Ausgabe 4-2023 : November

Schneidern an einer besseren Zukunft

Trotz großer Rohstoffvorkommen herrscht im politisch zerrissenen Venezuela bittere Armut, was Millionen Menschen auf die Flucht getrieben hat. Mit Hilfe katholischer Organisationen wie Adveniat bauen sie sich in den Nachbarländern neue Existenzen auf.

Mayra Alejandra Rozo (Mitte in blau), Lehrerin für Schnitt und Konfektion, zeigt zwei Schülerinnen eine Schnitttechnik in der Berufsschule des Centro de Evangelización Luis Variara.

Yohana Serranos Blick ist konzentriert. Sie legt das Lineal auf das große weiße Papier und zieht mit einem Bleistift eine saubere Linie von oben nach unten. Um den Hals der 32-Jährigen hängt ein rosa Maßband. Die venezolanische Migrantin arbeitet an diesem Tag am Schnittmuster für ein Kleid. Seit Monatsanfang nimmt sie an einer Ausbildung zur Schneiderin an der Schule Luis Variara im Süden der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta teil. Drei Monate dauert der Kurs. Die Schülerinnen und Schüler lernen nicht nur, Schnittmuster und Vorlagen zu fertigen, sondern werden auch an Nähmaschinen ausgebildet. "Noch fremdle ich ein wenig mit den Schnittmustern", sagt Yohana. "Aber das wird schon." Ihre Lehrerin Mayra Rozo jedenfalls hält die Venezolanerin für talentiert. "Sie hilft sogar ihren Mitschülerinnen."

Yohana Serrano lebt mit ihrem Ehemann und ihren drei Kinder im Alter von vierzehn, neun und fünf Jahren seit vier Jahren in Kolumbien.

Der Klassenraum verströmt den Charme einer deutschen Berufsschule. Hier rechnen, zeichnen und schneidern rund ein Dutzend Frauen. Unter ihnen sind viele jüngere, aber auch einige, die schon die 50 Jahre überschritten haben. Die Frauen, die hier eine Ausbildung machen, sind zum großen Teil venezolanische Geflüchtete. Aber auch kolumbianische Rückkehrerinnen lernen hier. Sie mussten vor mehr als 20 Jahren selbst vor der eskalierenden Gewalt zwischen Guerillas und Paramilitärs in Kolumbiens Grenzregion nach Venezuela fliehen, als dort noch die Ölförderung boomte. Angesichts der Krise im Nachbarland sind nun viele dieser Frauen mit ihren Familien zurückgekehrt und versuchen, in der alten Heimat wieder Fuß zu fassen.

"Irgendwann will ich eine eigene kleine Schneiderwerkstatt zu Hause haben. Dann kann ich arbeiten und gleichzeitig meine Kinder betreuen."
Yohana Serrano

"Cúcuta war immer eine Stadt des Kommens und Gehens", sagt Padre Abimael Bacca Vargas, Direktor der Sozialpastorale in Cúcuta. Nirgends an der mehr als 2.000 Kilometer langen Grenze zwischen den Nachbarländern gibt es mehr legale und illegale Grenzübergänge als im Großraum Cúcuta.

Keine Perspektive in der Heimat

Yohana ist wie rund 2,5 Millionen ihrer Landsleute in den vergangenen Jahren aus dem Nachbarland Venezuela gekommen, um in Kolumbien ein besseres Leben zu finden. 2019 packte sie mit ihrem Mann und den drei Kindern ihre Sachen. Die wirtschaftlich desolate Situation ließ der Familie keine Wahl.

Rund 250.000 Frauen, Männer und Kinder aus Venezuela haben sich in der Grenzstadt niedergelassen. Damit stieg die Einwohnerzahl um ein Viertel auf 1,25 Millionen. Die Zuwanderung habe das soziale Gefüge der Stadt verändert, sagt Padre Abimael. Die Gesundheits- und Bildungseinrichtungen seien an ihren Grenzen. Es gebe Wohnungsnot, auch die Kriminalität sei gestiegen. Die Not der venezolanischen Familien sei groß. "Und die können wir nicht mit Hilfs- und Versorgungsprogrammen auff angen", unterstreicht er. "Daher sind Arbeitsplätze für die Venezolanerinnen und Venezolaner genauso dringend erforderlich wie Chancen, sich selbständig zu machen."

Padre Said Urbina betrachtet die Arbeit einer der Lehrlinge etwas näher.

Chance auf ein Leben in Würde

Genau hier setzt das vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat geförderte Ausbildungs-Projekt an. "Die Teilnehmerinnen sollen sich ein würdiges Leben in der neuen Heimat aufb auen können", sagt Padre Said Urbina, Leiter der Schule Luis Variara: Die Frauen kämen in Kolumbien oft verängstigt und mit geringem Selbstbewusstsein an. "Aber wenn sie ihren Abschluss haben, sehen sie sich weniger als Migrantinnen, sondern suchen stolz einen Job oder haben Lust, sich selbständig zu machen." Das helfe auch deutlich bei der Akzeptanz in der kolumbianischen Gesellschaft.

"Die Teilnehmerinnen sollen sich ein würdiges Leben in der neuen Heimat aufbauen können."
Padre Said Urbina, Leiter der Schule Luis Variara

Auch Yohana Serrano hat schon Pläne für die Zeit nach der Ausbildung. "Irgendwann will ich eine eigene kleine Schneiderwerkstatt zu Hause haben", sagt sie. "Dann kann ich arbeiten und gleichzeitig meine Kinder betreuen." Denn ihre bisherige Arbeit reicht ihr und ihrem Mann bestenfalls zum Überleben. Sie sammeln in der Millionenstadt Cúcuta wiederverwendbaren Müll. Eine gefährliche Arbeit, die praktisch kein Einkommen bringt.

Seit 2020 läuft das Projekt ausgesprochen erfolgreich. 364 Schülerinnen und auch ein paar Schüler haben die Kurse abgeschlossen. "Wir wissen von 50 Absolventinnen, die Jobs als Näherinnen gefunden haben und rund 30 anderen, die zuhause eine eigene Werkstatt aufgebaut haben," sagt Lehrerin Rozo. Zu vielen anderen habe die Schule den Kontakt verloren. "Aus Sicherheitsgründen wechseln viele oft die Telefonnummer."

Mit einem breiten Lächeln zeigt Maria Laura Rodríguez ihr allererstes selbstgemachtes Hemd.

Stolz auf den Erfolg

Und unter diesen Absolventinnen, die sich mithilfe der Ausbildung ein Leben aufgebaut haben oder dabei sind, es zu tun, ist auch Maria Laura Rodríguez, eine ehemalige Offiziersschülerin aus Venezuela, die desertierte und nach Kolumbien flüchtete. Die schlanke Frau mit langen schwarzen Haaren wohnt mit Mann und Sohn in nur zwei Zimmern im Süden Cúcutas. Ein Raum dient als Wohn- und Schlafzimmer; der größere ist für die Werkstatt reserviert. Unter der Decke hängen Kleidchen, Kinderröckchen und Polohemden. Die junge Frau hat sich auf Baby- und Kindermoden spezialisiert. Stolz zeigt sie eine Fußballtrikot-Kombination, die sie für die Klasse einer nahegelegenen Grundschule geschneidert hat.

María Laura Rodríguez aus Venezuela bei der Arbeit in ihrem Atelier. Sie entwirft gerne Kleiderstücke für Kinder.

Rodríguez sprudelt vor Energie, Schaffenskraft und Zukunft splänen. Sie zeigt den Besuchern ihre beiden Nähmaschinen, führt vor, wie sie T-Shirts bedruckt, und präsentiert stolz ihr Diplom von der Schule Luis Variara. "Ich will Designs entwerfen und herstellen und auch Beflockung und Aufdrucke machen." Dass sie das alles nicht alleine schaffen kann, weiß die 27-Jährige. Zudem fehlt es ihr an Startkapital. Im Moment erwirtschaftet Rodríguez kaum mehr als 700.000 Pesos im Monat, etwa 140 Euro, gut die Hälfte des kolumbianischen Mindestlohns.

Lehrerin Mayra Rozo beobachtet Rodríguez‘ Wirken dennoch mit besonderem Stolz. "Ich kann mir gut vorstellen, dass Maria Laura in fünf Jahren ihre eigene Marke hat." Und die junge Venezolanerin steht daneben, lächelt und nickt.


Text: Klaus Ehringfeld
Fotos: Hans-Maximo Musielik

Flucht trennt. Hilfe verbindet.

Adveniat-Weihnachtsaktion 2023
Jede fünfte Migrant*in weltweit kommt aus Lateinamerika. Verfolgung, Gewalt und Hunger zwingen Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Familien werden auseinandergerissen. Flüchtende verlieren auf den gefährlichen Routen ihr Leben. Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat versorgt mit seinen Projektpartnerinnen und Projektpartnern vor Ort Flüchtende mit Lebensmitteln und Medikamenten, bietet in sicheren Unterkünft en Schutz und ermöglicht mit Ausbildungsprojekten die Chance auf einen Neuanfang. Unter dem Motto "Flucht trennt. Hilfe verbindet." ruft die diesjährige bundesweite Weihnachtsaktion der katholischen Kirche die Menschen in Deutschland zur Solidarität auf: für die Chance der Flüchtenden in Lateinamerika und der Karibik auf ein menschenwürdiges Leben.
Die Eröffnung der Adveniat-Weihnachtsaktion findet am 1. Advent, dem 3. Dezember 2023, im Bistum Erfurt statt. Die Weihnachtskollekte am 24. und 25. Dezember in allen katholischen Kirchen Deutschlands ist für Adveniat und die Hilfe für die Menschen in Lateinamerika und der Karibik bestimmt. Weitere Informationen unter www.adveniat.de