Ausgabe 1-2023 : Februar

Raus aus der Abhängigkeit

In Bolivien kommt es besonders häufig zu häuslicher Gewalt gegen Frauen. Sie ökonomisch und persönlich zu stärken, ist daher eines der Hauptanliegen von Kolping Bolivien.

Stolz auf den Erfolg und den eigenen Ofen: Etwa 60 Kunden versorgt Judith Agrada Torrez heute mit ihren landes-typischen Backwaren und aufwändigen Torten.

Wenn Judith Agrada Torrez 15 Jahre zurückschaut, erkennt sie sich selber nicht wieder. "Ich war damals ein anderer Mensch", erinnert sich die 57-Jährige aus Sucre, Bolivien. Sie sei eine Frau gewesen, deren Mann sie ständig kontrollierte und ihr vorschrieb, wann sie das Haus verlassen durfte. "Ich fühlte mich verloren – so, als hätte ich mein Leben verschwendet. Doch das änderte sich, als ich Kolping kennenlernte. Dort fand ich die Kraft, die ich brauchte, um mein Leben zu verändern."

In Bolivien bestehen die Kolpingsfamilien zu 98 Prozent aus Frauen. Im Grunde sind es Frauen-selbsthilfegruppen, die vor allem zwei Ziele haben: den Frauen ihre Rechte zu verdeutlichen und ihnen zu helfen, sich finanziell unabhängiger zu machen. Beides soll ihnen dabei helfen, ihre familiären Probleme zu lösen. "Sich weiterzubilden, um Geld verdienen zu können, ist ebenso wichtig, wie seine Rechte zu kennen«, weiß Yésica Ascui Mendoza, die Regionaldirektorin von Kolping Potosí. »Eines geht nicht ohne das andere."

Gemeinsam Lösungen suchen

Herzstücke dieses Empowerment-Programms sind die örtlichen Kolpinghäuser. Hier finden fast täglich Förderangebote für Frauen statt, allen voran Handarbeits- und Handwerkskurse, in denen sie Fertigkeiten erlernen, mit denen sie eigenes Geld verdienen können. In geselliger Runde zeigen Trainerinnen ihnen etwa, wie man Tischdecken bemalt, Puppen herstellt oder Brot backt. Während die Frauen werkeln, erzählen sie einander ihre Sorgen und Freuden, Erfolge und Rückschläge. Es wird gemeinsam gelacht – und manchmal auch geweint. Und es wird zusammen nach Lösungen gesucht. Niemand bleibt mit seinen Problemen alleine, jede findet Zuspruch und Hilfe. "Ein Tag ohne Kolping ist wie ein Tag ohne Leben", meint eine der Besucherinnen.

In dem patriarchalisch geprägten Bolivien sind solche Räume für Frauen ungewöhnlich. Und die Männer sind nicht unbedingt begeistert, wenn sich ihre Frauen dort der Kontrolle entziehen. Judith Agrada Torrez musste anfangs darum kämpfen, die Treffen im Kolpinghaus in Sucre besuchen zu dürfen. "Mein Mann fragte: 'Mit wem lässt du dich da ein, die stören unseren Familienfrieden'", erinnert sie sich. Dabei habe es keinen Frieden gegeben – zumindest nicht für sie. Ihre Beziehung sei toxisch gewesen, mehr möchte Judith nicht sagen. Dafür erzählt sie umso mehr davon, wie sie durch die Treffen bei Kolping lernte, dass es auch anders geht. Dass sie Rechte hat, Grenzen setzen und auf ihre eigenen Bedürfnisse achten darf. 

Start als Kleinunternehmerin

Anfangs fiel es ihrem Mann schwer, diese neue Judith zu akzeptieren. Doch es half, dass sie gleichzeitig eine Fertigkeit lernte, die der Familie zu neuem Einkommen verhalf. "Nachdem ich bei Kolping Backen gelernt hatte, habe ich zunächst nur für Freunde und Familie gebacken. Alle sagten: 'Deine Sachen sind so gut, warum verkaufst du sie nicht?' So entstand die Idee einer eigenen Bäckerei." Mit drei Kilo Mehl pro Tag und einem geliehenen Ofen startete Judith voller Tatendrang als Kleinunternehmerin durch. Sie verwandelte ihre Küche in eine Backstube und ihr Wohnzimmer in einen Verkaufsraum. Heute versorgt sie rund 60 Kunden mit verschiedenen Sorten Brot, Keksen, Empanadas und Kuchen. Für besondere Anlässe fertigt sie aufwendige Torten. Inzwischen besitzt Judith auch einen eigenen Ofen. Den konnte sie sich dank der zinsgünstigen Kleinkredite von Kolping anschaffen – eine weitere wichtige Fördermaßnahme des bolivianischen Verbandes im Bereich Empowerment. Umgerechnet 430 Euro verdient Judith heute nach Abzug aller Kosten monatlich: ein signifikanter Beitrag zum Familieneinkommen, den auch ihr Mann nicht mehr missen möchte. Der hat längst eingesehen, dass die ganze Familie glücklicher ist, wenn es seiner Frau gut geht. "Ich bin bei Kolping gewachsen", bestätigt Judith. »Das hat mir Kraft und Freude gegeben, mich stark und selbstbewusst gemacht. Ich fühle mich gebraucht und geliebt. Mich wirft nichts mehr so schnell aus der Bahn." 


Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch