Ausgabe 1-2023 : Februar

Die Armut ist unsere Chance

Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 werden immer mehr Menschen in Deutschland bedürftig. Energiekrise und Inflation verschärfen weiter die Situation. Wie Armut trotzdem zur Chance werden kann, das zeigt der Kölner "Armenpfarrer" Franz Meurer – im Keller seiner Kirche und mit zahlreichen Ehrenamtlichen.

"Wir leben in einer Überflussgesellschaft. Die Welt ist voller Überfluss. Im Kern kann man sagen: Wir verscherbeln die Reste der Gesellschaft." Pfarrer Franz Meurer

Es sieht aus, wie ein riesiges Lager eines Großeinkaufszentrums: Fahrräder, Kinderwagen, Kisten mit Spielzeug, Kleiderständer und Kleidung für Groß und Klein. Mittendrin steht er – Franz Meurer, Pfarrer und Kolpingbruder. Denn dieses Lager ist das Basement der Kirche St. Theodor in Köln-Vingst. "Wir sagen nicht Keller, wir sagen Basement. Hört sich vornehmer an. Das sind 890 Quadratmeter für Soziales", erklärt Pastor Meurer und huscht in den Nebenraum, in dem deckenhohe Regale stehen, voll mit weiterer Kleidung und Schuhen für Kinder.

Hier lagern Dinge des täglichen Bedarfs, den sich viele Menschen nicht mehr leisten können. Und es werden immer mehr. Laut dem Paritätischen Gesamtverband, ein Wohlfahrtsverband, der sich für die Belange sozial Benachteiligter einsetzt, müssen in Deutschland 13,8 Millionen Menschen zu den Armen gezählt werden – ein neuer Höchststand. Vor allem die Pandemie hat die Armutsquote rasant steigen lassen: von 15,9 auf 16,6 Prozent innerhalb zwei Jahren.

Kleiderständer und Kisten bis zur Decke: Im Keller von St. Theodor lagern Dinge des täglichen Bedarfs, die sich viele Menschen nicht mehr leisten können.

Ohne die Ehrenamtlichen geht nichts

Im Lagerraum treffen wir auf Helga Gau, sie packt eine Kiste mit Kleidung. "Wir haben einen Notruf erhalten. Einer Familie ist die ganze Wohnung abgebrannt. Wir versorgen sie hier jetzt mit dem Nötigsten", sagt die Kölnerin und packt ein Paar Winterschuhe für Kinder in die Kiste. Seit über 30 Jahren engagiert sich Helga Gau in der katholischen Pfarrgemeinde St. Theodor und St. Elisabeth in den Kölner Stadtteilen Höhenberg und Vingst. Sie ist eine der vielen Ehrenamtlichen, die Pfarrer Meurer zur Seite stehen und den Laden hier mit schmeißen. "Ohne sie und die anderen würde es gar nicht funktionieren. Ich muss ja noch Hausbesuche machen, Menschen unter die Erde bringen und was man sonst noch so als Pfarrer macht", erklärt Pastor Meurer während er sich im Lager umschaut und überlegt, was man der Notfallkiste für die Familie noch hinzufügen könnte.

Woher kommen alle diese Spenden, frage ich. "Na, woher wohl…", antwortet der Pastor in seiner kölschen etwas ruppigen Art. "Wir leben in einer Überflussgesellschaft. Die Welt ist voller Überfluss. Im Kern kann man sagen: Wir verscherbeln die Reste der Gesellschaft."

Die katholische Kirche St. Theodor in Köln-Vingst. Im Kirchenkeller befindet sich das Lager für Soziales.

In dem Moment erscheint ein Mann vor der Glastür, die raus zur Auffahrt der Kirche führt. Er hat eine Kiste mit Kinderbüchern dabei. Seine Kinder seien nun zu alt dafür, erklärt der gebürtige Kölner, der anonym bleiben möchte. Auf die Frage, woher er denn wüsste, dass man hier Spenden annehme, muss der Mann schmunzeln. Pfarrer Meurer sei bekannt wie ein bunter Hund, was solle man da noch mehr sagen, erklärt er. Während sich der Pastor noch von ihm verabschiedet, fährt schon das nächste Auto vor. Ein Kastenwagen. Diesmal sind es Fahrrad-Spenden. Fünf Fahrräder, etwas verstaubt und eingerostet, hier und da müssten sie etwas aufgefrischt werden, aber sonst seien sie noch zu gebrauchen, erklärt der Spender. "Das ist ’ne Aufgabe für unseren Christoph Becker. Ein weiterer ehrenamtlicher Helfer", ruft der Pastor. Noch bevor ich es schaffe mich von den Fahrrädern abzuwenden, ist Pfarrer Meurer schon wieder zurück im Lager und auf dem Weg in die Fahrradwerkstatt. "Kommen Sie, kommen Sie!", ruft er mir hinterher – ich eile.

Zweimal die Woche geht der 71-Jährige zum Aqua-Jogging, jeweils morgens um 6.30 Uhr. Den Weg ins Schwimmbad nimmt er mit dem Fahrrad. Und auch sonst ist der Pastor, der seit 1992 Kolpingmitglied ist, hauptsächlich mit dem Drahtesel unterwegs, bei Wind und Wetter. Dass er fit ist, merkt man sofort. Mit ihm Schritt halten zu können, ist gar nicht mal so einfach. In der Fahrradwerkstatt angekommen, bespricht er mit Christoph Becker alles weitere. "Ich werde mir jetzt die Fahrräder anschauen. Oft laden die Leute hier auch einfach ihren Schrott ab, weil sie denken, man könnte es noch gebrauchen. Das kommt leider auch manchmal vor", sagt der ehrenamtliche Fahrradexperte. Als Vorsitzender des Gemeinderats engagiert auch Christoph Becker sich schon seit Jahren in dieser Gemeinde. Jetzt als Rentner sogar nochmal etwas mehr. "Ich bin ja noch fit, da kann ich noch viel machen", erklärt der Kölner, der vor der Rente als Ingenieur tätig war. Jetzt repariert er Fahrräder, die dann wiederrum an Bedürftige verteilt werden. Fast 3.000 Stück pro Jahr.

"Wir leben davon, dass die Leute ihren Beitrag leisten. (…) Die Armut ist unsere Chance!" Pfarrer Franz Meurer

Spenden kann man jederzeit

Und jeder der Hilfe braucht, kann hierherkommen. "Im Winter kommen immer mehr Menschen als im Sommer. Ganz aktuell brauchen die Menschen aber mehr finanzielle Unterstützung. Und das ist das Problem, da habe ich ein bisschen Angst vor, wenn die Stromrechnungen explodieren oder die Heizungsrechnungen. Die Leute haben keinen Puffer, die haben kein Fett angesetzt. Finanziell können wir nur ein bisschen helfen. Klar, wir bekommen Geldspenden, aber das reicht natürlich nicht", weiß Pastor Meurer.

Dieses Problem sieht auch der Paritätische Gesamtverband. Wie eine Sprecherin des Verbands auf Anfrage von Kolpingwerk Deutschland erklärt, haben die starken Preissteigerungen, insbesondere bei Energie und Lebensmitteln, die Armut erheblich vertieft. Arme Menschen haben noch weniger Kaufkraft als im vergangenen Jahr und wissen häufig gar nicht mehr, wie sie finanziell über den Monat kommen sollen.

Ob Lebensmittelausgabe, Kleiderkammer oder Bücherei: ohne die Ehrenamtlichen würde das alles nicht funktionieren.

Weiter heißt es, dass angesichts deutlich gestiegener Energiepreise Haushalte ihre Ausgaben umschichten müssen. Für Arme sei das aber kaum möglich, sodass eine Verschuldung oder sogar eine Sperrung von Strom oder Gas und im schlimmsten Fall der Verlust der Wohnung drohe. Die soziale Not zeige sich deutlich an einer wachsenden Zahl von Menschen, die auf Hilfe der Tafeln angewiesen sein – zuletzt waren es mehr als 2 Millionen.

Die steigenden Zahlen machen sich dort bemerkbar: 2022 gab es im bundesweiten Durchschnitt 50 Prozent mehr Kund*innen bei den Tafeln als noch im Jahr davor. Hinzu kommt, dass es mittlerweile auch weniger Lebensmittelspenden gibt. "Wir merken, dass die Supermärkte anders kalkulieren, weil sie gemerkt haben, dass viele Lebensmittel übrigbleiben. Wir begrüßen das grundsätzlich, aber das führt auf der anderen Seite natürlich dann dazu, dass wir weniger Lebensmittelspenden erhalten", erklärt Pascal Kutzner von Tafel Deutschland e.V.

Die Folge: Tafeln und Ehrenamtliche geraten an ihre Grenzen. 2022 mussten zwischenzeitlich rund ein Drittel der Tafeln ein Aufnahmestopp verhängen und neue Kund*innen auf Wartelisten setzen. Auch Pfarrer Meurer kennt dieses Problem. Jeden Dienstag findet in St. Theodor die Lebensmittelausgabe statt. Letzten Dezember musste auch die Gemeinde im Kölner Osten einen Aufnahmestopp verhängen.

Laut dem Paritätischen Gesamtverband müssen in Deutschland 13,8 Millionen Menschen zu den Armen gezählt werden – ein neuer Höchststand. Vor allem die Pandemie hat die Armutsquote rasant steigen lassen: von 15,9 auf 16,6 Prozent innerhalb zwei Jahren.

Leben am Existenzminimum

Die Kölner Stadtviertel Höhenberg, Vingst und Kalk gelten als die ärmsten Viertel Kölns. In Kalk gab es nach Angaben der Stadtverwaltung im Dezember 2021 mit 13,8 Prozent die höchste Arbeitslosenquote in ganz Köln. "In Kalk war mal der umsatzstärkste Kaufhof Deutschlands in Relation zur Einkaufsfläche. Hier haben die Arbeiter gewohnt. Jetzt wohnen hier die Menschen, die am Fliegenfänger kleben", erklärt Pfarrer Meurer.

Die Armut sieht Pfarrer Meurer gleichzeitig als Chance und erklärt: "Wir leben davon, dass die Leute ihren Beitrag leisten. Ein Beispiel: Ein evangelischer Pfarrer hat 15 Jahre lang die Toiletten in unserer Kinderstadt HöVi für 900 Menschen jeden Tag selber geputzt. Eines Abends kam ein Ehepaar, dem eine Reinigungsfirma gehört und bot Hilfe an. Seitdem werden die Toiletten professionell geputzt. Die Armut ist unsere Chance!"

Ein 'inkarnatorischer' Gedanke

HöVi – die Abkürzung steht für die Kölner Viertel Höhenberg und Vingst. Man denke nämlich nicht in Gemeinden, man denke in Vierteln, erklärt mir der 71-Jährige. Zusätzlich versuche man hier, von den Menschen ausgehend, zu denken: Was fehlt hier? Was brauchen die Menschen? Was passt? "Wenn man so will, ist das ein tief 'inkarnatorischer' Gedanke. Im Grunde machen wir also etwas ganz Weihnachtliches. Gott hat ja nicht Blitze auf die Welt geschickt, sondern geschaut, was passt? Also hat er seinen Sohn Mensch werden lassen", sagt Pastor Meurer.

Runtergebrochen auf die Viertel Höhenberg und Vingst heißt das folgendes: Einmal die Woche gibt es in St. Theodor eine Lebensmittelausgabe. Zudem befindet sich dort die einzige Bücherei im ganzen Viertel. Eine Kinder- sowie eine Erwachsenenkammer. Schulen, Vereine und Einrichtungen im Viertel werden nach Möglichkeit unterstützt. Sternsinger, Kinderstadt HöVi, Familienwerkstatt. Alles, was möglich ist, läuft ökumenisch und das meiste wird von Ehrenamtlern übernommen – denn ohne sie würde das alles nicht funktionieren.

Vermögens-Zuwachs von 2020 bis 2021

Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland einen neuen Höchststand. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Das entspricht einer Armutsquote von 16,6 Prozent.

Eine Person gilt nach der EU-Definition als armutsgefährdet, wenn sie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung zur Verfügung hat. 2021 lag dieser Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland bei 15.009 Euro netto im Jahr, also 1.251 Euro im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 31.520 Euro netto im Jahr, also 2.627 Euro im Monat.

Die gegenwärtige Energiekrise, Inflation und Reallohnverlust tuen ihr Übriges. Wie die Not­hilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam in ihrem Bericht zur sozialer Ungerechtigkeit zusammenfasst, sind gerade die ärmsten 50 Prozent der Bevölkerung, die kaum nennenswertes Vermögen besitzen oder sogar verschuldet sind, von den Auswirkungen der gegenwärtigen Krisen betroffen. Dabei sind Frauen nochmal mehr davon betroffen, weil sie während der Corona-Pandemie besonders stark unter den Mehrbelastungen gelitten haben. Durch die teilweise Schließung von Schulen und Betreuungseinrichtungen, sahen sich insbesondere viele Frauen gezwungen ihre Erwerbstätigkeit zu reduzieren oder aufzugeben, was die bestehende Ungleichheit zwischen Männern und Frauen vergrößern dürfte.

Gleichzeitig gibt es immer mehr reiche Menschen. Laut Oxfam ist 2021 die Zahl der Millionär*innen um ca. 6,4 Prozent auf mittlerweile rund 1,6 Millionen Menschen gestiegen. Hinzukommt, dass die Reichen immer reichen werden. Oxfam hat berechnet, dass von dem gesamten neuen Vermögen, das zwischen 2020 und 2021 in Deutschland erwirtschaftet wurde, 81 Prozent an das reichste Prozent gingen.

Fotos: Barbara Bechtloff