Ausgabe 4-2020 : November

1 Jahr Arbeiten, 1 Jahr Warten, 1 Jahr Reisen

Auf ins Ungewisse – für drei Jahre und einen Tag. Wandergesellinnen und -gesellen auf der Walz begeben sich jeden Tag aufs Neue in ein Abenteuer. Doch was steckt eigentlich dahinter?

Es ist ein sonniger Spätsommertag im September. Vincent, Elisabeth und Elgin laufen durch Köln. Sie werden von einer Fotografin begleitet; gerade noch schauen sie freundlich zur Kamera, dann ändert sich ihre Haltung und sie schauen betont weg. Eine fremde Person hat sich ungefragt dazu gesellt und einfach drauflosgeknipst. Der Mann sei kein Einzelfall, immer wieder würden sie ungefragt fotografiert. „Wenn die Menschen einfach nett fragen würden, dann lasse ich auch gerne ein Foto von mir machen“, erklärt Vincent. Grundsätzlich würde er ja verstehen, dass die Leute Fotos machen wollen, denn „unsere Kluft ist ja wirklich was Besonderes“.

Tatsächlich fallen die Drei im Stadtbild auf, denn sie schauen ein bisschen wie aus der Zeit gefallen aus. Als Wandergesellinnen und -gesellen auf der Walz haben sie sich dafür entschieden, drei Jahre und einen Tag lang auf Wanderschaft zu gehen. Während dieser Zeit dürfen sie ihrem Heimatort nicht näher als 50 Kilometer kommen. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie durch ihre Arbeit, aber für Reise und Unterkunft dürfen sie nicht selber zahlen. Nur das Wichtigste haben sie dabei. Ein Handy? Nein. Höchstes eine kleine Kamera, um Erinnerungen festzuhalten.

Seit dem Mittelalter gibt es die Walz. Die Gesellinnen und Gesellen auf Wanderschaft tragen eine besondere Kluft: Sie besteht aus einer Hose mit zwei Reißverschlüssen, einer Weste, einem Jackett und einem schwarzen Hut. Außerdem gehört zu der Kluft ein weißes Hemd. Einige Gesellinnen und Gesellen, die in einer Gesellenvereinigung (einem Schacht) reisen, tragen eine Ehrbarkeit – eine Art Krawatte. Eine besondere Rolle spielen die Farben der Kluft, denn sie zeigen, welches Handwerk die Person gelernt hat und zu welchem Schacht sie gehört. So sind zwei Teile der Kluft in der Farbe des Gewerkes und die Ehrbarkeit hat die Farbe des Schachts. In dieser Form ist die Kluft erst im vergangenen Jahrhundert entstanden; vorher sind Wandergesellen in ihrem Sonntagsrock unterwegs gewesen – so wie der Geselle im Kolpingdenkmal an der Minoritenkirche. Von Vincents Kluft sind zwei Teile rot. Er ist Raumausstatter und sein Handwerk gehört zu den Textilgewerben. Seine Ehrbarkeit ist grau und zeigt so, dass er Teil des freien Begegnungsschachts ist. 

Das Gepäck auf Wanderschaft wiegt meist zwischen acht und 15 Kilogramm. Es besteht aus einer Hauptrolle, in der die Arbeitskleidung ist, und zwei „Specki“, in denen Schlafsachen, Wechsel­klamotten verstaut sind. 

Vincent ist ein richtiger Kolpinger. Als ehemaliger Diözesanleiter der Kolpingjugend im Diözesanverband (DV) Aachen war er nicht nur im eigenen DV bekannt, sondern auch auf Bundesebene für seine Mitarbeit in der AG Europa sowie für seine kritischen Nachfragen – sei es auf Bundeskonferenzen oder bei der Europawoche in Brüssel. Der 26-Jährige ist Handwerker – einer der wenigen in der Kolpingjugend. Durch seinen Beruf brachte er immer eine andere Perspektive in die Debatten ein. Irgendwann verkündete Vincent, dass er auf die Walz gehen wird. Und so wurde am 11. November 2019 aus Vincent Stenmans, Vincent fremder (frd.) Polsterer im freien Begegnungsschacht. Jetzt ist er mit Elisabeth frd. Tischlerin im freien Begegnungsschacht und Elgin frd. Stuckateurin Aspirantin im freien Begegnungsschacht in Köln zu Besuch.

Wandergesellinnen und -gesellen trennen sich mit dem ersten Tag ihrer Wanderschaft von ihren Familiennamen. Für die nächsten drei Jahre sollen sie mit ihrem Handwerk verbunden sein und nicht mit der Familie. Und warum sind die drei fremd? So lange sie auf Wanderschaft sind, sind sie immer und überall fremd. Es gilt sogar: „Wenn der Postbote dich grüßt und der Nachbarshund dich kennt, dann ist es an der Zeit weiterzuziehen.“ Kehren sie von ihrer Wanderschaft zurück nach Hause, so werden sie Einheimische und das frd. wird durch ein ehm. ersetzt. 

Auf Wanderschaft sind die Gesellinnen und Gesellen entweder alleine als freie Wandergesellen oder sie schließen sich einem Schacht an. So haben es auch Vincent, Elgin und Elisabeth getan: Sie sind im freien Begegnungsschacht unterwegs – einer der wenigen von insgesamt neun Schächten, in denen auch Frauen willkommen sind.

Vincent ist Raumausstatter und wusste lange nicht, dass auch er mit seinem Beruf auf die Walz gehen kann.

Elgin ist bei ihrem Besuch in Köln noch Aspirantin im freien Begegnungschacht – was bedeutet, dass sie noch in einer Art Probephase ist. Denn von Zuhause losgezogen ist sie erst zwei Monate zuvor, im Schnitt beträgt die Zeit als Aspirantin aber drei Monate. Eigentlich ist sie gerade ganz alleine unterwegs, weil sie von ihrer Altgesellin mit einem Aufgabenzettel losgeschickt wurde. Diese begleitet Elgin während der ersten Zeit. Sie zeigt ihr alles, was für die Wanderschaft wichtig ist: Wie funktioniert das Reisen? Wie verhält sie sich auf der Wanderschaft? Besonders die Geschichte der Wanderschaft sei wichtig, wirft Vincent ein, denn „die erzählt man 30 Mal am Tag beim Trampen.“ Auf Elgins Aufgabenzettel ist die Aufgabe vermerkt, acht Städte und die Eltern ihrer Altgesellin zu besuchen. Als Nachweis spricht sie in jeder Stadt, also auch in Köln, im Rathaus vor und bittet um das Stadtsiegel in ihrem Wanderbuch. 

Elgin ist Stuckateurin und erst seit ein paar Monaten unterwegs.
Der Hut ist unsere Freiheit. Wir ziehen ihn vor niemandem.
Vincent

Der Stenz ist der beste Reisekamerad: Er meckert nicht, hat keinen Hunger, muss nicht aufs Klo, trägt das Gepäck und ist immer an deiner Seite.

Und dann klopfen die Gesellinnen und Gesellen einfach bei Betrieben an die Türe und fragen nach Arbeit. Sie gehen zwar meist nicht auf gut Glück zu einem Betrieb, sondern tauschen sich untereinander über besonders gute Betriebe aus oder der Buschfunk hilft auf der Suche nach offenen Stellen.

Tatsächlich aber sind die Zeiten, in denen Vincent arbeitet, manchmal viel mehr wie Urlaub als das Reisen, „du hast einen Rhythmus und weißt, wo du abends schläfst“. Einen Schlafplatz zu finden kann eine echte Herausforderung sein. Nicht selten schlafen sie unter freiem Himmel – ohne dabei als Wandergesellinnen und -gesellen zu erkennen zu sein. „Wir sind freiwillige Obdachlose“, erklärt Elisabeth. Durch den Corona-Lockdown blieb sie erst drei Monate bei einer Familie, in deren Betrieb sie damals arbeitete. Das war Glück für sie, aber ist tatsächlich auch die längste Zeit, die Gesellinnen und Gesellen in einem Betrieb bleiben sollen. Dann reiste sie an einem Tag von Hamburg nach München und kam dort sehr spät am Abend an. Coronabedingt hatte schon alles zu und Gasthäuser hatten sowieso geschlossen. „Tatsächlich habe ich noch eine Gruppe Jugendlicher getroffen. Aber die haben noch bei den Eltern gewohnt, da bieten die einem auch nicht so einfach einen Schlafplatz an.“ Die Nacht verbrachte sie dann auf einer Parkbank auf dem alten Nordfriedhof in München.

Kolpinghäuser sind in einem solchen Fall gute Anlaufpunkte auf der Walz. Vincent weiß: „Viele kennen die Kolpinghäuser und wissen auch, dass sie da eigentlich immer einen Platz zum Schlafen finden. Aber wieso das so ist, wissen die meisten nicht.“ Als Kolpinger auf der Walz hat er sich vorgenommen, seine Mitgesellinnen und -gesellen über Kolping aufzuklären. 
 

Elisabeth ist mit Leib und Seele Tischlerin. Schon in der Grundschule wusste sie, dass sie diesen Beruf einmal ergreifen will.

Die Walz ist vor allem in Deutschland verbreitet und bekannt. Hier ist die Kluft auch oft ein Türöffner. Egal wann und wo, die Menschen reagieren meist neugierig und es entwickeln sich schnell Gespräche. Auch wenn nicht alle die Walz kennen, erkennen sie die Wandergesellinnen und -gesellen als solche. Anders ist das im Ausland. Dort reagieren die Menschen zwar auch neugierig, aber „du bist da alles von Zauberer bis Zirkusmensch“, erzählt Vincent. Deshalb sollen die Gesellinnen und Gesellen in ihrem ersten Jahr im deutschsprachigen Raum bleiben, danach kann es sie aber in die ganze Welt verschlagen.

Genau das reizt Vincent so an der Walz, „du weißt nicht, wo du am Abend sein wirst“. Und: „Ich habe einfach Bock auf mein Handwerk und darauf, noch mehr zu lernen.“ Von der Walz hat er zum ersten Mal als Kind bei der Sendung mit der Maus gehört, wusste aber lange nicht, dass er als Raumausstatter auch auf Wanderschaft gehen kann. In einem Fernsehbeitrag hat er dann über eine Gesellin erfahren, die auch Raum­ausstatterin ist (und später seine Altgesellin wurde). Dann stand die Entscheidung fest.  

Hinter Elisabeths Entscheidung steht noch eine ganz bestimmte Motivation. Sie ist immer ein eher introvertierter Mensch gewesen, war mehr mit ihren Büchern unterwegs als mit Menschen. Das wollte sie ändern. Und wo geht das besser als auf der Walz? „Du bist so darauf angewiesen, andere Menschen anzusprechen. Dann machst du das auch“, erklärt sie. Auch sie treibt an, dass sie sich nach ihrer Ausbildung fragte, ob das wirklich schon alles gewesen sei. Sie ist Tischlerin durch und durch; wusste schon seit der Grundschule, dass sie den Beruf ihres Vaters lernen möchte. Nach der Ausbildung wollte sie dann etwas mehr Abenteuer. „Ich mag Dreijahrespläne: drei Jahre Abi, drei Jahre Ausbildung, da passen drei Jahre Wanderschaft perfekt oben drauf“, sagt Elisabeth und lacht. Zu Beginn der Wanderschaft hatte sie sogar kein einziges Buch dabei. „Das ist ein völlig neues Gefühl, so ganz alleine mit sich zu sein.“ Mittlerweile gehört zu ihrem Gepäck aber auch wieder ein „Charlie“ (kurz für Charlottenburger-Tuch, in dem das Gepäck eingepackt ist) gefüllt mit Büchern. 

Die Abenteuer- und Reiselust wird auf der Walz auf jeden Fall gestillt. Einen besonders schönen Moment hatte Vincent in Cuxhaven: „Ich habe direkt an der ,Alten Liebe‘, der Landungsbrücke von Cuxhaven geschlafen und bin mit dem Sonnenaufgang aufgewacht. Der Anblick war unglaublich.“

Der Ohrring im linken Ohrläppchen symbolisiert, dass der Wandergeselle auf die Walz "festgenagelt" wurde. Er bekommt ihn zur Aufnahme in den Schacht. Die Anzahl der Knöpfe steht für den Acht-Stunden-Tag (Weste), die Sechs-Tage-Woche (Jacke), drei Jahre Ausbildung sowie drei Jahre Wanderschaft (Manschetten).

Wer kann auf die Walz gehen?

Du solltest...

  • unter 30 Jahre alt sein.
  • deinen Gesellenbrief haben.
  • schuldenfrei sein (sowohl monetäre Schulden als auch Ehrenschulden).
  • kinderlos sein.
  • nicht verheiratet sein.
  • keine Vorstrafen haben. 

Berufe auf der Walz
sind jedes Handwerk, das es seit Beginn der Tradition gibt – also vor 900 Jahren. Hier haben wir die verschieden Gewerke nach Farben aufgeteilt. Zwei Teile der Kluft sind in der Farbe des eigenen Gewerkes.

Holzberufe (tragen schwarz): Zimmerer, Tischler/Schreiner, Holzbildhauer, Dachdecker, Holzinstrumentenbauer (z.B. Gitarren)

Metallberufe (tragen blau): Schlosser, Goldschmiede, Silberschmiede, Kunstgießer, Ziseleure, Glockengießer, Klempner

Farbgebende Berufe (tragen rot): Polsterer, Raumausstatter, Schneider, Schuhmacher, Maler, Sattler, Feintäschner, Buchbinder 

Lebensmittel-Gewerke (tragen schwarz-weißes Karomuster): Bäcker, Konditoren, Bierbrauer, Winzer, Käser, Malzbrauer

Mineral-Gewerke (tragen weiß, grau, beige): Steinmetze, Stuckateure, Fliesenleger, Maurer, Glaser, Glasbläser 

Du möchtest auch auf die Walz gehen und hast noch Fragen? Schreibe eine E-Mail an magazin(at)kolping.de und wir vermitteln dich an Vincent weiter. 

Text: Carina Müller
Fotos: Barbara Bechtloff