Ausgabe 2-2021 : Mai

Für ein Sterben in Würde

Ende Februar 2020 kippt das Bundesverfassungsgericht das Verbot der Sterbehilfe. Seitdem ist es wieder straffrei möglich, Sterbewillige gegen Bezahlung dabei zu unterstützen, sich das Leben zu nehmen. Drei Gesetzesentwürfe sollen nun einen Rechtsrahmen schaffen.

Die Sterbehilfe in Deutschland muss neu geregelt werden – das steht seit gut einem Jahr fest. Im Februar 2020 kippten die Richter des Bundesverfassungsgerichts das 2015 beschlossene Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Grundgesetz umfasse auch den Anspruch auf einen selbstbestimmten Tod, urteilten die Karlsruher Richter damals. Die Folge: Sterbehilfe ist seitdem nicht mehr staatlich geregelt und wieder „vollkommen straffrei“, sagt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Es sei ohne rechtliche Folgen möglich, Sterbewilligen gegen Bezahlung dabei zu helfen, sich selbst zu töten. Sogar dann, wenn die Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, nicht unheilbar erkrankt sind.

Ende April startete der Bundestag mit einer rund zweistündigen Debatte nun einen zweiten Versuch, ein Gesetz zu finden, das dem Grundgesetz tatsächlich standhält. Möglich wurde der erneute Anlauf wegen des fraktionsübergreifenden Gesetzesvorschlags einer Gruppe um Lauterbach, Katrin Helling-Plahr (FDP) und Petra Sitte (Die Linke). Weil mehr als fünf Prozent der Abgeordneten den im Februar vorgestellten Entwurf unterstützten, durfte über ihn im Plenum beraten werden.

Alte und kranke Menschen schützen

Geht es nach Lauterbach, Helling-Plahr und Sitte, soll das Parlament beschließen, dass Sterbehilfe auch zukünftig straffrei bleibt, und es soll zugleich einen klaren Rechtsrahmen vorgeben. Die Rede ist im Gesetzentwurf von staatlich anerkannten und finanzierten Beratungsstellen. Dort sollen Sterbewillige dann nicht nur ergebnisoffen aufgeklärt werden, sondern ihnen sollen auch Alternativen zum Suizid aufzeigt werden. Zumindest dieser Aspekt dürfte im endgültigen Gesetz definitiv auftauchen. Einig waren sich die 38 Bundestagsabgeordneten, die sich bei der Parlamentsdebatte zu Wort meldeten, nämlich darin, Geld in die Hand nehmen zu wollen: Neben entsprechenden Beratungsangeboten sollen auch die Unterstützung in psychischen Krisen und die Palliativ- sowie Hospizversorgung ausgebaut werden.

In eine ähnliche Richtung wie der fraktionsübergreifende Entwurf geht auch ein zweiter, den die beiden Grünen-Politikerinnen Renate Künast und Katja Keul verfasst haben. Sie verzichten ebenfalls auf strafrechtliche Verbote und fordern eine staatliche Beratung. Dabei differenzieren sie aber, „ob die Betroffenen ihren Tod wegen einer schweren Krankheit anstreben oder aus anderen Gründen“. Bei schwer Erkrankten würden demnach in erster Linie Ärztinnen und Ärzte prüfen, ob ein Hilfsmittel für einen Suizid zur Verfügung gestellt wird. Ist nicht eine Erkrankung der Grund für den Suizidwunsch, würden die Anforderungen noch einmal deutlich höher sein und beispielsweise die Dokumentation der Dauerhaftigkeit eines selbstbestimmten Entschlusses umfassen.

Keine Suizid­hilfe für Minderjährige

Wenige Tage vor der Bundestagsdebatte kündigte schließlich eine Gruppe um die beiden CDU-Abgeordneten Ansgar Heveling und Hermann Gröhe ihren Vorschlag für eine zukünftige Regelung der geschäftsmäßigen Sterbehilfe an. Die würde demnach grundsätzlich strafbar und lediglich in extremen Ausnahmefällen erlaubt werden. Die Gruppe fordert, dass  Sterbewillige mindestens zwei Untersuchungen durch Fachärztinnen und -ärzte für Psychatrie erhalten sollen, die dann beide feststellen müssen, dass ein Suizid­entschluss tatsächlich in freier Verantwortung getroffen wurde. Bei Minderjährigen dürfe eine Suizid­hilfe gar nicht erst möglich sein.

Das Kolpingwerk Deutschland hatte sich zuletzt 2019 in der Erklärung „Für ein Sterben in Würde“ zur organisierten Suizid-Beihilfe positioniert. In unserer Gesellschaft dürfe sie keinen Platz haben. Stattdessen müsse die unantastbare Würde des Menschen im Mittelpunkt stehen, so die damalige Erklärung des Bundesvorstandes.

Im ausführlichen Interview mit dem Kolpingmagazin spricht Ursula-Groden Kranich MdB, die Bundesvorsitzende des Kolpingwerkes Deutschland, unter anderem darüber, welche Chancen sie den drei Gesetzesentwürfen einräumt und welche Aspekte ihr bei einer Neuregelung der Sterbehilfe wichtig sind.

Schutz vor unzulässigem Druck

Interview mit Ursula Groden-Kranich

Im vergangenen Jahr hat das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt. Dadurch können Sterbehilfevereine oder auch Ärzte, die ihre Hilfe nicht nur einmal, sondern wiederholt anbieten, uneingeschränkt tätig werden. Welche Reaktion hat das bei Dir ausgelöst?    

Ursula Groden-Kranich: Ich habe diese Entscheidung sehr bedauert, weil sich der Bundestag parteiübergreifend sehr intensiv und sachlich in der letzten Legislaturperiode mit dem Thema auseinandergesetzt hatte. Ich selbst hatte den Kontakt zu Palliativmedizinern gesucht, mit Betroffenen gesprochen und auch in der eigenen Familie miterlebt, was Sterbebegleitung bedeutet.

Das Urteil besagt, dass Staat und Gesellschaft die Entscheidung für ein selbstbestimmtes Sterben respektieren müssen. Wie bewertest Du das – auch aus Deiner christlichen Haltung heraus?

Ich respektiere die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dennoch sind viele Fragen weiterhin offen. So kann es Situationen geben, in denen der Wunsch besteht, die Hilfe Dritter für einen selbstbestimmten Suizid in Anspruch nehmen zu können. Deshalb plädiere ich für eine Regelung, die sicherstellt, dass die Selbstbestimmung über das eigene Leben insbesondere auch für verletzliche Gruppen gewahrt bleibt. Ich möchte Alternativen zum assistierten Suizid stärken. Wenn der Zugang zum assistierten Suizid leichter ist als zur palliativen Begleitung und Versorgung, zu fürsorgender Pflege oder zur Psychotherapie, entsteht eine gefährliche Schieflage. Staat und Gesellschaft dürfen niemandem den Eindruck vermitteln, überflüssig zu sein.

Da wir uns für die Würde des Menschen und seine autonome Selbstbestimmung einsetzen, müssen wir dann nicht seinen ernsten Wunsch, das eigene Leben zu beenden, akzeptieren?

Den Wunsch, dieses zu akzeptieren, ist das eine. Von einer Person zu verlangen, dass sie Sterbehilfe leisten soll, ist das andere. Ich habe große Sorge vor einer „Selbstverständlichkeit“, und dass organisierte Selbsttötungshilfe zum normalen Behandlungsangebot wird. Wir müssen den selbstbestimmten Willen des Einzelnen vor unzulässigem Druck – sei es durch Dritte oder eine unausgesprochene gesellschaftliche Erwartungshaltung – schützen.

Die katholischen Bischöfe haben den assistierten Suizid abgelehnt, da er Menschen mit Sui­zid­absichten „nicht die richtige Antwort“ auf ihre Lebenssituation gebe. Wie sieht nach Deiner Auffassung eine "richtige Antwort" aus?

Es gibt weder eine "richtige Antwort", noch eine einfache Antwort. Als Christen glauben wir, dass das menschliche Leben von Gott geschenkt ist. Jeder Mensch wird einzigartig geboren; daher muss jede Antwort individuell erfolgen. Den Betroffenen muss – wenn möglich – eine Bandbreite an Lebensperspektiven deutlich vor Augen geführt werden. Alle Anstrengungen müssen darauf gerichtet sein, bessere Möglichkeiten für ein erträgliches und würdevolles Lebensende zu schaffen.

"Wenn Menschen in Umfragen oft sehr undifferenziert sagen, dass die Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt sein sollte, steckt dahinter oft auch große Angst vor Krankheit und Leid."
Ursula Groden-Kranich

Durch das Urteil von 2020 ist die „geschäftsmäßige Beihilfe“ zur Selbsttötung derzeit straffrei. Wo siehst Du für den Gesetzgeber den größten Handlungsbedarf?

Wir brauchen jetzt ein behutsames Abwägen. Dabei geht es nicht nur um Juristisches, sondern auch um Fragen der Medizin und der Psychologie. Wie lässt sich erkennen, ob sich ein Wille zum Suizid selbstbestimmt gebildet hat? Wie verhindert man fragwürdige Beeinflussung? Wenn Menschen in Umfragen oft sehr undifferenziert sagen, dass die Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt sein sollte, steckt dahinter oft auch große Angst vor Krankheit und Leid. Nicht zuletzt stellt sich auch für viele die Frage der Pflegebedürftigkeit: Was darf und kann ich erwarten, anderen zumuten? Das muss uns Anlass sein, den Weg zur Stärkung der Palliativmedizin, der Pflege, der Begleitung im Hospiz entschlossen weiterzugehen. Hier setzt uns das Bundesverfassungsgericht selbstverständlich keine Grenzen. Im Gegenteil, es würdigt diese Anstrengung, die es zu verstärken gilt.

Das Kolpingwerk hat sich schon vor Jahren klar positioniert und spricht sich auch weiterhin für ein Verbot der organisierten und geschäftsmäßigen Sterbehilfe aus. Wie schätzt Du die Chancen ein, dass es dazu kommt?

Um die Autonomie der Entscheidung über die Beendigung des eigenen Lebens vor inneren und äußeren Einwirkungen wirksam zu schützen, soll die geschäftsmäßige Suizidhilfe grundsätzlich strafbar sein. Damit die Umsetzung einer freiverantwortlichen Suizidentscheidung und die Inanspruchnahme der Hilfe Dritter nicht faktisch unmöglich wird, soll es jedoch unter sehr bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen geben. Um diesen schmalen Grad der Auslegung ringen wir gerade im Bundestag.

Bei der organisierten Suizidhilfe treten die Schutzpflicht des Staates und das Selbstbestimmungsrecht des Menschen in Konkurrenz zueinander. Wie kann eine Lösung aussehen, die beiden Verfassungsprinzipien gerecht wird?

Eine gesetzliche Regelung der Hilfe bei der Selbsttötung muss einerseits das Recht eines Sterbewilligen auf einen freiverantwortlichen Suizid und das Recht der Inanspruchnahme der Hilfe Dritter respektieren, andererseits aber besonders gefährdete Gruppen vor in­ne­ren und äußeren Einflüssen auf die Freiheit ihrer Willensbildung schützen. Dabei ist besonders zu be­rücksichtigen, dass die Umsetzung dieser Entscheidung über das eigene Leben unumkehrbar ist, und schon deswegen folgt aus dieser besonderen Gefähr­­dungslage und dem hohen Stellenwert des Schutzes der Autonomie und des Lebens ein Handlungs­auftrag an den Gesetzgeber. Ich könnte mir vor­stellen, dass wir den § 217 Abs. 1 um einen Abs. 2 er­gänzen und hier den Raum für unseren Gesetzesentwurf eröffnen.

Derzeit liegen drei Gesetzesentwürfe auf dem Tisch, die um Unterstützung aus allen Fraktionen werben: ein Entwurf der Abgeordneten Katrin Helling-Plahr, Karl Lauterbach und Petra Sitte, einer von den Grünen-Politikerinnen Renate Künast und Katja Keul sowie einer von den CDU-Abgeordneten Ansgar Heveling und Hermann Gröhe. Wie ist Deine Haltung dazu?

Ich werde mich vermutlich dem zurzeit in Bearbeitung befindenden überfraktionellen Gruppenantrag um die Bundestagsabgeordneten Heveling und Gröhe anschließen. In dieser Woche fand eine sehr sachliche erste Orientierungsdebatte statt. Ich selbst sehe mich bei Heveling und Gröhe.

Die ersten beiden Gesetzesentwürfe wurden vor zwei Monaten vorgestellt. Hast Du in dieser Zeit eine Tendenz unter Deinen Parlamentskolleginnen
und -kollegen dazu ausgemacht?

Viele Kolleginnen und Kollegen, die bereits in der letzten Legislatur die damalige Mehrheitsentscheidung mitgetragen haben, können sich auch in diesem dritten Gesetzesentwurf wiederfinden. Begleitend finden in digitalem Format parlamentarische Einladungen statt, wie beispielsweise diese Woche. Dabei kommen Menschen aus der Praxis sowie Vertreterinnen und Vertreter des Ethikrates zu Wort. Dies halte ich für die Meinungsbildung für sehr wichtig, denn es hilft auch mir, eine Entscheidung treffen zu können, hinter der ich mit voller Überzeugung stehen kann.  

Die aktuelle Legislaturperiode geht ihrem Ende entgegen. Die Beratungen im Bundestag werden zunehmend vom Wahlkampf überlagert. Ist es sinnvoll, ein ethisch so heikles Thema jetzt noch zur Beratung zu stellen?

Meiner Meinung nach gibt es für dieses sensible Thema keinen richtigen oder falschen Zeitpunkt. Wir müssen uns dieser Debatte stellen, wenn wir sie verschieben, wird es nicht besser.

Die Fragen stellten Michael Hermes und Christoph Nösser.

Hilfsangebote

Gespräch So ausweglos nach langem Leiden die Situation erscheinen mag: Es gibt Hilfe! Etwa Angebote der Palliativmedizin oder die Begleitung im Hospiz. Ein erster Schritt ist das Gespräch mit Familienangehörigen und Freunden, dem Arzt, Psychologen oder Pfarrer.

Telefonseelsorge Wer lieber anonym bleiben will, findet ein offenes Ohr bei der Telefonseelsorge. Die Nummern (0800) 1110111 und (0800) 1110222 sind kostenlos und rund um die Uhr erreichbar.

Fotos: Adobe Stock/mickyso, Laurence Chaperon, Kolpingwerk Deutschland