Ausgabe 2-2021 : Mai

Das Erbe des Wasserdoktors

Schon zu Lebzeiten war Sebastian Kneipp ein Publikumsmagnet. Auch heute noch strömen die Anhänger seiner Wassertherapie in die Stadt, die er weltweit bekanntgemacht hat. Ausgerechnet sein 200. Geburtstag muss dort nun aber deutlich kleiner ausfallen als geplant.

Sebastian Kneipp ist in Bad Wörishofen allgegenwärtig.

Von hier aus hat er alles im Blick. Ungefähr schulterhoch ist der aus Muschelkalk gefertigte Sockel, der Sebastian Kneipp eine ideale Aussicht auf die Fußgängerzone Bad Wörishofens bietet – beziehungsweise seinem kupfernen Abbild. Direkt vor dem 1903 enthüllten Denkmal plätschern die Wasserspiele des großen halbkreisförmigen Brunnens. Ähnliche Varianten sind in deutschen Fußgängerzonen wahrscheinlich ebenso oft zu finden wie Statuen berühmter Söhne und Töchter der jeweiligen Stadt. Allerdings sind sie in der Kombination wohl nirgends so passend wie in der mit 17.000 Einwohnern größten Stadt des Unterallgäus. Immerhin war es die nach Pfarrer Kneipp benannte Wasserkur, die Wörishofen nicht nur den Beinamen „Bad“ einbrachte, sondern auch weltbekannt machte.

„Wenn er nicht hierhergekommen wäre, wäre Wörishofen heute nur ein kleiner Marktflecken“, ist sich Thomas Dressel sicher. „Es gab damals im Grunde nur die Hauptstraße und ein, zwei Seitenstraßen mit Gehöften. Aber das war es dann auch schon.“ Vergrößert habe sich die Stadt erst, als wegen Kneipps Wasserheilkunde immer mehr Menschen kamen und Übernachtungen brauchten. Kurzerhand stellten zahlreiche Bürger ihre Zimmer zur Verfügung. Eine lukrative Idee, wie sich herausstellen sollte. „Innerhalb von 50 Jahren ist da unglaublich viel gebaut worden. Der Aufstieg war von den Ausmaßen her gewaltig.“ Inzwischen zählt Wörishofen 115 Hotels. Das etwa 80 Kilometer westlich gelegene München hat zwar etwa viermal so viele, allerdings auch 93-mal so viele Einwohner wie der vergleichsweise winzige Kneippkurort.

Thomas Dressel – kurze graue Haare, Brille, olivgrüne Jacke, dunkelblaue Jeans – ist zwar nicht in Wörishofen geboren, aber hier aufgewachsen. Seit 27 Jahren leitet er die örtliche Kolpingsfamilie, ist seit knapp der Hälfte seiner Amtszeit zugleich deren Geistlicher Begleiter und hat sich nicht nur wegen seines Berufs als Religionspädagoge intensiv mit dem Leben Sebastian Kneipps auseinandergesetzt. „An ihm kommt man hier gar nicht erst vorbei“, sagt der 59-Jährige und lacht. Das fange schon in der Schule an, in der Kinder beim Heimat- und Sachkunde-Unterricht automatisch mit dem auch als „Wasserdoktor“ bekannten Priester konfrontiert werden. „Man wächst einfach mit Kneipp auf.“

Seit 27 Jahren leitet Thomas Dressel (rechts) die 200 Mitglieder zählende Kolpingsfamilie Bad Wörishofen. Bei der kommenden Wahl will er den Vorsitz jedoch abgeben.

Auch Sebastian Kneipp ist nicht in dem Ort geboren, den er nachhaltig prägen sollte. Erst 1855 kam er als Geistlicher nach Wörishofen – 34 Jahre nachdem er im knapp 40 Kilometer entfernten Stephansried am 17. Mai 1821 auf die Welt kam, also vor nun bald 200 Jahren. Die Verhältnisse, in denen er aufwuchs, dürften mit ärmlich noch ziemlich freundlich umschrieben sein: Seine Eltern besaßen einen kleinen Hof, der aber nicht für den Lebensunterhalt ausreichte. Das nötige Zubrot versuchte Kneipps Vater Xaver als Weber zu verdienen, war dabei aber oftmals auf die Unterstützung seines damals elfjährigen Sohnes angewiesen. Wie in der Frühphase der Industrialisierung üblich, stand der Webstuhl im Keller. „Die waren damals leider feucht und kalt, weshalb Sebastian Kneipp schon seit seiner Jugend lungenkrank und sehr schwächlich war“, weiß Dressel.

Kneipps Zeugnisse lassen darauf schließen, dass er ein guter Schüler war. Womöglich auch, weil „Baschtl“, wie er als Kind genannt wurde, schon früh wusste, wofür er lernt: um Priester zu werden. „Aber in diesem Umfeld war das zu jener Zeit einfach nicht vorgesehen“, erzählt Dressel. „Das hätte viel zu viel Geld gekostet.“ Ein Argument, von dem sich Kneipp nicht aufhalten lassen wollte. 70 Gulden sparte er durch Nebentätigkeiten an, um doch das Gymnasium besuchen zu können. Geld, das Kneipp auf tragische Weise verlieren sollte: An seinem 21. Geburtstag brannte das Haus der Eltern nieder – und mit diesem das gesamte Ersparte. Enttäuscht verließ er seinen Heimatort, um als Knecht zu arbeiten.

Ob durch die gleichnamigen Anwendungen, ein Museum oder eine Apotheke: Sebastian Kneipp ist in Bad Wörishofen allgegenwärtig.

Dass er seinen Priesterwunsch dennoch nicht aufgeben musste, verdankte Kneipp dem Kaplan Matthias Merkle, der ihm Latein beibrachte, um ihn so aufs Gymnasium vorzubereiten. „Es ist schon beeindruckend, dass er mit 23 Jahren dann noch einmal die Schulbank gedrückt hat“, findet Dressel. Fleiß, der sich auszahlt. Kneipp darf endlich in München Theologie studieren. Dafür pendelt er zwischen der Metropole und Dillingen, wo er zuvor die königliche Studienanstalt besucht hatte.

Schon zu dieser Zeit leidet Kneipp massiv unter seiner Lungen­erkrankung, die die Ärzte schließlich als „Lungenkatarrh“ diagnostizieren – heute besser bekannt als Tuberkulose. Große Hoffnungen, ihn zu heilen, sollen sich die Mediziner nicht ausgerechnet haben. Viel zu verlieren hatte Kneipp demnach nicht, als er ein Buch in die Hände bekommt, das sein Leben gleich auf mehrfache Weise verändern soll: „Unterricht von Krafft und Würckung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen“ – geschrieben vom Mediziner und Philosophen Johann Siegemund Hahn, dem Mitbegründer der Wasserheilkunde.

Großer Andrang

Der Legende nach war Hahns Buch aber nicht Kneipps erste Berührung mit der Heilkraft des Wassers. In Bad Wörishofen führen Schulkinder schon seit Jahrzehnten an Kneipps Leben orientierte Theaterstücke oder Singspiele auf. Thomas Dressel schlüpfte als Fünft­klässler in die Rolle des jungen Sebastian Kneipp, der auf einer Weide beobachtet, wie eine Kuh mit einem verstauchten Fuß ins kalte Wasser springt. „Als sie wieder herauskam, konnte sie schon wieder viel besser laufen“, erinnert er sich an das Theaterstück. Ob es nun nur Hahns Buch war oder zusätzlich eine Kindheitserinnerung: Kneipp heilte seine Tuberkulose durch Tauchbäder in der eiskalten Donau, verfeinerte anschließend die Kalte-Bäder-Therapie und wendete sie auch bei Kommilitonen an.

Dass ihn die Kirche schließlich als Beichtvater der Dominikanerinnen ans Wörishofener Kloster schickte, lag vor allem daran, dass er als Kaplan weitere Erfahrungen mit seinen Anwendungen sammelte. „Als im Schwäbischen die Cholera ausbrach, hatte er offenbar auch Heilungserfolge bei Choleraerkrankten“, erzählt Dressel. Erfolge, die Kneipp allerdings viel Kritik von Ärzten und Apothekern einbrachte, weil er keine medizinische Ausbildung, aber trotzdem Erfolg und Zulauf hatte. „Man hat ihn den Cholera-Kaplan genannt, was ihm große Schwierigkeiten eingebracht hat.“ Der Grund: Die Kirche versuchte nach der Säkularisation gerade wieder ihren alten Stand in der Gesellschaft zurückzuerobern. Schlechte Stimmung passte ihr da gar nicht ins Konzept.

25 Jahre lang blieb Kneipp Beichtvater der Nonnen. Er machte das Kloster in dieser Zeit wirtschaftlich wieder flott, unterstützte den örtlichen Pfarrer und entwickelte die Wasserheilkunde zu einer ganzheitlichen Naturheilkunde weiter. Er definierte dafür fünf Säulen: Zur Heilkraft des Wassers kamen nun Heilpflanzenanwendungen, eine gesunde Ernährung, Bewegung und die sogenannte Ordnung hinzu – womit Kneipp einen ausgeglichene Seele meinte.

Als der örtliche Pfarrer starb, bedrängten die Wörishofener Kneipp, er möge doch die Pfarrei übernehmen. Beichtvater im Kloster blieb der zu diesem Zeitpunkt schon 59-Jährige trotzdem. Möglich war das, weil ihn in der alltäglichen Gemeindearbeit teilweise bis zu drei Kapläne gleichzeitig unterstützen. „Er hat sich dann auf seine Tätigkeit als Wasserdoktor konzentriert“, weiß Kneipp-Kenner Dressel. Was in erster Linie hieß: Patienten behandeln und Bauten wie zum Beispiel Badehäuser planen. Bis zu 300 Kranke soll er zeitweise pro Tag untersucht haben. Reichten Wickel oder Blitzguss nicht aus, zog er bei schweren Erkrankungen lieber Fachärzte hinzu. Erneut gab es immer wieder auch Kritik, was dazu führte, dass Kneipp mehrmals wegen Kurpfuscherei angezeigt wurde. Am großen Andrang änderte das nichts, Kneipps Anhänger kamen trotzdem. Aus nahezu allen Teilen der Welt. Bis November 1890 reisten mehr als 5.000 Gäste an.

"Ich gehe davon aus, dass Adolph Kolping von Sebastian Kneipp nichts gewusst hat. Aber ich glaube, dass Kneipp von Kolping sehr wohl etwas wusste – zumindest von der Idee der Gesellenvereine.“
Thomas Dressel

Geld nahm Kneipp für seine Kuren offiziell nicht. Um nicht als Kurpfuscher verurteilt zu werden, stellte er keine finanziellen Forderungen und erst recht keine Rechnungen aus. „Allerdings haben sich die Wohlhabenden mit teilweise beachtlichen Spenden bedankt, sodass in Kneipps Talartasche oftmals eine beträchtliche Summe schlummerte“, sagt Dressel. Genug Kapital für seine Bauvorhaben hatte er also dennoch – was aber auch an seinen publizistischen Erfolgen lag. Beliebt war nicht nur sein Buch über Bienen, sondern vor allem der Bestseller „Meine Wasserkur“. Schon nach ein paar Jahren erreichte das Werk 63 Auflagen und wurde in 14 Sprachen übersetzt.

Erfolgreich publiziert, eine Lehre gemacht, spät studiert und dann noch Priester geworden? Selbst wer sich nur bedingt mit der Biographie Adolph Kolpings auskennt, dürfte an dieser Stelle hellhörig werden. „Es gibt tatsächlich einige Parallelen zwischen Kneipp und dem sieben Jahre älteren Kolping“, sagt Thomas Dressel. „Die Gemeinsamkeiten sind teilweise frappierend.“ Dass beide von einem Kaplan gefördert wurden, um das Gymnasium nachholen zu können, müsse für beide ein unglaublicher Glücksfall gewesen sein. Zudem haben beide einige Semester in München studiert und beide bei einer Romreise eine Audienz beim Papst bekommen.

Als Kolping 1865 starb, war Sebastian Kneipp zwar schon seit gut zehn Jahren in Wörishofen tätig, Dressel geht jedoch davon aus, dass Kolping von Kneipp nicht sonderlich viel mitbekommen hat. „Aber ich glaube, dass Kneipp von Kolping sehr wohl etwas wusste – zumindest von der Idee der Gesellenvereine.“ Denn Kneipp war an der Gründung des katholischen Gesellenvereins Bad Wörishofen beteiligt, auf den die heutige Kolpingsfamilie zurückgeht. Im „Wörishofer Badeblatt“, das über die erste Versammlung am 23. Februar 1897 berichtete, heißt es: „Sodann hielt Prälat Kneipp eine kleine Ansprach, in welcher er Wörishofen als günstiges Feld für einen katholischen Gesellenverein bezeichnete und zum Beitritt ermunterte.“ Kneipp habe diesen Tag als „schönsten, den er in Wörishofen verlebte“, bezeichnet.

Doch Kneipp forderte nicht nur zum Beitritt auf, sondern finanzierte auch die Fahne des Gesellenvereins. „Bei der Fahnenweihe war er schon todkrank“, erzählt Thomas Dressel. „Der Verein ist dann an seinem Fenster vorbeigezogen, um ihm die Fahne zu zeigen. Obwohl er schon sehr schwach war, ist Kneipp aufgestanden und ans Fenster gegangen.“ Vier Tage später, am 17. Juni 1897, starb der Wasserdoktor. Die Fahne gibt es noch heute. „Die ist überarbeitet worden und lagert jetzt im Kloster in einer Sammlung alter Fahnen.“

Die Fahne des Gesellenvereins, aus dem die Kolpingsfamilie Bad Wörishofen hervorging, finanzierte zu einem großen Teil Sebastian Kneipp.

Klar, dass sich Bad Wörishofen für Kneipps 200. Geburtstag ein ordentliches Programm vorgenommen hatte. Stattfinden konnten bislang aber nur wenige der geplanten Veranstaltungen. Zum Beispiel ein Festgottesdienst, den die Kolpingsfamilie ausgerichtet hat. „Der Anlass war die Übernahme der Pfarrei durch Sebastian Kneipp im Jahr 1880“, sagt Dressel. „Das war für die Geschichte unserer Kolpingsfamilie wichtig. Denn als Beichtvater hätte er niemals den Einfluss gehabt, um den Gesellenverein mitzugründen. Aber als Pfarrer hatte er den.“ Gestaltet hat Thomas Dressel den Gottesdienst unter anderem mit einem fiktiven Dialog zwischen Kolping und Kneipp, den Mitglieder der Kolpingsfamilie aufführten.

"Vergleicht man den Lebenslauf Kneipps mit dem des Gesellenvaters, lassen sich erstaunlicherweise viele Gemeinsamkeiten feststellen. Beide setzten sich trotz Wiederständen und ohne Rücksicht auf die eigene Person für ihre Mitmenschen ein. Ganz nach Adolph Kolping: ,Gott stellt jeden dahin, wo er ihn braucht.'"
Tanja Bornemann

Aktionen zum Jubiläumsjahr hatte eigentlich auch das Kneipp-Hotel „KurOase im Kloster“ geplant, die seit 2005 vom Kolpingwerk Diözesanverband Augsburg geführt wird. Stattgefunden hat noch keine, nachdem die Kur­Oase im vergangenen November wegen der Corona-Pandemie ihre Pforten schließen musste. Die Kur­Oase liege nun vorerst im Dornröschenschlaf, sagt Hotelleiterin Tanja Bornemann. Die Zeit, bis Gäste wieder eine original Kneipp-Kur oder eine ganzheitliche Gesundheitsvorsorge buchen können, nutze ihr Team nun, um zum Beispiel die Zimmer neu zu streichen oder den Garten zu pflegen.

Fast alle der 115 Hotels in Bad Wörishofen mussten während der Pandemie schließen. Das führte 2020 gegenüber den Zahlen des Vorjahres zu einem Minus von 310.317 Gästeübernachtungen. 2019 kam der Kneippkurort noch auf 654.099 Übernachtungen. Sonderlich viele Menschen sieht der Kupfer-Kneipp von seinem Sockel aus daher derzeit nicht über den rot-gepflasterten Denkmalplatz gemütlich zu den umliegenden Cafés oder Restaurants schlendern.

Fotos: Pixabay (Essentiell/gefrorene_wand/Manfred Antranias), Thomas Dressel, Kolpingsfamilie Bad Wörishofen