Ausgabe 3-2020 : Juli

„Raus aus dem Leben in Deutschland!“

Ein Jahr im Ausland in einem weltwärts-Freiwilligendienst – der Traum von vielen Jugendlichen. Doch daran gibt es auch Kritik. Ein Besuch bei einem Bewerbungswochenende.

Am Bewerbungswochenende spielt auch Musik eine große Rolle. Die Lieder, die gespielt werden, kommen aus der ganzen Welt.

„Im Jahre 1865 wird Adolph Kolping begraben.“ Paula lässt sich dramatisch auf den Holzboden fallen. Ein Raunen durchdringt den Seminarraum, dann ein Lachen. Generell wird an diesem Wochenende sehr viel gelacht – auch bei dem Theaterstück, das den jungen Erwachsenen das Leben von Adolph Kolping näherbringen soll. Die Erzählerin, die das improvisierte Theaterstück vorbereitet hat, fährt fort und berichtet der Gruppe von der Seligsprechung des Gesellenvaters. Schließlich soll den Seminarteilnehmenden auch bewusst sein, wer und was Kolping eigentlich ist. Der Name wird einige von ihnen das nächste Jahr begleiten.

Eine Momentaufnahme aus einem Workshop. Die Teilnehmenden schreiben Dinge auf, die sie mit ihrem Wunschziel verbinden.

Paula steht wieder auf, erhält kurz Beifall für ihre Darstellung von Adolph Kolping und setzt sich zurück in den Stuhlkreis. Sie und 40 weitere Jugendliche und junge Erwachsene befinden sich auf dem Info- und Auswahlseminar für die Freiwilligendienste der Kolping Jugendgemeinschaftsdienste (JGD). Das Wochenende verbringen sie gemeinsam im Haus Venusberg in Bonn. Draußen ist es ungemütlich, der Wind weht stark – ein erstes Anzeichen für einen großen bevorstehenden Sturm. Drinnen sitzen die Teilnehmenden in Stuhlkreisen im Warmen. Alle in der Gruppe möchten für elf bis zwölf Monate ins Ausland und dort einen weltwärts-Freiwilligendienst verrichten. Paula zum Beispiel würde am liebsten in einem Partnerprojekt in einem afrikanischen Land mitarbeiten. „Seit ich klein bin, möchte ich dorthin. Vor Ort würde ich gerne die Arbeit an einer Schule unterstützen – ich liebe es, mit Kindern zu arbeiten!“ Auch der interkulturelle Austausch ist der 18-Jährigen sehr wichtig:

"Man lebt nur einmal, in der Zwischenzeit möchte ich so viel von der Welt erleben wie möglich. Man sollte immer wieder aus seiner Komfortzone raus!"
Paula
Paula Von-Blücher (18) möchte gerne in einem Schul-Projekt in einem afrikanischen Land mitarbeiten. Danach möchte sie Grundschullehrerin werden.

Auch Len, 17 Jahre alt und ebenfalls in der Abi-Phase, möchte die Welt entdecken. Er interessiert sich für eine Einsatzstelle am Nasikawa-Vision-College auf den Fidschi-Inseln. Zwei Freiwillige pro Jahr dürfen dort in der Schreinerei, beim Englischunterricht, bei Sport- und Freizeitangeboten für die Schülerinnen und Schüler aber auch bei ganz alltäglichen Aufgaben wie dem Instandhalten des Schulgeländes mit anpacken. „Das, was das Projekt anbietet, sind alles Dinge, die mir Spaß machen. Abgesehen davon ist Fidschi einfach ein tolles Land. Mich fasziniert die Kultur, und auch die Natur ist wunderschön“, erzählt Len begeistert. Neben Projekten auf den Fidschi-Inseln und in afrikanischen Ländern wie Malawi, Ghana, Uganda und Südafrika bieten die Kolping JGD noch viele weitere weltwärts-Plätze in Südostasien und Lateinamerika an. Mit dem weltwärts-Programm werden jährlich über 3 500 deutsche Freiwillige in soziale Projekte im Ausland entsendet. 2008 wurde es vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ins Leben gerufen. Von Anfang an engagierten sich die Kolping JGD als Entsendeorganisation. Dabei werden bis zu 75 Prozent der Kosten vom BMZ übernommen, den Rest zahlt die Entsendeorganisation sowie der oder die Freiwillige

Len Meyer (17) möchte nach der Schule nicht direkt anfangen, zu studieren. "Wann hat man sonst die Möglichkeit, eine andere Kultur tiefergehend kennenzulernen?"

"Egotrips ins Elend"?

Der weltwärts-Freiwilligendienst unterscheidet sich gegenüber einem innereuropäischen Freiwilligendienst – zum Beispiel einem Freiwilligen Sozialen Jahr – in den Aspekten des interkulturellen Austausches und des globalen Lernens. Das bedeutet, dass die Freiwilligen über ihre Arbeit die Kultur des Projektlandes kennenlernen – und zwar so, dass oberflächliche Klischees schnell wegfallen. Ein wichtiger Aspekt, der auch im Rahmen der Wochenendveranstaltung angesprochen wird. Denn ganz ohne Kritik ist das weltwärts-Programm auch nicht: 

„Egotrips ins Elend“ titelte das Süddeutsche Zeitung Magazin 2008 über die Freiwilligendienste. Die Berliner Professorin Claudia von Braunmühl schimpft im Artikel: „Wie sollen 18-jährige Weißnasen mit Rückflugticket in Entwicklungsländern auch helfen?“ An unqualifizierten Händen fehle es dort nicht. Auch wenn der Artikel schon etwas älter ist, trifft er damals wie heute einen kritischen Punkt. In welchem Maß können nichtqualifizierte Westeuropäer den Menschen im Globalen Süden, die ihre eigenen Probleme vermutlich besser kennen, überhaupt helfen?

Leonhard Schwarz (20) ist am Wochenende als Teamer tätig. Er erzählt den Bewerberinnen und Bewerbern von seinem Freiwilligendienst in Malawi.

Das ist eine Frage, mit der auch Leonard konfrontiert wurde. Der 20-Jährige fällt am Wochenende nicht wegen seiner lockigen braunen Haare, sondern vor allem durch dauerhaft gute Laune auf. In seinem Freiwilligendienst war er von 2018 bis 2019 in Ekwendeni, einem Dorf in Malawi, an einer Schule zu Gast. Mit Begeisterung erzählt er von seiner Zeit: „Ich hatte ein wirklich spannendes, erkenntnisreiches und wunderschönes Jahr in Malawi.“ Am liebsten denke er an seinen besten Freund Tengani in Ekwendeni zurück, mit dem er oft musikhörend und keksessend den Sonnenuntergang angeschaut habe.

White Saviorism

Spricht man die Frohnatur auf die Kritik am weltwärts-Programm an, wird er schnell nachdenklich und ruhig – er nimmt sich Zeit für seine Antworten und reflektiert: „Als ich mich für einen weltwärts-Freiwilligendienst beworben habe, schwang da auch ganz klar eine Art Helfer-Komplex mit. Ich wollte was Gutes tun, den ‚armen Menschen in Afrika‘ helfen. Als mir klar wurde, dass diese Menschen meine Hilfe aber gar nicht brauchen und ich eigentlich vor allem eine Last für sie darstelle, war ich ganz schön geplättet.“ Leonard spricht immer wieder von „White-Saviorism“, einem Begriff, der die Annahme beschreibt, dass Menschen aus dem Globalen Norden den Menschen aus dem Globalen Süden helfen müssten. Eine Handlung, die diesen Menschen Unfähigkeit und Hilflosigkeit unterstellt und damit koloniale Machtverhältnisse reproduziert. Doch wie entsteht dieser „White Saviorism“?

Leonard meint, dass die Länder des Globalen Südens in unserer Gesellschaft vor allem im Kontext von Armut, Not und Problemen gesehen werden. Dadurch entstehe eine Art Voreingenommenheit, die dazu führe, dass Menschen aus dem Globalen Norden Menschen aus dem Globalen Süden helfen wollen. „Das ist systematischer, in uns versteckter Rassismus. Ziemlich grausam, wenn man so drüber nachdenkt!“ Das Thema nimmt ihn sichtlich mit. Aber warum dann überhaupt einen Freiwilligendienst machen?

Was ist der globale Norden/Süden?

Die Begriffe „Globaler Süden“ und „Globaler Norden“ sind nicht geographisch, sondern vielmehr eine wertfreie Beschreibung verschiedener Positionen in der globalisierten Welt. Der „Globale Süden“ beschreibt eine im globalen System benachteiligte gesellschaftliche, politische und ökonomische Position. Der „Globale Norden“ hingegen eine privilegierte Position. Australien ist beispielsweise mehrheitlich Teil des Globalen Nordens, obwohl es im geographischen Süden liegt. Die Begriffe werden verwendet, um eine Hierarchie zwischen „Entwicklungsländern“ und „entwickelten Ländern“ aus einer eurozentristischen Sichtweise heraus zu vermeiden.

Leonard beginnt wieder zu lächeln. „Ja, um genau mit diesen Vorurteilen zu brechen. Vorher kannte ich mich mit Entwicklungszusammenarbeit nicht wirklich gut aus. Nach dem Jahr verstehe ich besser, welche Probleme die Menschen vor Ort haben, und wie unser westlicher Lebensstil damit zusammenhängt. Ich weiß jetzt besser Bescheid, und kann auch mein Umfeld informieren!“

Ein weltwärts-Sprichwort lautet: „Die Arbeit beginnt nach dem Freiwilligendienst!“ Die Arbeit ist in diesem Fall, seine Erfahrungen zu teilen. Ein Aspekt, der Leonard, besonders in Bezug auf den „White Saviorism“ ein Anliegen ist. „Als ich wiederkam, habe ich einen Vortrag im Lions Club meines Vaters gehalten. Das waren meine Eindrücke und Erkenntnisse aus einem Jahr komprimiert auf eineinhalb Stunden. Das war ganz schön hart. Ich habe da ja auch keine Urlaubsfotos gezeigt, sondern viel mehr das geteilt, was mich tief bewegt hat.“ Es sei eher eine Art Aufklärungsarbeit gewesen, erzählt Leonard. Zu der Aufgabe, seinen Mitmenschen in Deutschland von der Zeit im Ausland zu berichten, lasse sich jedoch keiner zwingen. „Es gibt bestimmt Menschen, die nur ein Jahr Party machen möchten und sich der fremden Kultur verschließen. Aber die haben dann den Sinn des Freiwilligendienstes komplett verfehlt.“ Man müsse sich ja nicht zwingend danach in einer Organisation engagieren. Es reiche auch, wenn man einfach mit seinen Mitmenschen rede, meint der 20-Jährige. Und das funktioniert?

Eine Studie, die 2017 vom Deutschen Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit (DEval) veröffentlicht wurde, kam zu dem Ergebnis, dass sich Freiwillige durch ihren Dienst dauerhaft verändern. Besonders das Engagement für entwicklungspolitische Themen steigt nach der Rückkehr und – vielleicht besonders beeindruckend – flacht auch nach längerer Zeit nicht ab. Die Studie belegt außerdem, dass auch das direkte Umfeld der Freiwilligen nach dem Jahr im Ausland besser informiert ist. Kritik üben die Forscherinnen und Forscher jedoch an der fehlenden Diversität der Teilnehmenden. Am weltwärts-Programm nehmen vorrangig Menschen aus gehobenen, gut gebildeten und christlich geprägten Haushalten teil. Diese haben in der Regel die größere zeitliche und finanzielle Freiheit, um ein Jahr im Ausland verbringen zu können. Deshalb solle weltwärts diverser werden.

„Die Arbeit beginnt nach dem Freiwilligendienst!“
weltwärts-Sprichwort

Um das zu erreichen, wurde – auch als Folge von früheren Studien – 2013 der Süd-Nord-Freiwilligendienst eingeführt. Dabei arbeiten Jugendliche und junge Erwachsene aus dem Globalen Süden in sozialen Projekten im Globalen Norden mit. So soll garantiert werden, dass ein gleichberechtigterer Austausch zwischen Nord und Süd stattfindet. Auch die Kolping JGD bieten jedes Jahr sechs Süd-Nord-Plätze an. So lebten und arbeiteten 2019 und 2020 der Tansanier Florian und die Südafrikanerin Chandre ein Jahr lang in der Kolping-Familienferienstätte Haus Zauberberg in Pfronten. Sie waren in der Küche, bei der Betreuung der Ferienkinder oder im Service für die Gäste im Einsatz. Durch ihren Freiwilligendienst kamen sie auch mit der deutschen Kultur in Kontakt – zum Beispiel dem traditionellen Maibaum-Klettern am ersten Mai, an dem Florian sogar teilnahm. In ihren Heimatländern engagieren sich Chandre und Florian für ihren jeweiligen Kolping-Landesverband und sind so auf die Kolping JGD aufmerksam geworden. Mit ihrem Freiwilligendienst wollen sie eine andere Kultur kennenlernen und über das Gelernte in ihren Heimatländern berichten. Genauso wie ihre deutschen Mitfreiwilligen.

Leonhard und sein bester Freund in Malawi. "Mit Tengani habe ich viel unternommen und geredet. Ich vermisse ihn wirklich sehr!"
Freunde fürs Leben. Das wäre schön!
Paula

Len erhofft sich von seinem Freiwilligendienst auf den Fidschi-Inseln, dass er viele Eindrücke sammeln kann: „Raus aus dem Leben in Deutschland und sehen, was es noch so gibt!“ Seine größte Sorge sei, dass er keine Freunde findet und sich einsam fühlt. „Ich wurde aber schon beruhigt. So wie es sich anhört, sind die Menschen auf Fidschi sehr nett und offen!“ Die Vorfreude bringt ihn zum Strahlen. Auch Paula, die Darstellerin von Adolph Kolping, wünscht sich, ihren Tunnelblick zu erweitern: „Ich hoffe, dass ich mehr von der Welt sehe und eine Sensibilität für meine Lebenssituation entwickle. Irgendwie ist es ja auch egoistisch, in seiner eigenen Welt zu leben, ohne zu gucken, wie die anderen leben!“ Das Beste, was ihr passieren könnte? Paula denkt kurz nach und sagt:

„Freunde fürs Leben. Das wäre schön!“ Sie lächelt und guckt danach auf ihre Uhr. Mittlerweile ist es Sonntagvormittag. Das Ende des Seminars ist fast erreicht. Paula muss sich beeilen, um nicht zu spät zur Abschlussrunde zu kommen. Aufgrund des Sturms wurde diese vorverlegt, damit alle sicher nach Hause kommen. Am Nachmittag stellt die Deutsche Bahn den Fernverkehr ein – eine spannende Heimfahrt ist allen Teilnehmenden damit sicher. Einige von ihnen werden aber bald noch eine viel aufregendere Reise antreten.

Neugierig geworden?

Die Kolping Jugendgemeinschaftsdienste bieten jedes Jahr viele Plätze für weltwärts-Freiwilligendienste an. Letztes Jahr ging es unter anderem nach Ecuador, auf die Fidschi-Inseln, Ghana, Malawi, Südafrika, Thailand, Uganda und Vietnam. Viele dieser Länder stehen auch für die Freiwilligendienste 2021/22 wieder zur Verfügung. Der Anmeldeschluss für das erste Infoseminar ist der 9.11.2020, für das zweite Infoseminar ist es der 18.1.2021. Aktuelle Informationen gibt es unter kolping-jgd.de

Text: Tobias Pappert
Fotos: Barbara Bechtloff, privat