Ausgabe 2-2021 : Mai

Sackgasse Balkanroute

Es geht nicht vor und nicht zurück: Tausende Schutzsuchende sind auf ihrer Flucht nach Europa an der bosnisch-kroatischen Grenze gestrandet. Sie leben dort in elenden Zuständen. Freiwillig Helfende sprechen von einer humanitären Katastrophe.

Kein fließendes Wasser, kein warmer Schlafplatz, keine Perspektive: Die Situation in den provisorischen Flüchtlingscamps an der EU-Außengrenze kann man nur als menschenunwürdig bezeichnen. Trotzdem sitzen zahllose Geflüchtete teilweise schon seit Jahren in den maroden Lagern fest – unter anderem in Bosnien und Herzegowina. „Es ist schon verrückt, wie wenig von der schlimmen Situation auf der Balkanroute berichtet wird. Dabei ist Bosnien mitten in Europa und räumlich gesehen viel näher als Griechenland“, findet Simon (23), der zehn Wochen lang als freiwilliger Helfer vor Ort war. „Es ist anscheinend viel einfacher wegzuschauen, wenn es um ein Land geht, das nicht zur Europäischen Union gehört.“

Viele Geflüchtete leben auch außerhalb der offiziellen „Hotspot-Camps“ – unter anderem in Bürgerkriegsruinen.

Gerade deshalb war es ihm wichtig, sich ein eigenes Bild zu machen und vor Ort zu helfen. Genauso ging es auch Mera (24): Ende des vergangenen Jahres ist sie ihrem Kumpel Simon für einige Wochen nach Velika Kladuša nachgereist, um sich für die dort gestrandeten Menschen einzusetzen. Rund um die bosnische Grenzstadt gibt es mehrere Flüchtlingscamps, die so überfüllt sind, dass viele Geflüchtete außerhalb der schwer gesicherten Zäune ausharren müssen – in verlassenen Häusern, die seit dem bosnischen Bürgerkrieg nicht mehr als karge Ruinen sind, oder im sogenannten „Dschungel“. Hier hausen ganze Familien in improvisierten Zelten aus Plastik, Holz und Pappe mitten im Wald. „Gerade diese Menschen sind völlig allein gelassen und deshalb ganz besonders auf Unterstützung angewiesen. Die Corona-Pandemie hat die Situation noch mal verschlimmert“, sagt Mera.

Weil das Engagement von den örtlichen Behörden kriminalisiert wird und damit ein persönliches Risiko einhergeht, möchten die beiden Studierenden lieber nicht mit vollem Namen genannt werden. „Für internationale Freiwillige oder ausländische NGOs ist es in Bosnien fast unmöglich, auf legalem Weg zu arbeiten und beispielsweise eine Erlaubnis für die Verteilung von Sachspenden zu erhalten“, erzählt Simon. Wer helfen möchte, muss dies deshalb im Verborgenen – oft nach Anbruch der Dunkelheit – tun. Mera und Simon verstehen sich dabei als Teil einer unabhängigen Gruppe junger Menschen, die vor Ort immer da einspringen, wo Hilfe gebraucht wird. Während ihres Aufenthalts haben sich die beiden beispielsweise an Aktionen des Vereins „SOS Balkanroute“ beteiligt.

Mera und Simon waren von der positiven Haltung der Geflüchteten beeindruckt: „Trotz der elenden Zustände haben wir auch viel Spaß gehabt.“ In Erinnerung ist dabei unter anderem geblieben, wie sich junge Männer über eine Camping-Dusche freuen als würden sie einen luxuriösen Spa-Bereich betreten.

So war es anfangs eine ihrer täglichen Aufgaben, bis zu 400 Portionen Essen zu kochen und an die Menschen außerhalb der Camps zu verteilen. „Dabei haben wir gemerkt, dass sich viele eine eigene Aufgabe wünschen. Deshalb sind wir dazu übergegangen, Lebensmittelpakete zur Verfügung zu stellen und den Menschen damit die Möglichkeit zu geben, selbst über ihren provisorischen Feuerstellen zu kochen“, erzählt Mera. „Die meisten konnten das ohnehin viel besser als wir“, ergänzt Simon lachend. Ein positiver Nebeneffekt des Strategiewechsels waren auch die vielen Essenseinladungen, bei denen man sich näher kennenlernen konnte. Auch darin sehen die beiden Freiwilligen eine wichtige Aufgabe: „Die großen NGOs arbeiten in sehr unpersönlichen Strukturen. Uns war es aber wichtig, Zeit mit den Menschen zu verbringen, zuzuhören und persönliche Bedürfnisse dadurch besser berücksichtigen zu können“, erklärt Simon. Der Austausch sei vielen Geflüchteten ein großes Bedürfnis – nicht zuletzt, weil sie sich von der europäischen Öffentlichkeit vergessen fühlen.

„Ich habe extrem viel Hoffnungslosigkeit, Resignation und Ohnmacht gespürt. Die Leute sitzen fest, weil sie nicht weiterkommen, aber auch nicht zurück in ihre Heimatländer können.“
Mera

Dort haben die Geflüchteten in der Regel alles aufgegeben und verkauft. Ihre Angehörigen haben zum Teil viel Geld investiert, um wenigstens einem Familienmitglied ein besseres Leben in Europa zu ermöglichen.

„Viele schämen sich deshalb unheimlich und haben Angst davor, zurückzugehen“, sagt Simon. Er erzählt von einem 20-jährigen Pakistaner, der sich für jedes Video-Telefonat mit seiner Familie auf die Suche nach einem schönen Hintergrund macht. „Er erzählt dann, dass er in einem Hotel ist, warmes Wasser und eine Küche hat. Doch in Wirklichkeit sitzt er seit drei Jahren frierend in einem Rohbau ohne Toilette.“

 

Nicht verwunderlich also, dass für die Geflüchteten nur eine Weiterreise in Richtung EU in Frage kommt. Viele haben bereits mehr als zwanzigmal versucht, über die Grenze zu gelangen. Sie nennen es „the Game“ – und das obwohl der gefährliche Fußmarsch alles andere als ein Spiel ist. „Es gibt keinen Grenzzaun, deshalb besteht die Herausforderung darin, unentdeckt durch Kroatien und Slowenien bis nach Italien oder Österreich zu kommen“, erklärt Mera. Und das sei gar nicht so einfach, denn auch auf der Balkanroute wird immer häufiger von sogenannten „Pushbacks“ durch die lokale Grenzpolizei berichtet.
Dabei kommt es nicht nur zur illegalen Zurückweisung nach Bosnien, sondern auch zu Einschüchterung und Gewalt. „Die Menschen werden schikaniert und verprügelt, wir haben viele schlimme Verletzungen gesehen“, berichtet Simon. Mit Schlagstöcken werden empfindliche Stellen wie Knöchel, Schultern und Knie verletzt, damit die Betroffenen keinen weiteren Fußmarsch auf sich nehmen können. Kleider werden entwendet, Handys zerstört – auch sexualisierte Gewalt ist ein Thema. „Wenn die Menschen dann sagen, dass sie Asyl beantragen möchten, werden sie einfach ausgelacht“, so Mera.

Was passiert bei einem Pushback?

Die illegale und häufig gewaltsame Zurückdrängung von Geflüchteten an den Außengrenzen der Europäischen Union (EU) wird als Pushback bezeichnet. Schutzsuchende bekommen dabei nicht die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Eine rechtliche Verfolgung dieser Pushbacks kann im Einzelfall sehr komplex sein – fest steht aber: Alle EU-Staaten sind laut europäischer Grundrechtecharta dazu verpflichtet, das Recht auf Asyl gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu garantieren. Jeder Fall muss demnach einzeln beurteilt werden. Deshalb ist eine pauschale Abweisung, beispielsweise von Booten im Mittelmeer, nicht rechtens. Auch an den Landgrenzen der EU häufen sich Berichte über illegale Pushbacks. Besonders brisant: Es steht die Frage im Raum, ob sogar die EU-Grenzschutzagentur Frontex an solchen Pushbacks beteiligt ist oder diese zumindest bewusst ignoriert.

Illegale Pushbacks nehmen zu

„Schlimm ist, dass diese Pushbacks nicht nur in Kroatien oder Slowenien stattfinden. Es sind auch Fälle aus Italien und Österreich bekannt. Meiner Meinung nach ist das ein systematisches und von der EU gebilligtes Vorgehen“, fügt Simon hinzu. Und das, obwohl die Zahl der Einreisen in die EU seit dem Höchststand von 2015 laut Aussage des UN-Flüchtlingshilfswerks stetig abnimmt. Entsprechend groß ist die Freude unter den Freiwilligen, wenn es eine Person aus dem Dschungel endlich bis ins Zielland geschafft hat. „Es ist schon toll, wenn man dann eine SMS aus Mailand bekommt“, sagt Mera.

Emotional belastend ist die Situation nicht nur für die Geflüchteten, sondern auch für die vielen freiwillig Helfenden. „Einerseits ist es mir wichtig, dass meine Arbeit die Situation der Menschen konkret verbessert“, so Simon. „Andererseits bleibt auch ein Gefühl der Hilflosigkeit, weil das wirklich nur ein kleiner Beitrag ist und eine strukturelle Verbesserung eben nur auf politischer Ebene erreicht werden kann.“ Wem er die Schuld für die teilweise lebensbedrohlichen Zustände an der kroatisch-bosnischen Grenze gibt? „Das ist gar nicht so einfach. Bosnien ist seit dem Bürgerkrieg ohnehin eines der ärmsten Länder Europas. Dass sich die bosnische Bevölkerung von der EU im Stich gelassen fühlt, kann ich verstehen.“ Er kenne zum Beispiel einen Bosnier, der vormittags Geflüchtete unterstützt und nachmittags gegen die Eröffnung eines neuen Camps in der Region demonstriert.

 

„Die Lager müssen sofort evakuiert werden!“
finden Mera und Simon

Umso wichtiger scheint es, endlich eine gesamteuropäische Lösung in der Geflüchtetenfrage zu finden. Dabei haben nicht nur geographisch benachteiligte EU-Mitgliedsstaaten wie Griechenland, sondern auch Länder wie Bosnien, die eben nicht Teil der EU sind, Solidarität verdient. Was sind die notwendigen Schritte? Eine sofortige Evakuation der Elendslager! Das finden zumindest Mera und Simon. Auch der Vorstand von Kolping Europa sieht in der aktuellen Situation einen klaren Verstoß gegen die Menschenwürde und beurteilt die finanziellen Hilfen der EU als nicht ausreichend. „Wir rufen die EU und alle nationalen Regierungen dazu auf, die Geflüchteten aus humanitären Gründen aufzunehmen“, heißt es in einer entsprechenden Erklärung. Auch illegale Pushbacks müssen laut Kolping Europa unbedingt gestoppt werden, „denn politisches Kalkül darf nicht zulasten notleidender Menschen ausgetragen werden“. Eines lässt sich ohnehin nicht leugnen: Die Situation der Geflüchteten an den EU-Außengrenzen hat unsere europäischen Werte längst auf den Prüfstand gestellt.

Was genau ist Frontex?

Immer wenn es um die Sicherung der europäischen Außengrenzen geht, ist auch von Frontex die Rede. Die offizielle Bezeichnung der EU-eigenen Behörde lautet „Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache“ – sie wird zum Großteil aus EU-Mitteln finanziert. Frontex selbst versteht sich nicht als Polizei, sondern soll vielmehr die Einsätze der Grenzpolizeien einzelner Mitgliedstaaten vor Ort unterstützen. Bereits seit Monaten steht die EU-Organisation in der Kritik: Frontex soll illegale Pushbacks an den EU-Außengrenzen geduldet und sogar aktiv vertuscht haben. Entsprechende Vorwürfe klärt die Agentur jedoch nur schleppend auf. Auch der Forderung des Europaparlaments, 40 Grundrechtsbeobachter einzustellen, ist Frontex bisher nicht nachgekommen. Nun erhöhen einzelne Abgeordnete den Druck, indem sie eine Aufstockung des Budgets für die Agentur verweigern.

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Franziska Reeg, Picture Alliance/ PIXSELL/ Armin Durgut