Ausgabe 4-2020 : November

Mit Kalaivani kommt die Wende

Erst das eigene Einkommen steigern, dann anderen helfen: In Indien schaffen es Frauen dank der Unterstützung von Kolping mitunter, das Leben eines ganzen Dorfes zu verändern.

Ein maschineller Webstuhl hat das Leben von Kalaivani verändert. Jetzt hat sie Zeit und Kraft, sich für ihr Dorf zu engagieren.

Mit prüfendem Blick inspiziert Kalaivani die kleine Baustelle ihres Dorfes im indischen Tamil Nadu. Hier entsteht gerade ein weiterer Wassertank, der mit Wasser aus dem Dorfbrunnen gespeist werden soll. Es ist bereits der Achte, der in den Gassen von Reddiyur installiert wird. „Das ist eine wichtige Maßnahme, um den Frauen hier das Leben zu erleichtern“, erklärt Kalaivani. „Dank der Tanks müssen sie nicht mehr so weit laufen, um Wasser zu holen.“

Ihre Kolpingschwester Puspa Mary neben ihr nickt zustimmend. Auch sie weiß nur zu gut: Wer keine hausnahe Wasserstelle besitzt, muss das lebensnotwendige Nass mühsam heranschleppen – oft kilometerweit, jeden Tag. „Seit Kalaivani unsere Dorfratsvorsitzende ist, verändert sich das Dorf. Wir bekommen Wasser und Toiletten. Das ist wirklich eine große Verbesserung“, sagt Puspa Mary dankbar. 

Fortschritt in Reddiyur – den hat nicht etwa eine gebildete Frau gebracht. Die Dorfratsvorsitzende Kalaivani ist nur eine einfache, arme Weberin. Doch sie hatte Kolping an ihrer Seite, wurde gefördert und konnte sich weiterentwickeln. Gemeinsam mit ihrem Mann stellt die 48-Jährige Baumwollsaris für Zwischenhändler her. Zwei Euro erhalten sie für jede der sechs Meter langen Stoffbahnen. Früher, als die Beiden ihren Webstuhl noch mit der Hand betrieben, schafften sie gerade mal einen Sari pro Tag. „Aber wir hatten das große Glück, von unserer Kolpingsfamilie einen Kleinkredit zu erhalten. Damit kauften wir einen maschinellen Webstuhl. Jetzt können wir drei Saris pro Tag herstellen“, erzählt Kalaivani.
 

Kalaivani ist für die Menschen in ihrem Dorf da.

Die Investition verbesserte nicht nur das Einkommen des Ehepaars und half ihnen aus der schlimmsten Armut. Die Arbeit am maschinellen Webstuhl kostet auch weniger Konzentration und Körperkraft. Deshalb müssen sich die beiden beim Arbeiten nicht mehr so oft abwechseln. Das schafft Freiräume – Zeit, die Kalaivani nutzt, um sich für ihr Dorf zu engagieren. „Ich hatte mir schon lange gewünscht, etwas verändern zu können.“

Ohne ihre Kolpingsfamilie hätte sie den Schritt in die Politik aber nicht gewagt. „Ich hatte als Sprecherin meiner Kolpingsfamilie schon einige Erfahrung gesammelt. Und als mir dort alle sagten, dass sie mir das Amt zutrauen, gab mir das den Rückhalt, den ich brauchte, um es zu versuchen.“

Menschen stärken, damit sie zu aktiven Bürgern werden können  – das ist weltweit das zentrale Ziel von Kolping International. Denn je lebendiger die Zivilgesellschaft, desto nachhaltiger lassen sich strukturelle Veränderungen für alle durchsetzen. Die Weberin Kalaivani schaffte es gleich im ersten Anlauf in den Dorfrat. Bei der nächsten Wahl wurde sie einstimmig zu dessen Vorsitzenden gewählt. 
 

Kalaivani hört sich die Nöte der Menschen an und versucht, etwas zu verändern.

Armut ist das größte Problem

Dabei sind Frauen in Indiens Dorfräten ebenso ungewöhnlich wie notwendig. Über Generationen hinweg entschieden hier die Männer alleine, wie die knappen Mittel der Dorfkassen eingesetzt werden. Den Weg zur nächsten Wasserstelle verkürzen: Solche Probleme spielten für sie keine große Rolle. Wasserholen ist schließlich Frauensache. Bei Witwenrenten verhält es sich ähnlich. Viel ist es nicht, was der indische Staat jeder Witwe an Unterstützung zahlt, umgerechnet rund zwölf Euro im Monat. Aber selbst diese kleine Rente ist für viele Frauen unerreichbar, weil die Antragsstellung für sie als An­alphabetinnen zu kompliziert ist. „Das ist auch so ein Thema, das die Männer wenig interessiert, weil es sie ja nicht betrifft“, sagt Kalaivani. „Aber ich als Frau weiß, dass mich das Schicksal, Witwe zu werden, jederzeit ereilen kann. Deshalb finde ich es wichtig, dass sie ihre Rente bekommen und habe bereits 29 Frauen dabei geholfen, die Anträge zu stellen.“ Dass Kalaivani weiß, wie man die Anträge stellt, verdankt sie einem Kolping-Workshop.

Armut sieht die Dorfratsvorsitzende als das größte Problem ihrer Region an – nicht nur bei Witwen, sondern generell bei Frauen und speziell auch bei Christen. Die meisten Kolpingmitglieder vor Ort stammen ursprünglich aus der Kaste der Dalits, die in der indischen Gesellschaft auf der untersten Stufe stehen. Überzeugt von der Botschaft, dass vor Gott alle Menschen gleich sind, traten ihre Vorfahren zum Christentum über. Doch an Ansehen und Chancen hat sich dadurch nichts geändert. Sie besitzen kein Land und haben kaum Zugang zu Bildung. Da sie als Christen offiziell nicht mehr zu den Dalits zählen, bekommen sie nicht einmal die Unterstützung, die der indische Staat dieser benachteiligten Gruppe gewährt. „Wir müssen uns gegenseitig helfen, das ist unsere einzige Chance. Deshalb sind unsere Kolpingsfamilien so wichtig für uns. Dort haben wir ein Forum, in dem wir uns austauschen und gemeinsam etwas bewegen können“, sagt Kalaivani. 

Zusammen mit ihrer Kolpingsfamilie prüft sie gerade, welches Projekt sie gemeinsam auf die Beine stellen könnten, um ihr Einkommen zu steigern. Aus anderen Kolpingfamilien gibt es da viele hoffnungstiftende Beispiele. Etwa Garküchen, eine Taschenmanufaktur oder einen Schönheitssalon. All diese Kleinunternehmen sind aus Kolping-Engagement heraus und mit Unterstützung des indischen Verbandes entstanden. „Ich weiß noch nicht, was wir angehen werden, aber gemeinsam werden wir das Richtige für unser Dorf finden. Und ich weiß, dass ich dabei auf meine Kolpingschwestern und Kolpingbrüder zählen kann.“ 


Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch