Ausgabe 1-2024 : Februar

Seelsorge im Ernstfall

Militärseelsorge versteht sich als "Kirche unter Soldaten". Früher war die Betreuung der Wehrdienstleistenden ein großer Schwerpunkt der seelsorglichen Arbeit, später spielten Auslandseinsätze eine immer größere Rolle. Doch plötzlich ist der Krieg zurück in Europa. Was bedeutet die "Zeitenwende" für die Militärseelsorge?

Wenn Fregattenkapitän Dirk Müller in seinem Büro im Marinekommando der Bundeswehr in Rostock von seinem Schreibtisch aufschaut, fällt sein Blick auf ein Kreuz. "Geh deinen Weg als Bote des Friedens", so steht es auf diesem Kreuz. "Sei auf deinem Weg Tröster und Helfer. Begegne als Freund dem Menschen. Geh deinen Weg gesegnet von Gott." Dirk Müller ist Soldat – und engagierter Katholik. Für ihn sind diese Sätze ein täglicher Ansporn. "Auch, wenn das nicht immer ganz klappt", sagt Müller von sich, "versuche ich – insbesondere als Vorgesetzter – mein Christ-Sein in den Dienst einzubringen".

Seine Heimat in der katholischen Kirche hat Müller über die Teilnahme an der Internationalen Soldatenwallfahrt nach Lourdes gefunden und in der Katholischen Hochschulgemeinde der Universität der Bundeswehr. "Bis zu meinem vierten Dienstjahr war ich noch evangelischer Christ", erzählt Müller. Aber schon als Schüler haderte er mit der Haltung von Teilen der Evangelischen Kirche zur Bundeswehr und zur NATO. "1996 wurde ich am Vorabend meiner zweiten Lourdes-Wallfahrt in die katholische Kirche aufgenommen und seitdem bin ich durchgängig in Gremien der unterschiedlichen Ebenen der Laienarbeit in der Katholischen Militärseelsorge aktiv." Dieses Engagement hat ihn bis in den Katholikenrat beim Militärbischof geführt, wo Müller ehrenamtlich den Fachbereich I für Glaubens- und Grundsatzfragen leitet.

Militärseelsorge in Deutschland

Soldat*innen der Bundeswehr haben gesetzlichen Anspruch auf Seelsorge und ungestörte Religionsausübung. Das gewährleisten derzeit zehn Militärrabbiner*innen, knapp 100 evangelische Militärpfarrer*innen sowie 60 katholische Militärpfarrer gemeinsam mit 15 Pastoralreferent*innen.

Kirchenrechtlich ist die Katholische Militärseelsorge mit einer Diözese gleichgestellt, ihre 78 Pfarrämter sind in vier Militärdekanaten zusammengefasst. Mit dem Militärbischofsamt verfügt sie über ein eigenes Ordina-riat; die ehrenamtliche Mitwirkung der Lai*innen ist im Militärkatholikenrat gebündelt. 

Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums gehören rund 53 Prozent der Bundeswehrsoldat*innen einem religiösen Bekenntnis an: Etwa 53.000 (29 Prozent) sind evangelisch, 40.700 (22 Prozent) katholisch, rund 1.000 gehören einer orthodoxen Kirche an (0,5 Prozent). Zum Islam bekennen sich etwa 1,3 Prozent der Soldat*innen, was rund 2.400 Gläubigen entspricht. Die Zahl der jüdischen Soldat*innen wird auf rund 300 geschätzt.

"Voraussetzungslos für die Menschen da"

Dass es in der Bundeswehr einen eigenen Katho-likenrat gibt, gehört zu den vielen Besonderheiten der Militärseelsorge in Deutschland. Mit Militärbischof Franz-Josef Overbeck an der Spitze, der zugleich Oberhirte des Bistums Essen ist, bildet sie gleichsam eine eigene Diözese mit vier Dekanaten und rund 80 Pfarrämtern. Dort sind die Militärpfarrer wie auch Laienseelsorger*innen für die Soldat*innen und deren Familienangehörige bis zum 18. Lebensjahr da. Sie feiern Gottesdienst, bieten Gespräche und seelsorgliche Begleitung an, laden zu Werkwochen und Familienfreizeiten ein und – eine weitere Besonderheit – erteilen den lebenskundlichen Unterricht, bei dem sich Soldat*innen mit ethischen Fragen ihres Dienstes auseinandersetzen.

"Ich war mit zwei Stabsärzten unterwegs, habe in einem Flüchtlingslager Kinder getauft."
Hans-Joachim Wahl, Kolping-Bundespräses und ehemaliger Militärpfarrer

Einer dieser Seelsorger*innen war viele Jahre lang der heutige Kolping-Bundespräses Hans-Joachim Wahl. Nachdem er bereits 1984 noch vor seiner Priesterweihe ein Praktikum beim Standortpfarrer in Gießen absolviert hatte, ließ er sich nach der Kaplanszeit von seinem Mainzer Heimatbistum für den Dienst in der Bundeswehr freistellen und wurde 1990 Standortpfarrer in Mayen. Damals waren die Grundwehrdienstleistenden seine Hauptzielgruppe. "Da gab es viele seelsorgliche Themen, angefangen von Heimweh bis zu Suizidgedanken", erinnert er sich. "Manche der jungen Männer erschraken schlicht darüber, was man mit einem Gewehr anrichten kann, andere hatten Redebedarf, weil sie plötzlich ihre Homosexualität entdeckten." Anders als der truppenpsychologische Dienst ist die Militärseelsorge kein Teil der Bundeswehr-Hierarchie: die Militärpfarrer und Pastoralreferent*innen sind von militärischen Befehlen unabhängig, den militärischen Vorgesetzten zur Zusammenarbeit zugeordnet und allein kirchlicher Weisung verpflichtet. Dirk Müller vom Militärkatholikenrat betont: "Hierdurch entsteht natürlich ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis, das es einem belasteten Soldaten ermöglicht, sich auch frühzeitig und niederschwellig auszusprechen. Aber auch im Nachgang von Einsätzen ist die Militärseelsorge eng in die Betreuung psychisch oder physisch einsatzgeschädigter Soldaten und Soldatinnen eingebunden. Das gilt im schlimmsten Fall natürlich auch für die Betreuung der Hinterbliebenen unserer Gefallenen."

Das Angebot richtet sich nicht nur an Getaufte, sondern an alle Personen in und um die Bundeswehr. "Wir sind voraussetzungslos für die Menschen da«, sagt Monsignore Rainer Schnettker. Er ist Leitender Militärdekan in Köln, zuständig für die Bundeswehrstandorte in NRW und Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland. »Die Militärseelsorge lässt sich auf alle Lebenswelten ein«, so Schnettker, »wir interessieren uns für alle Nöte und Sorgen, wir sind eine lernende Kirche, die mit den Soldatinnen und Soldaten unterwegs ist."

Das Militärseelsorgezelt mit der Kapelle St. Martin in Camp Castor. Das Feld-lager war von 2016 bis Ende 2023 Hauptstationierungsort der Bundeswehr in Mali, Westafrika.

Mit den Soldat*innen unterwegs: Auslandseinsätze

Das versteht sich wörtlich, denn gerade auch bei Auslandseinsätzen ist seelsorgliche Begleitung wichtig. Hans-Joachim Wahl war schon 1991 mit dabei, als im Rahmen eines humanitären Einsatzes der Bundeswehr, der Operation "Kurdenhilfe", Geflüchtete im Grenzgebiet von Irak, Syrien und der Türkei mit Hilfsgütern unterstützt wurden. Zeitgleich waren in einer NATO-Mission deutsche Alpha Jets nach Erhac/Türkei entsandt, um von dort aus während des Zweiten Golfkrieges den Luftraum zu schützen. "Ich war mit zwei Stabsärzten unterwegs und habe in einem Flüchtlingslager Kinder von aramäischen Christen getauft", erinnert sich der heutige Kolping-Bundespräses. Es war eine Umbruchzeit mit paradoxen Vorzeichen. Denn einerseits stand nach dem Ende des Kalten Krieges eine Verkleinerung der Bundeswehr an, zugleich sollte das wiedervereinigte Deutschland sicherheitspolitisch mehr Verantwortung übernehmen. Bereits in den späten 90er Jahren, sowie sich abzeichnete, dass mehr militärische Auslandseinsätze auf die Bundeswehr zukämen, wurden die Militärseelsorger auf den Umgang mit traumatisierenden Erlebnissen und posttraumatischen Störungen intensiv vorbereitet, erinnert sich Hans-Joachim Wahl, dessen Dienstzeit als Militärpfarrer 2001 endete: "Diese Lehrgänge haben mir bei meiner Rückkehr in den Dienst des Bistums gerade im Bereich der Notfallseelsorge sehr geholfen." Inzwischen sind militärische Missionen außerhalb des NATO-Gebietes eine Selbstverständlichkeit geworden.

Fregattenkapitän Dirk Müller hat gut 1.200 Einsatztage in Ostafrika, im Libanon und in Afghanistan verbracht. Er hat zu schätzen gelernt, "dass unsere Militärseelsorger den Dienst der Soldaten unter den gleichen Bedingungen teilen. So können sie aus eigenem Erleben und Verstehen heraus die Seelsorge ganz zielgerichtet auf diese Bedürfnisse ausrichten". Aber das sei nicht allein die Aufgabe der Hauptamtlichen. Darum liegt ihm die Einbindung der Lai*innen am Herzen. "Ich kann und will hier mithelfen, dass die gute Seelsorge für meine Kamerad*innen noch besser wird und ihnen damit in Krisensituationen geholfen werden kann." 
 

"Hierdurch entsteht natürlich ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis."
Fregattenkapitän Dirk Müller, Militär-Katholikenrat

Ein weiterer Aspekt von Spiritualität zeigt sich bei der Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen, etwa mit dem Islam, so Müller: "Für mich war die feste Verankerung in meinem eigenen Glauben ein wesentlicher Baustein darin, die Andersartigkeit der Menschen vor Ort anzunehmen. Das hilft ungemein weiter, wenn man mit Ortskräften eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aufbauen muss. Ein paar nette Worte zum Ramadan und Rücksichtnahme auf die Fastenregeln können da schon den entscheidenden Unterschied ausmachen."

Wo Friede beginnt

Mit der "Zeitenwende" seit dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine vor zwei Jahren sieht Dirk Müller noch weitere Herausforderungen auf die Militärseelsorge zukommen: »Schon alleine die geplante permanente Stationierung einer deutschen Brigade mit rund 5.000 Soldaten und ihren Familien in Litauen wird vermutlich dazu führen, dass wir uns wieder über echte Militärkirchengemeinden Gedanken machen müssen." Das Thema steht auch auf der Tagesordnung der Vollversammlung des Katholikenrats. 

Umso wichtiger wird, dass die Militärseelsorge auch Räume der Erholung zur Verfügung stellt, etwa mit den jährlichen Angeboten für Familienferien. Als Angehöriger der Marine schätzt Müller die Kolping-Familienferienstätte Haus Stella Maris in Cuxhaven direkt an der Nordsee. Bundespräses Hans-Joachim Wahl verweist auf das Kolping-Feriendorf Herbstein in Hessen, wo Bundeswehrangehörige einen Bibelpark angelegt haben – im Rahmen der Verarbeitung ihrer eigenen Erlebnisse im Afghanistan-Einsatz. So können Kolping-Ferienstätten nicht nur Orte der Erholung sein, sondern auch der Reflexion und Besinnung auf das, worauf es am Ende ankommt. "Bote des Friedens zu sein", wie es auf dem Kreuz in Dirk Müllers Büro steht. Oder, wie Hans-Joachim Wahl sagt: "Krieg ist und bleibt ein Übel. Frieden beginnt damit, dass wir es schaffen, miteinander ins Gespräch zu kommen." Vielleicht ist Kolping dafür kein schlechter Ort.


Text: Christian Linker
Foto: KS/Doreen Bierde, Friederike Fürcht, Bundeswehr

Kommentar verfassen

Jeder Kommentar wird von der Redaktion überprüft, bevor er im Onlinemagazin erscheint. An dieser Stellen wollen wir auch auf unsere Netiquette und Informationen zum Datenschutz hinweisen.

Ihr Kommentar wurde verschickt!

Wir bitten um etwas Geduld. Ihr Kommentar wird von der Redaktion geprüft bis er online gestellt wird.

OK