Ausgabe 3-2021 : Juli

„Wir stehen als Kirche überall vor gewaltigen Herausforderungen"

Der Missbrauchsskandal hat die Machtstrukturen der Kirche erschüttert. Viele Gläubigen empfinden zudem eine Kluft zwischen faktischer Macht einerseits und dem Anspruch des Evangeliums sowie den Standards der pluralen Gesellschaft andererseits. Sie fordern mehr Partizipation. Doch wie frei ist die Kirche auf ihrem Weg der Erneuerung? Und gefährdet eine Erneuerung die Einheit der Kirche? Ein Gespräch mit dem Essener Bischof Franz-Josef Overbeck.

Seit 2009 ist Franz-Josef Overbeck Bischof von Essen.

In der Präambel zur Satzung des Synodalen Weges heißt es: „Als getaufte Frauen und Männer sind wir berufen, die ‚Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes‘ in Wort und Tat zu verkündigen, so dass Menschen die Frohe Botschaft in Freiheit hören und annehmen können. Wir wollen auf dem Synodalen Weg die Voraussetzungen dafür verbessern, dass wir diese Aufgabe glaubwürdig erfüllen können.“

Sätze mit Sprengkraft – wie der Synodale Weg insgesamt. Denn mit der Freiheit ist es in der verfassten Kirche nicht weit her. Die Angst, dass sich die Kirche an den Zeitgeist verlieren könne, hält viele Christinnen und Christen – auch im Episkopat und bei uns im Verband – davon ab, sich den Menschen mit all den Sorgen und Nöten in der heutigen Zeit zuzuwenden.

Welche Chancen hat also der Synodale Weg? Darüber sprach das Kolpingmagazin mit dem Essener Bischof Franz-Josef Overbeck, der zugleich Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen in der Deutschen Bischofskonferenz ist und vom Plenum des Synodalen Wegs zum Co-Vorsitzenden des Forums „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche“ gewählt wurde.

Zur Person

Dr. Franz-Josef Overbeck
Bischof von Essen

Biografie

  • 1964: geboren in Marl
  • 1983-1990: Studium der Theologie und Philosophie in Münster und Rom
  • 1989: Priesterweihe durch Joseph Kardinal Ratzinger
  • 1990: Kaplan in Haltern
  • 1994: Leiter im Deutschen Studenten­heim in Münster und Ernennung zum Domvikar
  • 2000: Promotion zum Dr. theol., Leiter des Instituts für Diakonat und pastorale Dienste im Bistum Münster
  • 2007: Bischofsweihe
  • 2008-2009: Diözesanadministrator des Bistums Münster
  • 2009: Ernennung zum Bischof von Essen
  • 2011: Katholischer Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr

Herr Bischof, Sie haben „die alte Zeit“ der Kirche für beendet erklärt und dafür geworben, mutig und frei über Fragen zu Priesterbild, Frauenamt und Sexualmoral nachzudenken. Doch Laien und Priester, die dies tun, riskieren Sanktionen. Wieviel Freiheit dürfen Christinnen und Christen heute in der Kirche wagen?

Im säkularen Zeitalter der westlichen Gegenwartskultur dienen das Christentum und die Kirche so gut wie kaum mehr als legitimatorische Stütze einer Gesellschaft, in der sich die Bedingungen des Glaubens fundamental gewandelt haben. Einige betrachten den Verlust alter, vormoderner ‚Selbstverständlichkeiten‘ als große Bedrohung und versuchen, dieser Entwicklung mit Forderungen nach Gehorsam und der Androhung von Sanktionen entgegenzusteuern. Aus meiner Sicht sprechen zwei zentrale Gründe gegen diesen Weg. Zum einen wollen die meisten Gläubigen heute zurecht gute Argumente hören, die für oder gegen eine bestimmte Position sprechen. Dafür brauchen wir in der Kirche eine angstfreie Diskussionskultur, in der offen über alle aktuellen Themen gesprochen und gestritten werden kann. Zum anderen ist es auch gefährlich, in Denkmustern verhaftet zu bleiben, die Freiheit und Autorität als Gegensätze beschreiben. Jede Autorität, die Freiheit fürchtet und unterdrückt, ist toxisch.

Das demokratische Gemeinwesen gewährt den Bürgern umfangreiche Freiheitsrechte. Die Kirche als öffentlich-rechtliche Institution erlässt gleichzeitig Vorschriften, die Freiheiten – etwa die der Berufswahl, der Entfaltung der Persönlichkeit oder den Schutz vor Diskriminierung – einschränken. Wieviel Freiheit verträgt die katholische Kirche?

Ich bin der festen Überzeugung, dass Freiheit zum Wesenskern der katholischen Kirche gehört. Frei zu sein bedeutet aber nicht, nicht auch auf vielfältige Weise an die Befolgung von Vorschriften und Gesetzen gebunden zu sein, die erst ein gutes und funktionierendes gesellschaftliches Miteinander ermöglichen. Freiheit ist etwas anderes als Beliebigkeit und lebensweltlich immer begrenzt. Daraus ergeben sich in meinem Augen klare Kriterien, die für die Bewertung von Vorschriften, die Freiheit einschränken, angeführt werden können: Wenn Vorschriften nicht mehr dazu dienen, die Gemeinschaft von Menschen zu ermöglichen und zu regeln oder aber gegen unveräußerliche Freiheitsrechte verstoßen, müssen sie überarbeitet werden.

Frieden, Dialog suchen, Gemeinsamkeiten finden: Diese Worte wurden 2018 bei der Aktion „Dona nobis pacem“ auf die Fassade des Kölner Doms projiziert. Damals ging es um das Ende des Ersten Weltkriegs.

Freiheit kor­respondiert immer auch mit einer besonderen Verantwortung – für sich selbst und für die Gemeinschaft. Wo sehen Sie Grenzen für eine freie Glaubensentfaltung in der Kirche?

Die Grenzen liegen genau dort, wo Menschen diese besondere Verantwortung nicht akzeptieren, die sie mit ihrer Freiheit auch für andere Menschen tragen. In Artikel 4 unseres Grundgesetzes steht, dass die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletzlich sind. Das ist für jeden einzelnen ein entscheidendes Grundrecht. Es ist verboten, andere Menschen in Glaubens- und Ge­wissens­­fragen gegen ihren Willen zu einer Ansicht zu zwingen. Freie Glaubensentfaltung kann deshalb im Umkehrschluss auch nicht bedeuten, eigene Glaubensvorstellungen in der Kirche als Normen zu verstehen, die für alle Gültigkeit haben müssen. Als katholische Christen haben wir ein Glaubens­bekenntnis, das für unsere Glaubensgemeinschaft eine verbindliche Orientierung bietet.

Unter den Delegierten des Synodalen Wegs gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen über die Richtung, in der die Kirche ihren Glauben entfalten soll. Wie beurteilen Sie die Chancen für einen einmütigen Abschluss des Synodalen Weges?

Wir stehen als Kirche gegenwärtig überall vor gewaltigen Herausforderungen, die es glaubhaft zu bewältigen gilt. Die Diskussion über Themen, die die Gläubigen in Deutschland bewegen, wird derzeit offen geführt, was sich auch auf dem Synodalen Weg widerspiegelt. Diese Offenheit bringt es mit sich, dass kontroverse Themen so verhandelt werden, dass viele unterschiedliche Standpunkte vertreten und zu hören sind. Vor diesem Hintergrund kann in der Öffentlichkeit vielleicht der Eindruck entstehen, dass einzelne Wortmeldungen und Beiträge, die manchmal sehr fordernd oder abwehrend erscheinen mögen, das Meinungsbild des gesamten Synodalen Weges prägen. Das ist aber nicht der Fall, was sich auch ganz klar und deutlich anhand der bisherigen Arbeitsergebnisse belegen lässt. Alle Teilnehmer tragen eine hohe Verantwortung, die darin besteht, als katholische Christen für das Gelingen des Synodalen Weges nach Kräften Sorge zu tragen. Ich würde hier von einer inneren Verpflichtung sprechen, die darin besteht, einen Weg zu beschreiten, der der Kirche entspricht und in die Zukunft weist.

Die Gefahr, dass der Synodale Weg scheitert, ist groß. Wenn sich die Synodalen nicht einigen können: Was bedeutet das für die Kirche in Deutschland?

Ich trete mit all meiner Kraft und viel Zeit für ein Gelingen des Synodalen Weges ein und blicke optimistischer in die Zukunft. Darum teile ich Ihre Einschätzung nicht und mache mir auch keine Gedanken über einen Fall, der aus meiner Sicht nicht eintreten wird.

„Auch ich bin der festen Überzeugung, dass die Entwicklung eines Verständnisses dafür, was die Menschen vor Ort bewegt und was sie brauchen, die Grundlage für gute Seelsorge ist."
Franz-Josef Overbeck

Papst Franziskus hat der gesamten Weltkirche einen synodalen Prozess verordnet. Es ist kaum damit zu rechnen, dass die Beratungen zu einheitlichen Ergebnissen führen werden. Wie will die Kirche ihre Einheit bewahren?

Sowohl die Gesamtkirche, als auch die Ortskirche ist wesentlich durch das Miteinander von Vielheit und Einheit geprägt. Papst Franziskus macht dies immer wieder deutlich. Darauf baut seine Grund­these von einer „heilsamen Dezentralisierung“ auf. Diese Differenzierung kennzeichnet keinen Gegensatz, sondern wird den vielfältigen Lebensrealitäten der Gläubigen gerecht, die sich weltweit unterschiedlich darstellen. Auch ich bin der festen Überzeugung, dass die Entwicklung eines Verständnisses dafür, was die Menschen vor Ort bewegt und was sie brauchen, die Grundlage für gute Seelsorge ist. Mir ist dabei sehr bewusst, dass Vielheit nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden und dass die Einheit niemals aus dem Blick geraten darf.

Seitdem die Kirche auf dem letzten Konzil vor 56 Jahren eine Öffnung für die Fragen der Zeit wagte, haben sich fundamentale Veränderungen vollzogen. Und die Welt wird sich auch nach der von Papst Franziskus für Oktober 2023 geplanten Bischofssynode in Rom wandeln. Wenn die Kirche im ständigen Dialog mit den Menschen bleiben will, müssen dann nicht dauerhafte synodale Strukturen geschaffen werden?

Diese Frage wird gegenwärtig auch im Synodalforum I „Macht- und Gewaltenteilung in der Kirche“, das ich gemeinsam mit Frau Dr. Lücking-Michel leite, intensiv diskutiert. Es werden Vorschläge für die Etablierung dauerhafter synodaler Strukturen vorbereitet, die theologisch tragfähig sein müssen und im Einklang mit der Tradition unserer Kirche stehen. Sie ist eine synodale Kirche und eine Kirche, die vom Amt bestimmt ist.

Die Kirche ist längst nicht mehr in allen Fragen von Wissenschaft und Kultur auf der Höhe der Zeit. Bei aktuellen pastoralen Fragestellungen wird ein tieferes humanwissenschaftliches Verständnis angemahnt. Wie kann die Kirche wieder Anschluss an den gesellschaftlichen Diskurs finden?

Die Frage, ob kirchliche Positionsbestimmungen öffentlich Relevanz entfalten und allgemein eher als Bereicherung einer pluralen Diskurslandschaft wahrgenommen werden, ist alles andere als trivial. Ein offener Dialog mit Human-, Gesellschafts- und Naturwissenschaften, mit zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren, mit einer kritischen inner- und außerkirchlichen Öffentlichkeit setzt deshalb ganz basal voraus, dass man die eigene Position auch als bereicherungsfähig versteht. Kirche wird zu einer lernenden Organisation, wenn sie dazu bereit ist, begründete Infragestellungen als etwas Positives und Weiterführendes zu begreifen, und wenn sie als Institution den Widerstreit diskursiv und konstruktiv im Inneren kultiviert. Denn im Dienst am Zeugnis der Christusnachfolge sind gute, vernunftbasierte Gründe gefragt, die sich argumentativ nachvollziehen lassen.

Lieber Herr Bischof, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.

Fotos: picture alliance/dpa - Rolf Vennenbernd, Nicole Cronauge/Bistum Essen