auch bei diesem neuen Schicksalsschlag bei.

Marion Wendts Wohnzimmer gleicht einem Rohbau, aber sie ist entschlossen alles wieder aufzubauen.

In der Nacht der Katastrophe ging Marion Wendt immer wieder an die Ahr, um zu schauen, wie hoch der Fluss stieg. „Das Geräusch der brechenden Bäume werde ich nie vergessen.“ Trotzdem fühlte sie sich sicher, weil sie dachte, die Böschung würde halten. Am späten Abend kam aber die Feuerwehr und verkündete, sie und ihre Schwester müssten innerhalb von zehn Minuten das Haus verlassen. Der nächste Morgen war ein Schock. Alles voller Schlamm, keine Möbel mehr an ihrem Platz. „Nach zwei Tagen Weinen, musste ich mich entscheiden, was ich will. Und dann war mir klar, ich will das wieder aufbauen.“ Das meiste aus dem Erdgeschoß musste weggeworfen werden: Möbel, Küchenutensilien, Bilder. Die Fußbodenheizung musste raus, und sie musste den Putz von den Wänden schlagen. Aber auch sie hatte Hilfe – von der Familie, von Freunden und von Fremden, z. B. von einer Gruppe syrischer Flüchtlinge, die wie so viele andere als freiwillige Helfer angepackt haben, weil sie dem Land, das ihnen so geholfen hat, etwas zurückgeben wollten. Jetzt ist ihr klar: „Wenn das hier überstanden ist, möchte ich auch anderen helfen und etwas zurückgeben.“

Zerstörung in Ahrweiler

Die letzte Station für Julia Semmling heute ist Ahrweiler. Sie trifft Heike Schabo und ihren vierzehnjährigen Sohn Luca vor dem Adenbachtor, dem nordwestlich gelegenen Zugang in der Stadtmauer von Ahrweiler. Heike Schabo führt Julia Semmling durch den mittelalterlichen Stadtkern. Die Straßen und Gassen mit den romantischen Häusern sind eigentlich malerisch schön. Umso schmerzhafter ist die Zerstörung, die die Flut angerichtet hat.

Die Verfärbungen an den Fassaden zeigen, wie hoch das Wasser gestanden hat. Ladenlokale sind zerstört; in vielen Häusern hatten Wasser und der Schlamm die erste Etage erreicht. Schlimmer sind allerdings die fast 80 Todesopfer, die Bad Neuenahr-Ahrweiler zu beklagen hat. Heike Schabo ist Mitglied im sechsköpfigen Vorstand der Kolpingsfamilie Ahrweiler. Das Haus der Familie Schabo war nicht vom Hochwasser betroffen, aber „wir haben, wie viele andere auch, unseren Urlaub abgesagt, um hier zu helfen“, sagt Heike Schabo.

Das Wasser stieg im Juli bis zum Dach dieses Hauses.

Vergesst uns nicht!

Am anderen Ende der Stadt liegt das Ahrtor. Je näher man dem kommt, desto größer ist die Zerstörung. Außerhalb der Stadtmauer wird Müll und Schutt gesammelt. Autos liegen übereinandergestapelt, und entwurzelte Bäume sind zu meterhohen Haufen aufgeschichtet. Ganz in der Nähe liegt auch der verwüstete Friedhof. Ein älterer Mann kniet vor einem Grab und säubert den Grabstein.

Luca, der Sohn von Heike Schabo, berichtet, dass auch seine Schule betroffen ist. Nach den Ferien wird er nachmittags zur Schule gehen. Im Schichtbetrieb wird in einem alten Kloster unterrichtet. Schön ist das nicht. Vor allem nach der Corona-Zeit haben sich alle nach Normalität gesehnt. Aber immerhin gehe es ihm gut. Luca erzählt, dass das bei seinen Freunden anders ist: „Denen merkt man das immer noch an. Wenn die über die Flut erzählen, müssen sie oft mal Pausen machen und schwer atmen und so.“

In Ahrweiler sind alle Geschäfte zerstört. Die Aufräumarbeiten sind auch vier Wochen nach der Flut nicht beendet.
Wie Ahrweiler in Zukunft aussehen wird, weiß heute noch niemand.
Heike Schabo erklärt Julia Semmling, wo die Versorgungsleitungen in der Ahr verliefen.

Heike Schabo zeigt auf die Rohrleitungen, die überall aus dem Wasser ragen. Alle Leitungen waren hier nebeneinander verlegt, Strom, Gas, Telefon. Die Gasleitung ist ab Neuenahr flussaufwärts komplett zerstört. Das neu zu legen, wird wohl noch ein Jahr dauern. Am Morgen hatte Benno Kastenholz an die Menschen in Deutschland appelliert: „Im Moment ist die Betroffenheit sehr groß, wenn man in die Republik schaut. Ich befürchte aber, dass das in drei Monaten vergessen ist und dann sind wir uns selbst überlassen. Ich möchte bitten: Vergesst uns nicht!“

Julia Semmling macht Mut: „Wenn ihr Hilfe braucht, müsst ihr das sagen. Kolping ist keine Nothilfeorganisation. Deshalb waren wir nicht als Erste vor Ort, aber wir werden noch da sein, wenn die engagierten Helfenden ihre Arbeit getan haben.“ Und es gibt sie ja, die vielen Kolpingsfamilien, die gerne helfen möchten und die darauf warten, dass jemand ihnen sagt, wie.

Die Hilfe für Flutopfer geht weiter

Wie die Reportage aus dem Katastrophengebiet zeigt, benötigen betroffene Kolpinggeschwister weiter Unterstützung. Die Diözesanverbände der betroffenen Regionen und einzelne Kolpingsfamilien haben Spendenkonten eingerichtet. Die Oberfinanzdirektionen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben die Sammlung von Spendengeldern durch Diözesanverbände und auch Kolpingsfamilien ohne Satzungsänderung genehmigt. Es reicht aus, wenn die wirtschaftliche Hilfsbedürftigkeit der Opfer glaubhaft gemacht wird, was bei Hilfen bis zu einem Wert von 5.000 Euro unterstellt wird. Den Spendern muss die Zuwendung unter Hinweis auf die Sonderaktion bestätigt werden.

Spendenmöglichkeiten
Diözesanverbände Trier, Köln, Aachen und Paderborn:

  • Kolpingwerk Diözesanverband Trier (www.kolping-trier.de):
    IBAN: DE95 3706 0193 3002 3130 21
    Stichwort „Flutkatastrophe“
  • Kolpingwerk Diözesanverband Köln (www.kolping-koeln.de):
    IBAN: DE77 3706 0193 0036 3840 18
    Verwendungszweck „Flutkatastrophe 2021“
  • Kolpingwerk Diözesanverband Aachen (www.kolping-ac.de):
    IBAN: DE05 3105 0000 0004 6015 06
    Verwendungszweck „Kolping Fluthilfe“

Kolpingsfamilie Düren

Kolpingwerk Diözesanverband Paderborn
(www.kolping-paderborn.de)
Hier gibt es drei Möglichkeiten, für die von der Flut betroffenen Menschen zu spenden:

  • Kolpingsfamilie Hagen-Boele und Umgebung e. V.
    IBAN: DE22 4506 0009 2002 2223 00
    Stichwort: Flutopfer
  • Kolpingwerk BV Wiedenbrück
    IBAN: DE48 4786 0125 0075 3838 02
    Kennwort: Flutkatastrophe
  • Verein Kolpinghaus Sundern/Sauerland e.V.
    IBAN: DE86 4666 0022 0010 3536 00
    Kennwort: Spende Hochwasserschaden

Text und Fotos: Barbara Bechtloff