Ausgabe 1-2024 : Februar

Platz da! Stadtverkehr neu denken

Wie lassen sich unsere Städte lebenswerter gestalten? Wie kann die Luft sauberer werden? Wie unsere Straßen sicherer – und zwar für alle Verkehrsteilnehmer und auch besonders für Kinder? Solche Fragen stellen sich Stadtplaner und Politiker auf der ganzen Welt. Und packen die Verkehrswende an!

Seit 2017 ist die Altstadt in Gent bereits autofrei – die derzeit größte autofreie Innenstadtzone Europas. Kopenhagen baut Fahrradschnellstraßen, die bald Städte im ganzen Land miteinander verbinden. Hier soll künftig das Auto auch für Betriebe und Handwerker überflüssig werden. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo lässt die Stadtautobahn am Seineufer sperren und wandelt sie zur Flaniermeile um. Im Februar stimmen hier zudem die Bürger über höhere Parkgebühren für platzraubende SUVs ab. Und in Barcelona sperrt die Regierung unter Ada Colau ganze Stadtviertel für den Autoverkehr, um der Luftverschmutzung entgegenzuwirken.

In Berlin und Bremen dagegen gehen die neuen Verkehrssenatorinnen seit einigen Monaten den umgekehrten Weg. Sie bremsen genau solche Projekte, die den Autoverkehr einschränken und mehr Platz für Radfahrer und Fußgänger einräumen wollen. Wie in Bremen und Berlin ist es zurzeit vielerorts in Deutschland: Die Verkehrswende wird nicht selten zwischen den politischen Lagern aufgerieben. Wer sich traut, ein Modellprojekt an den Start zu bringen, kämpft oftmals gegen Windmühlen.

Noch scheitert es hierzulande nämlich häufig an Alternativen. Der Ausbau der Bahn und die flächendeckende Installation von Ladestellen für E-Autos müssten zügiger vorangehen, damit der Verkehr in Deutschland endlich klimafreundlicher werden kann. Vor gut einem Jahr – am 10. Januar 2023 – hatte die Bundesregierung zu ihrem ersten Mobilitätsgipfel eingeladen – allerdings irritierenderweise nur die Autoindustrie. In Konsequenz kritisierten damals diverse Verbände und Organisationen, dass die Verkehrswende längst noch nicht im Kanzleramt angekommen sei.

Aber trotzdem gibt es spannende Pilotprojekte und Initiativen, die sich bereits für die Verkehrswende stark machen!

Platz da – auch für Kinder!

Dass Autos innerstädtisch immer mehr Platz beanspruchen, wirkt sich auf die Mobilität von Kindern aus, zum Beispiel auf ihrem Schulweg. Während im Jahr 1976 einer Studie der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen zufolge noch 92 Prozent der Erstklässler allein zur Schule liefen, kommt aktuell nur noch die Hälfte der Grundschüler zu Fuß oder mit dem Fahrrad zum Unterricht. Der Rest wird mit so genannten Elterntaxis bis vor das Schultor geshuttelt.

Autos nehmen in Deutschland immer mehr Raum ein: Mitte der Siebzigerjahre gab es hierzulande rund 18 Millionen Autos, aktuell sind es fast 49 Millionen.

Das beobachtet auch Karin Leusner. Sie ist seit 21 Jahren Schulleiterin der katholischen Vincenz-Statz-Grundschule im lebendigen Stadtteil Köln Ehrenfeld. Das Verkehrsaufkommen in der Durchfahrtsstraße, an der neben der katholischen auch noch eine städtische Grundschule liegt, hat von Jahr zu Jahr stetig zugenommen. Die Elterntaxis verstopfen zu den Stoßzeiten die enge Straße und machen den Schulweg für die Kinder, die zu Fuß oder mit Roller und Rad kommen, zum gefährlichen Spießrutenlauf. Statistisch gesehen kommt in Deutschland alle 18 Minuten ein Kind im Alter von unter 15 Jahren im Straßenverkehr zu Schaden, heißt es in einer Publikation der Unfallforschung der Versicherer. Da der Schulweg paradoxerweise auch durch die Elterntaxis immer unsicherer wird, werden in Folge auch Kinder, die eigentlich allein zum Unterricht gehen könnten, zur Schule gebracht. Ein echter Teufelskreis. 

"Viele Schüler können kein Fahrrad mehr fahren. Sie besitzen noch nicht mal ein Fahrrad und haben das nie gelernt", weiß Karin Leusner. "Die Kinder büßen ihre Mobilität ein und das ist nicht richtig."

Verkehrswende

Als Verkehrswende bezeichnet man den Prozess, Verkehr und Mobilität auf nachhaltige Energieträger, sanfte Mobilitätsnutzung und eine Vernetzung verschiedener Formen des motorisierten Individualverkehrs sowie des öffentlichen Personennahverkehrs umzustellen. Hauptmotivation für eine Verkehrswende ist der Umwelt- und Klimaschutz. Es gilt, dem zunehmenden Autoverkehr auf den Straßen entgegenzuwirken, um Stau in den Innenstädten und auf Zufahrtsstraßen merklich zu reduzieren. Der Wunsch nach Straßen mit Aufenthaltsqualität, geringeren Unfallrisiken, besserer Luft und weniger Verkehrslärm spielen eine wichtige Rolle, wenn es um das Thema Verkehrswende geht.

Eigeninitiative in Köln –  für sichere Schulwege 

Gemeinsam mit engagierten Eltern, einigen Lehrern und der Initiative Kidical Mass gelingt es im Februar 2023 nach mühevoller Arbeit, die Lindenbornstraße in das Pilotprojekt "Schulstraße" umzuwandeln. Es ist die erste Schulstraße Kölns. Drei weitere Kölner Schulen folgen. Hier ist nun jeweils montags bis freitags von 7.45 bis 8.30 Uhr sowie von 14.45 bis 15.15 Uhr die jeweilige Straße für die Kinder geöffnet und für den Autoverkehr gesperrt. Der Raum unmittelbar vor der Schule gehört den Kids, das morgendliche Verkehrschaos wird vermieden. Ein echtes Vorreiterprojekt, das auch von vielen anderen Schulen der Region mit großem Interesse beobachtet wird.

Bisher gibt es keine verstetigten Schulstraßen in Deutschland. Aber auch in Ulm, Bonn, Essen, Dresden und Berlin-Lichtenrade laufen derzeit ähnliche Pilotprojekte. 

Was in Deutschland noch neu und fast visionär, ist in anderen europäischen Ländern bereits Alltag: Allein London hat in den vergangenen Jahren mehr als 500 Schulstraßen eingerichtet. Auch Österreich hat das Konzept 2022 in seine Straßenverkehrsordnung aufgenommen. In Spanien, Frankreich und Belgien gehören Schulstraßen bereits teilweise zum Alltag dazu. Das steht in Deutschland noch aus.

Critical Mass & Kidical Mass

Die Critical Mass-Bewegung entstand 1992 in San Francisco. Durch einen monatlichen Fahrradumzug auf öffentlichen Straßen wollten Aktivisten ein positives Zeichen für den Radverkehr setzen. Heute hat sich diese Veranstaltungsform auch in etwa 100 deutschen Städten etabliert. 

Die Kidical Mass geht 2017 aus dieser Bewegung hervor und setzt sich unter dem Motto "Platz da für die nächste Generation!" für eine kinderfreundliche und lebenswerte Stadt ein. Diese Initiative soll die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an politischen Entscheidungen sichern und ein positives Zukunftsbild  zeichnen.

Aber davon lässt sich die Vincenz-Statz Grundschule nicht beirren. Das Aktionsbündnis ist optimistisch, dass die Schulstraße auch nach Ablauf der Pilotphase im Februar 2024 auf unbestimmte Zeit weitergeführt wird. Gerne darf aber noch hier und da nachgebessert werden: »Begrünungen, mehr Fahrradstellplätze für die Schüler, Kiss-and Ride-Parkplätze, das wünschen wir uns«, träumt Schulleiterin Karin Leusner. 

"Wir müssen einfach allesamt umdenken, wenn wir uns diesen wundervollen Planeten noch ein wenig länger erhalten möchten."
Fabian Cornarius, 38 J., OGS-Betreuer beim Kolping Bildungswerk Köln

Kinder profitieren von Schulstraßen

Dass die verkehrsberuhigte Situation den Schülern der Vincenz-Statz- Schule gut tut, hat auch Fabian Cornarius beobachtet. Der 38-Jährige arbeitet als Betreuer in dem vom Kolping Bildungswerk organisierten Ganztag. "Die Kinder sind auf jeden Fall fitter – körperlich und im Geist. Es ist leiser, was sich auch positiv auf die Konzentration auswirkt. Ganz wichtig finde ich: wenn unsere Kinder nicht mehr lernen, wie man sich eigenständig, selbstbewusst und sicher im Straßenverkehr bewegt, werden sie zu ängstlichen und unselbstständigen Verkehrsteilnehmern heranwachsen. Jedes Kind hat ein Recht darauf, sich sicher, selbstständig und ohne Bedenken im Straßenverkehr bewegen zu können."
 

Fabian Cornarius, 38 J., OGS-Betreuer

Ein aktuelles Rechtsgutachten vom Dezember 2023 scheint nun auch den Weg für Schulstraßen in ganz Deutschland freizumachen. Dann könnten künftig noch weitere Schulstraßen in unseren Städten folgen und zu einem Umdenken beitragen.

Film-Tipp

  • arte-Doku: "Wie gelingt die Verkehrswende? Metropolen in Bewegung" – ausgezeichnet mit dem Umweltmedienpreis der Deutschen Umwelthilfe.
  • Bundesweite Aktionstage von der Kidical Mass: "Denn Straßen sind für alle da!" 22. April bis 5. Mai 2024. Mehr Infos unter: https://kinderaufsrad.org/

Fotos: Katrin Storsberg, Lukas Klose, Calvox Periche, Amrei Kemming, Friederike Nehrkorn 

Kommentar verfassen

Jeder Kommentar wird von der Redaktion überprüft, bevor er im Onlinemagazin erscheint. An dieser Stellen wollen wir auch auf unsere Netiquette und Informationen zum Datenschutz hinweisen.

Ihr Kommentar wurde verschickt!

Wir bitten um etwas Geduld. Ihr Kommentar wird von der Redaktion geprüft bis er online gestellt wird.

OK