Ausgabe 3-2022 : Juli

Im Gehen bleiben und im Bleiben gehen!

Die Menschen verlassen die Kirchen. Nicht einmal die Hälfte der Bundesbürgerinnen und -bürger gehören noch einer der beiden großen christlichen Kirchen an.

War es bisher zuweilen die Kirchensteuer, die viele Menschen zum Austritt aus der Kirche bewogen hat, so ist es heute oft auch der Umgang der Amtsträger mit Tätern und Opfern sexualisierter Gewalt, oder mit Menschen, deren Lebensführung sich nicht hundertprozentig mit den Regeln der Kirche deckt, um einmal die wichtigsten Gründe zu nennen, die für einen Austritt aus der Kirche angegeben werden. 

Es lohnt sich, hinter diese Beweggründe zu schauen: da haben Glaube und Religion die Bedeutung für das persönliche Leben verloren, der soziale Druck, Gewohnheiten beizubehalten, wird schwächer. Nicht selten sind es aber ganz persönliche Erfahrungen von Brüskierung, Verletzung, Zurücksetzung und Enttäuschung, die Menschen dazu bringen, mit "der Kirche" zu brechen. Persönliche Enttäuschung und Verletzung betreffen aber immer konkrete Personen, die der Institution ihr Gesicht geben. Da ist oft genug der wahre Grund zu finden, und da müsste die Heilung ansetzen. Da ist behutsamer, liebevoller Umgang miteinander gefragt, da geht es um Barmherzigkeit und um die Gewissheit, dass das Leben mehr Möglichkeiten kennt, als wir uns vorstellen können.

"Gott hat in der Taufe Ja zu uns gesagt"

Schon Adolph Kolping sagt: "Soziale Leiden heilen nicht von selbst; sie haben ihren Grund in früher gemachten sozialen Fehlern, und wenn die Ursachen nicht entfernt werden, muss der Fehler Leiden erzeugen", und er spricht damit eine tiefe Wahrheit aus. 

Im Johannesevangelium wird auch berichtet, dass Menschen sich von Jesus abwandten, weil sie sich in ihren Hoffnungen enttäuscht sahen. "Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt auch ihr weggehen? Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes." (Joh 6, 67-69)

Es geht nicht um die Institution, sondern um eine Person: Jesus Christus. Solange die Institution Kirche von Menschen repräsentiert wird, tritt auch deren Unzulänglichkeit und ihr Versagen immer wieder zutage. Gott hat in der Taufe Ja zu uns gesagt, und dieses Ja nimmt er auch dann nicht zurück, wenn jemand die Gemeinschaft der Kirche verlässt. Wenn die Beziehung zu ihm stark ist, ist es möglich, Enttäuschungen zu verarbeiten, Spannungen zu ertragen und konkrete Unzulänglichkeiten zu benennen und an ihrer Verbesserung zu arbeiten. So kann man im Gehen bleiben und im Bleiben gehen: die Gemeinschaft nicht verlassen, aber in Gemeinschaft mit anderen neue Wege wagen. Und wenn Gott in der Taufe Ja zu einem Menschen gesagt hat, wird es für Menschen umso schwieriger, Nein zu sagen. Deshalb müsste schon der Mensch selbst Nein zum Glauben sagen.

"Es geht nicht um die Institution, sondern um eine Person: Jesus Christus."
Bundespräses Hans-Joachim Wahl

Im Gehen bleiben, das heißt: sich weiterbewegen, ohne die Gemeinschaft aufzukündigen. Im Bleiben gehen bedeutet: den eigenen Weg wagen im Vertrauen auf Gott, der Ja zu uns sagt, und in Gemeinschaft mit den Menschen, die mit uns zusammen Kirche sind. 

Hans-Joachim Wahl
Bundespräses


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