Ausgabe 1-2022 : Februar

Haus voll Glorie?!

Trotz vieler Vergehen und Versäumnisse, trotz des immensen Vertrauensverlustes – die Kirche hat vielen Menschen etwas zu geben: Die verändernde Kraft des Evangeliums.

„Die Menschen stempeln die Kirche immer mehr ab, messen dieser keine Bedeutung mehr bei. Dabei gäbe es durchaus kluge Köpfe, deren Worte Gehör finden sollten. Dabei könnte die Kirche gerade in diesen schweren Zeiten, in denen die Vereinsamung eines unserer größten Probleme ist, vielen Halt geben.“ So äußerte sich Tobias Goldbrunner in einem nachdenkliche Kommentar im Gießener Anzeiger vom 21.01.2022 zur „erschütternden“ Lage in der katholischen Kirche.

In diesen Tagen hat es die Kirche in Deutschland nicht leicht. Das ist nicht erst seit vorgestern so, gerade in den aktuellen Vorgängen wird deutlich, dass es hier um Vergehen und Versäumnisse geht, die schon seit Jahrzehnten ihre schreckliche Wirkung verbreiten. 

„Wie kannst du immer noch in dieser Kirche sein?“

Manche Stimmen stellen die Krise mit der Reformation im 16. Jahrhundert auf eine Stufe. Ich weiß nicht, ob das so ist. Ich sehe aber die vielen Kirchenaustritte. Ich habe selbst erleben müssen, dass ich auf offener Straße übelst beschimpft wurde, weil ich als Priester zu erkennen war. Ich weiß um die Frage „Wie kannst du immer noch in dieser Kirche sein?“, der sich gerade ehrenamtlich engagierte Menschen immer wieder stellen müssen. 

Es ist Zeit, sich dieser Wirklichkeit schonungslos zu stellen und sich nicht im „Haus voll Glorie“ zu verschanzen. Es ist aber auch an der Zeit, aus dem Geist Jesu Christi zu handeln und Möglichkeiten des Dialogs, der Begegnung und der gegenseitigen Hilfe zu bieten, damit sich etwas zum Guten verändern kann. 

Ich sehe Menschen, die an dieser Krise und an der Kirche leiden, die aber eben nicht abtauchen. Ich erlebe Menschen, die von sich sagen mögen, dass sie der Kirche noch nicht einmal nahestehen, die ihr aber durchaus immer noch Entscheidendes zutrauen – wie der oben zitierte Journalist in seinem tagesaktuellen Kommentar. Da weiß einer um das Potential der christlichen Botschaft, um die verändernde Kraft des Evangeliums, um die Chancen, die die Kirche wahrnehmen muss, wenn sie glaubwürdig bleiben will. Und er fordert sie heraus. Mit Recht.  

Ich stehe am Anfang meiner Aufgabe als Bundespräses. Ich freue mich darauf, diesen Auftrag zu übernehmen. Ich weiß mich in guter Gesellschaft, weil Kolping in etlichen Bereichen der beklagten Vereinsamung entgegenwirkt, auch wenn jetzt die Pandemie für nicht unerhebliche Einschränkungen sorgt. Ich weiß mich in guter Gesellschaft, wenn ich sehe, dass die Kolpinggeschwister sich engagieren, sich durchaus als Teil der Kirche und die Kolpingsfamilien und –gemeinschaften als Kirchorte verstehen, die weltweit Heimat und Gemeinschaft schenken.

"Es ist aber auch an der Zeit, aus dem Geist Jesu Christi zu handeln und Möglichkeiten des Dialogs, der Begegnung und der gegenseitigen Hilfe zu bieten, damit sich etwas zum Guten verändern kann."
Bundespräses Hans-Joachim Wahl

Ich schaue auf den Seligen Adolph Kolping, zu dessen Lebzeiten unter der Amtszeit Papst Pius‘ IX.  die Tendenzen, deren Früchte uns heute auf die Füße fallen, ihren Anfang nahmen. In ihm sehe ich eine starke Persönlichkeit, die sich kritisch mit den Vorgängen in der Kirche und in der Gesellschaft seiner Zeit auseinandersetzte. Er wird mir hier zum Vorbild: er hat seine Kritik furchtlos und offen geäußert und immer wieder darauf gedrungen, dass das Christentum „dem Geiste und der Praxis nach“ ins wirkliche gesellschaftliche Leben getragen wird. Bei alldem war er von großer Liebe zu den Menschen seiner Zeit motiviert und wusste sich in der Botschaft des Evangeliums, in der Nachfolge Christi und in der Kirche beheimatet und verwurzelt.

Hier sehe ich die Chance bei allen Missständen, denen wir uns als Kirche und in der Gesellschaft stellen und die wir so gut es irgend geht beseitigen müssen: dem Geist und der Praxis nach als Christen unseren Beitrag zu leisten. Menschen guten Willens gibt es genug.

Gott sei Dank!

Hans-Joachim Wahl
Bundespräses


Kolpingwerk Deutschland
50606 Köln
bundespraeses(at)kolping.de

Bilder: Barbara Bechtloff, ovbelov1972/Adobestock.com