Ausgabe 3-2020 : Juli

Altes verstehen, Neues leben

Knapp elf Jahre sind die Mitglieder in ostdeutschen Kolpingsfamilien im Schnitt älter als im Rest Deutschlands. Ein Nachteil muss das nicht zwangsläufig sein – sofern eine wichtige Voraussetzung erfüllt wird.

Maria wirkt ein bisschen gelangweilt. Das Jesuskind im Arm, schaut sie unter dem blauen Kopftuch, das nur den hinteren Teil ihrer Haare bedeckt, nahezu ausdruckslos ins Leere. Dabei herrscht um sie herum endlich mal wieder etwas Leben. In den vergangenen Monaten war die fast lebensgroße Statue der Mutter Gottes die einzige menschliche Gestalt, die sich hier länger als nur für ein paar Minuten aufhielt. Hier im Gemeindesaal der katholischen Kirche in Pößneck. Thüringen. 13.000 Einwohner.

Hinweise darauf, dass Maria von ihrem Platz in der hinteren Ecke des Raumes deutlich mehr Trubel beobachten darf, finden sich jede Menge. An den Wänden hängen selbst gestaltete Plakate, die an die religiösen Kinderwochen der vergangenen Jahre erinnern, an den Fensterscheiben lila-weiße Papierblumen. Und auf den Fensterbänken warten Liederbücher und rote Herder-Bibeln darauf, dass Gläubige sie mal wieder in die Hand nehmen. „Durch Corona ist hier alles zum Erliegen gekommen“, sagt Andreas Blümel. „In der Gemeinde und natürlich auch bei uns in der Kolpingsfamilie.“ Die leitet der 56-Jährige seit 1992.

Andreas Blümel leitet die Kolpingsfamilie Pößneck seit 1992 und ist Mitglied des Bundesvorstandes des Kolpingwerkes Deutschland.

Er und sein Sohn Alexander (20) sind die Gründe dafür, dass Maria und ihr kleiner Jesus im Gemeindesaal mal wieder etwas Gesellschaft erhalten. Mitgebracht haben sie einiges. Auf dem weißen Holztisch türmen sich dicke Fotoalben, die ebenso in die Jahre gekommen sind wie ein im Größenvergleich nahezu unscheinbares Notizbuch: Grün-grau gemustert, leicht vergilbte Seiten – die Chronik der 1958 gegründeten Kolpingsfamilie Pößneck. Hilfsmittel, um mit einem schnellen Fingerzeig gerade Gesagtes zu unterstreichen. Hilfsmittel, um an diesem sonnigen Vormittag eine ganze Reihe an Fragen zu beantworten. Wie sieht die Situation für Kolpingsfamilien in Ostdeutschland derzeit aus? Womit haben sie zu kämpfen? Was macht ihnen Hoffnung? Und wie sah der Alltag einer Kolpingsfamilie eigentlich vor der Wende aus? Andreas Blümel – kurze rotblonde Haare, blau-weiß kariertes Hemd mit kurzen Ärmeln – lässt sich nicht lange bitten. Doch so leicht sei es gar nicht, zu erklären, wie die Lage für Kolpingsfamilien in Ostdeutschland im Jahr 2020 ist, sagt er, lehnt sich leicht vor und legt den linken Ellenbogen auf den Tisch. „Um das zu verstehen, muss man eigentlich bis in die DDR-Zeit zurückgehen.“ Also: Auf zur Zeitreise!

Eine Zeitreise

Es ist 1985. An der Größe des Gemeindesaals hat sich nichts verändert, an der Inneneinrichtung hingegen eine ganze Menge. Es herrscht 80er-Jahre-Chic eben. Andreas Blümel ist zu diesem Zeitpunkt noch kein Mitglied der Pößnecker Kolpingsfamilie, aber schon seit einem Jahr immer wieder bei den wöchentlichen Kolpingabenden dabei. „Meistens hat dann einer von uns zu einem bestimmten Thema gesprochen“, erzählt er. „Es wurde aus dem Leben Adolph Kolpings berichtet, aus seinen Schriften vorgelesen, theologische Themen wie das Zweite Vatikanische Konzil besprochen oder auch einfach nur über Alltagsfragen geplaudert – etwa über Kochmoden oder eine bestimmte Diät.“ Die Kolpingabende seien mehr als bloß Treffen gewesen, meint Blümel. Vielmehr ein geschützter Raum, etwas wie Heimat. Eine kleine alternative Welt zu den Realitäten draußen in der Gesellschaft. „Heute gibt es diese Trennung nicht mehr.“

Alexander Blümel studiert in Hamburg Jura, leitet aber auch weiterhin die Kolpingjugend im Diözesanverband Erfurt.

Was nicht ins Bild passte

Dass die Zusammenkünfte in Räumen der Gemeinde stattfanden, hatte mehr als nur einen religiösen Grund – vor allem einen elementaren: Ohne Kirche kein Kolping. Eine Gruppe Bürger, die die Ideen eines Priesters offen nach außen weiterträgt? Eines Priesters, der sich unter anderem für Handwerksgesellen eingesetzt hat? Nicht denkbar in einem Land, dessen Staatsideologie der atheistische Marxismus-Leninismus ist. Die Lehre und das Engagement Kolpings passte da nicht ins Bild.

Die einzige Chance, dennoch regelmäßig zusammenzukommen: Das stille Wirken in der Gemeinde vor Ort. „Damals hing im Grunde alles vom Pfarrer ab“, erklärt Andreas Blümel. „War er dagegen, konnte es in der DDR keine Kolpingsfamilie geben.“ Waren die Geistlichen einverstanden, durften sie sich im Gegenzug sicher sein, dass die engagierten Kolpinger einen Großteil der Kirchenarbeit mittrugen. Ob als Organist, im Chor oder als Lektor. „Das gilt für so gut wie alle Kolpingsfamilien im Osten“, sagt der 56-Jährige, der im Kolpingwerk Deutschland den Bundesfachausschusses „Gesellschaft im Wandel“ leitet.

Um nicht weiter aufzufallen, seien viele Kolpingsfamilien in der DDR ohnehin geschlossene Kreise gewesen. Die Zeitung einzuladen? Öffentliche Veranstaltungen auszurichten? „Auf die Idee wäre niemand gekommen“, meint Blümel. „Fremde Leute im Gemeindesaal waren undenkbar.“ Kein Wunder, dass neue Mitglieder in Pößneck nur heimlich aufgenommen wurden. Derzeit kommt die Kolpingsfamilie auf 25 Mitglieder. Wie groß sie in der Zeit seit ihrer Gründung war? Das ist nicht mehr festzustellen, ein Mitgliedsbuch gab es nicht. Bloß keine unnötigen Spuren hinterlassen. Nicht mit etwas auffallen, das einem später auf die Füße fallen könnte.

Blümel lehnt sich über den Tisch und greift nach der Chronik. Für einen kurzen Moment droht das Smartphone in der Brusttasche seines Hemds den Halt zu verlieren, widersteht dann aber doch der Schwerkraft. Mit dem Zeigefinger blättert er schnell durch die handgeschriebenen Seiten. „Man wird hier drin daher von unseren damaligen Veranstaltungen so gut wie keine Fotos finden. Es sei denn, es sind so viele Menschen drauf, dass man keine einzelnen Personen erkennt.“ 1986 steht in feiner Schreibschrift auf dem linierten Papier der Chronik, als erstmals auch Bilder zu sehen sind. „Damals entstanden erste Kontakte zu Kolpingsfamilien aus dem Westen, die die Fotos dann bei ihrem nächsten Besuch mitbrachten“, sagt Blümel.

Wie eine Explosion

Was passieren kann,wenn man nicht denVorstellungen des Staates entspricht, hat er selbst zu spüren bekommen. Die Mitgliedschaft in der CDU kostete ihn den angestrebten Studienplatz. Das selbstauferlegte Stillhalten der Kolpingsfamilie schien allerdings zu helfen, keine Probleme mit dem Staatssicherheitsdienst zu bekommen. „Die Stasi saß gleich in dem Gebäude schräg gegenüber der Kirche“, sagt Blümel, der seine Berufung längst als Leiter des örtlichen Ordnungsamtes gefunden hat. „Die haben uns bestimmt beobachtet und gewusst, was bei uns Kolpingern läuft. Aber dadurch haben sie auch gewusst, dass wir für den Staat nicht schädlich sind und dass nichts unternommen werden muss.“ Durch den kleinen Kreis von knapp 35 bis 40 Mitgliedern, die sich bestens kannten, habe es so einen Freiraum gegeben, in dem auch mal ein politischer Witz gerissen und ein kritisches Wort geäußert werden konnte. „Weil man sich sicher war, dass das hier blieb.“

Dann fiel die Mauer. Wie eine Explosion sei 1990 gewesen, meint Blümel. „Plötzlich konnte man alles sagen und das umsetzten, was man schon so lange umsetzen wollte.“ War Bildungsarbeit jahrzehntelang nur im Kleinen möglich, durfte nun größer gedacht werden. Schon ein Jahr später eröffnete das Kolping-Bildungswerk Thüringen in Erfurt seine Türen – mit Außenstellen in Heiligenstadt, Rudolstadt und Pößneck. „Da dachten alle, dass nun alles gut wird und so glatt weiterläuft. Es war auch tatsächlich über viele Jahre eine gute Zeit, aber dann hat hier im Osten der Aderlass der Jugend begonnen.“ Immer mehr Jugendliche zog es in den Westen. Wegen besserer Berufsaussichten oder Studienplätze. „Die Aktiven, die in der Lage wären, hier den Vorsitz zu übernehmen, kommen leider in den seltensten Fällen zurück.“

Ortswechsel: Erfurt. Immer noch Thüringen. 210.000 Einwohner. Im Gemeindehaus der St. Severi-Kirche gleich neben dem Dom wartet Michael Meinung zwischen Aktenordnern, Schnellheftern und Fotoalben. Voll mit Bildern, Zeitungsausschnitten und Dokumenten über die Kolpingsfamilie Erfurt, deren Vorsitz er 2016 nach über 15 Jahren abgab. Allein die Biographie des 74-Jährigen böte wohl genügend Stoff für ein eigenes Buch: In der DDR Zeitungsjournalist, nach der Wende erst Pressesprecher der Stadt Erfurt und schließlich Regierungssprecher unter drei Thüringer Ministerpräsidenten.

Wie in Pößneck war auch die Kolpingsfamilie Erfurt eng mit der Pfarrgemeinde verbunden. „Wir hatten dabei aber das Problem, dass es in Erfurt zwölf Pfarreien gibt“, erzählt Meinung. Trotz mehrfachen Versuchen sei es nie gelungen, in anderen Pfarreien Kolpingsfamilien zu gründen, sodass es bei einer blieb. Und die war stark bemüht, kirchliches Leben zu schaffen. „Wir waren kein Kegelklub, wir waren kein Wanderverein, wir waren die Kernschar der katholischen Gemeinde beziehungsweise Teil der Erwachsenenseelsorge“, betont der 74-Jährige. Besonders beliebt waren die Kolpinger bei den Bischöfen vor allem für das sogenannte Handwerkerdiakonat – in dessen Rahmen sie unentgeltlich kirchliche Immobilien instandhielten. Anders als im knapp 100 Kilometer entfernten Pößneck wollte die Erfurter Kolpingsfamilie nicht so gut wie anonym bleiben. „Wir haben öffentlich über uns berichtet“, erzählt Meinung, der selbst Artikel für die Kirchenzeitung oder CDU-Zeitungen verfasste. „Wir haben auch unsere Banner immer gezeigt. Wer uns sehen wollte, hat uns gesehen.“ Vorsichtig seien zwar auch sie gewesen, hätten aber keine Ängste gehabt. Eine Mitgliederliste habe es in Erfurt daher durchaus gegeben. 

So unterschiedlich der Alltag in den ostdeutschen Kolpingsfamilien auch war, eine Sorge haben sie so gut wie alle: Die um den Nachwuchs. „Wir hatten in der DDR mal 150 Kolpingsfamilien, fünf bis sechs sind verloren gegangen“, sagt Meinung. 20000 Katholiken habe es in Erfurt zu Spitzenzeiten gegeben, also zehn Prozent der Einwohner. „Jetzt sind es gerade noch sechs Prozent“, rechnet er vor. „Daraus müssen wir unseren Nachwuchs für die Jugend gewinnen.“ Noch schwerer macht es der Traditionsabbruch. So bezeichnete es der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack in der Süddeutschen Zeitung, dass nur weniger als 30 Prozent westdeutscher 16- bis 25-Jähriger von sich sagen, sie hätten eine religiöse Erziehung genossen. Die Zahlen für Ostdeutschland seien sogar noch niedriger.

Und doch gibt es ihn, den engagierten Nachwuchs. „Leider nicht hier in Erfurt, was ganz schlimm ist, aber im Eichsfeld haben wir eine ganz tüchtige Kolpingjugend“, sagt Michael Meinung. Einer deren vier Diözesanleiter sitzt im Pößnecker Gemeindesaal und hat in der letzten Stunde gespannt zugehört, was sein Vater über die Zeit vor 1990 erzählt hat. „Für mich ist das alles gar nicht mehr vorstellbar“, sagt Alexander Blümel. „Meine Generation kann sich treffen, wo sie möchte, kann planen, was sie möchte, und kann vor allem reisen, wohin sie möchte.“

Michael Meinung gründete 1978 den katholischen Karneval Klub Helau Erfurt (KKH) – unter anderem, um so christliche Jugendliche für Kolping zu gewinnen.

Keine starke Bindung

Das Reisen ist es auch, womit es der Kolpingjugend im Diözesanverband Erfurt regelmäßig gelingt, Jugendliche von ihrem Angebot zu überzeugen. Zum wahren Vorzeigeprojekt ist die Ukrainehilfe geworden. 2005 suchte die Kolpingsfamilie Pößneck in den eigenen Reihen nach Spendern, die pro Monat zehn Euro für ein Patenkind in der Ukraine geben. Inzwischen freuen sich nicht nur 28 ukrainische Kinder über monatliche Zuwendungen, sondern Jugendliche in beiden Ländern über gegenseitige Besuche. „In einem Jahr kommen die ukrainischen Jugendlichen hierher, schauen sich unsere Kultur und die Arbeit der Kolpingjugend an, und in einem anderen Jahr fahren wir in die Ukraine und verbinden ein Kulturprogramm mit sozialen Hilfs- oder Verschönerungsaktionen im Dorf“, erklärt Alexander Blümel. In erster Linie gehe es darum, sich kennenzulernen und Kontakt zu anderen europäischen Jugendlichen aufzubauen. „Da sehen viele erst einmal, wie gut wir hier in Deutschland leben.“

Trotz des Erfolgs solcher Fahrten sieht er ähnliche Probleme wie sein Vater. „Wir haben wenige Jugendliche, die sich nur an eine Organisation binden wollen“, sagt der 20-Jährige. Zwar würden viele Jugendliche gerne an bestimmten Projekten mitarbeiten wollen, „aber es macht kaum jemand den Schritt, dass er sich an eine Kolpingsfamilie bindet“. Da merke man schon, dass die Kolpingbindung nicht sehr stark von den Eltern an die Kinder vererbt werde, findet Laura Eberhardt, die ebenso wie Alexander Blümel zum Diözeanleitungsteam gehört. „Die Jugendlichen kommen da eher von außerhalb“, sagt die 22-Jährige. Etwa über die Kolping-Kindertage. „Da bleiben wir dann dran, weil die meisten ja schon von Kolping gehört haben.“

Dass sie damit erfolgreich sind, freut auch Michael Meinung. Trotzdem sieht er die große Herausforderung, dass die ostdeutschen Kolpingsfamilien überaltert sind. 66,47 Jahre beträgt das Durchschnittsalter der Diözesanverbände Dresden-Meißen, Erfurt, Görlitz, Magdeburg und Berlin. Gut elf Jahre mehr als in den restlichen 22 Diözesanverbänden (55,32). Hinzu komme, dass von den einstmals 4 000 Mitgliedern in Ostdeutschland nur noch 3 500 übriggeblieben sind – nun allerdings mit Gesamt-Berlin.

Zu negativ will Andreas Blümel die Zahlen dennoch nicht gedeutet wissen. „Masse ist ja nicht gleich Klasse“, sagt er. Denn Hoffnung macht ihm ein anderer Trend. Zwar verlassen Jugendliche nach der Schulzeit verstärkt Ostdeutschland, dennoch gibt es mehr Zu- als Wegzüge. Das liegt vor allem an Menschen im oder kurz vor dem Rentenalter. „Dann müssen wir die Kolpingsarbeit im Osten auch so verstehen, dass wir Jugendarbeit dort, wo es geht, zwar unterstützen, uns zukünftig aber eher auf eine Bildungsarbeit für Ältere konzentrieren.“ Wer 30 Jahre Steuerberater war, könne in der Kolpingsfamilie ja etwa einen Kolpingabend zu steuerlichen Fragen veranstalten. „Und vielleicht kann man so jemanden dann bei Kolping einbinden.“ Dann, wenn die Corona-Beschränkungen wieder gelockert und größere Veranstaltungen wieder zugelassen werden – und Maria im Gemeindesaal wieder unter Menschen ist.


Fotos: Barbara Bechtloff