Ausgabe 3-2021 : Juli

Ist das noch meine Kirche?

Seit Jahren treten immer mehr junge Menschen aus der Kirche aus. Andere entscheiden sich hingegen bewusst für sie. Gehen oder bleiben? Vier ganz persönliche Entscheidungen.

"Wie, du bist in der katholischen Kirche? Aber wie kannst du da noch dabeibleiben, bei allem, was da passiert?“ Es sind Fragen wie diese, mit denen Hannah Wastlhuber immer wieder konfrontiert wird. Die 20-Jährige engagiert sich ehrenamtlich in der Katholischen Landjugendbewegung im Diözesanverband (DV) München und Freising. Und sie ist genervt: „Ich finde es einfach schade, dass ich mich ab und an dafür rechtfertigen muss, wenn ich sage, dass ich in einem katholischen Jugendverband aktiv bin.“ Für sie ist klar: „Die Gemeinschaft, die ich erlebe und die Menschen, die einen ähnlichen Glauben teilen wie ich, bringen mich dazu, Teil der katholischen Kirche zu bleiben.“ 

Stellung beziehen statt Austreten

Einigen ging das in den vergangenen Jahren anders als Hannah. Rund 500.000 Menschen haben im Jahr 2019 den beiden großen christlichen Kirchen den Rücken zugewandt und sind aus diesen ausgetreten. Das sind sieben gefüllte Münchner Allianz-Arenen oder so viele Menschen, wie in der Stadt Nürnberg leben.

Beim Amtsgericht sind die Termine für geplante Kirchenaustritten seit Monaten ausgebucht. Die Gründe dafür sind vielfältig: Manche fühlen sich von der Kirche stark entfremdet oder hatten nie eine richtige Bindung zu ihr. Andere sind von Missbrauchsfällen verunsichert und haben das Vertrauen verloren. Und wieder andere können sich nicht mit den Lehren der katholischen Kirche identifizieren. 

Hannah Wastlhuber will in der Kirche bleiben. Ihr gibt die Jugendverbandsarbeit viel.

Auch Hannah kann das verstehen: „Als das Nein der Glaubenskongregation zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare kam, habe ich mir zum ersten Mal gedacht, dass es langsam schwer wird, Teil einer Institution zu sein, deren Ansichten ich nicht immer vertreten kann.“ Ein Kirchenaustritt kommt für sie aber dennoch nicht in Frage: „Ich hatte schon immer einen großen Bezug zur Kirche. Meine Art, damit umzugehen, ist nicht sofort auszutreten, sondern zu diskutieren und Stellung zu beziehen.“ 

"Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen"

Ähnlich geht es auch Jona Schülke. Die 21-jährige Medizinstudentin ist katholisch aufgewachsen und empfindet Glauben und Kirche auch als einen Teil von sich. Aber auch sie macht sich über ihre Zugehörigkeit zur Kirche kritisch Gedanken: „Je mehr ich mich mit Gesellschaft und Politik beschäftige, desto schwerer fällt es mir, meine persönlichen Ideale mit denen der katholischen Kirche zu vereinbaren“, erzählt sie. Die Vorfälle der vergangenen Monate im Erzbistum Köln sind ihr als Kölnerin besonders aufgestoßen. „Letztes Jahr an Heilig Abend sind wir als Familie nicht in den Gottesdienst gegangen, sondern haben uns mit Plakaten vor die Kirche gestellt und still protestiert.“ Auf den Plakaten standen Sätze wie „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“. Eine klare Position. Für Jona notwendig. „Wir haben einfach nicht den Eindruck gehabt, dass unsere Gemeinde sich ausreichend von dem Unrecht distanziert, das aktuell in der Kirche passiert“, sagt sie. Jona hat eine klare Meinung, die sie zum Ausdruck bringt. „Gerade die Aufklärung von Missbrauch war da ein wichtiges Thema. Wir konnten einfach nicht so tun, als wäre nichts passiert.“ 
 

Jona Schülke ist unsicher. Mit vielen Ansichten der katholischen Kirche kann sie nichts anfangen.

Ob sie das Gefühl habe, dass die Kirche versucht, sie zu halten? „Nicht wirklich –  eher noch habe ich das Gefühl, dass sie froh sind, wenn kritische Stimmen gehen. Denn dann muss die Kirche sich nicht ändern.“ Wenn es darum geht, aus der Kirche auch wirklich auszutreten, zögert die 21-Jährige dennoch. „Es ist ein Teil von mir, dass ich in Gottesdienste gehe und Kirchen für mich überall auf der Welt ein Zufluchtsort sind.“ 

"Mir fällt es schwer, meine Ideale mit denen der Kirche zu vereinbaren."
Jona Schülke

Ein Austritt wäre für Jona deshalb ein großer Schritt, von dem sie nicht weiß, ob sie bereit dafür ist, diesen zu gehen. Auch, weil sie sich Gedanken um ihren Glauben macht. „Für mich gibt es nicht nur die Institution Kirche, sondern auch den Glauben – und von meinem Glauben kann ich mich nicht trennen“, meint sie. Zwar möchte sie nicht, dass ihr Glaube im Schatten dessen steht, wofür die Kirche steht. Trotzdem hat Jona Angst, dass dieser Teil von ihr mit einem Kirchenaustritt plötzlich verschwindet. Und sie hadert noch mit einem anderen Punkt: „Sobald ich sage: ‚Tschüss, ich habe damit jetzt nichts mehr zu tun‘, bin ich raus aus der Nummer. Aber das mache ich ja bei anderen Problemen in der Gesellschaft auch nicht. Da informiere ich mich, analysiere, kritisiere“, meint Jona. Dass Veränderung nur von innen kommen kann, davon ist sie überzeugt. „Ich kämpfe mit mir, weil ich mir gleichzeitig die Frage stelle, ob sich denn überhaupt etwas verändern kann, und ob ich noch Hoffnung auf Veränderung habe.“
 

Anpassung an Lebensrealität notwendig

Wie die Veränderung aussehen müsste, hat auch eine Studie des Bistums Essen mit dem Titel „Kirchenaustritt – oder nicht? Wie Kirche sich verändern muss“ aus dem Jahr 2018 analysiert. Diese hat drei Bereiche herausgearbeitet, in denen die Kirche sich verbessern müsse. Zum einem braucht es laut der Studie mehr Qualität inder Pastoral – also überall dort, wo Menschen direkt mit der Seelsorge in Berührung kommen. Zum Beispiel bei Beerdigungen, Taufen oder Trauungen. Außerdem fordert die Studie ein besseres „Mitgliedermanagement“. Dabei soll vor allem eine Frage im Vordergrund stehen: Wie erreicht man überhaupt regelmäßig Menschen, die nicht mehr in den Gottesdienst gehen? Zuletzt stellt die Studie das Erscheinungsbild der Kirche generell in Frage. Es sei notwendig, dass sie sich an die Lebensrealität der Menschen anpasst.

Für Conny Bernhardt käme eine solche Anpassung allerdings zu spät – zumindest in der katholischen Kirche. Und das, obwohl die 34-jährige Lehrerin jahrelang katholische Gottesdienste besucht hat, Messdienerin war und sich später auch in der Kolpingjugend engagierte. All das hat ihr immer viel gegeben. „Über die Jugendarbeit habe ich tolle Gottesdienste und Freizeiten erlebt. Dort habe ich mich abgeholt und Zuhause gefühlt“, erzählt sie rückblickend. Während ihres Studiums hat sie dann Theologiestudierende kennengelernt, die ihr immer wieder gesagt haben, dass Connys persönlicher Glaube eigentlich eher evangelisch als katholisch sei. Doch das Heimatgefühl in der eigenen Gemeinde hielt sie in der katholischen Kirche. 

Conny Bernhardt ist aus der katholischen Kirche ausgetreten. Das Christsein kriegt man aus ihr aber nicht heraus.

Es war ein schleichender Prozess, der bei ihr eingesetzt hat und nach und nach zu einer Entfremdung führte. Eine schlussendliche Entscheidung für oder gegen einen Kirchenaustritt braucht dennoch meistens einen zusätzlichen Auslöser, wie auch Studien zeigen. „Der Tropfen, der bei mir das Fass zum Überlaufen gebracht hat, war die Reaktion der katholischen Kirche auf die Abstimmung des Bundestags über die gleichgeschlechtliche Ehe vor vier Jahren“, erzählt Conny. „Damals haben viele Bischöfe klargemacht, warum es einen Unterschied zwischen staatlichem und christlichem Eheverständnis gibt.“ Conny selbst war zum Zeitpunkt der Reaktion mit einer Frau zusammen und konnte die Unterscheidung der Wertigkeit nicht nachvollziehen. 

Kirche neu denken

Ab diesem Zeitpunkt war für sie schlagartig klar, dass sie austritt. Ihr Umfeld hat mit Verständnis auf die Entscheidung reagiert, ihren Entschluss teilweise aber auch bedauert. Es sei furchtbar, dass Menschen wie sie – die aktiv und kritisch sind – aus der katholischen Kirche gehen. Dann ändere sich ja nie etwas, hörte sie aus ihrem Umfeld. 

Schockiert war Conny nach ihrem Entschluss davon, welch großer bürokratischer Aufwand ein Kirchenaustritt ist. Gleichzeitig stellte sie sich auch die Frage, wohin sie denn nach dem Austritt geht. Die 34-Jährige kam zu dem Ergebnis: „Das Christsein kriegt man aus mir nicht heraus. Das ist ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit und meines Lebens“. Die Folge bei ihr: Conny ist in die evangelische Kirche eingetreten. 

"Kirche ist nicht nur das, was im Vatikan passiert."
Fabian Geib

Für Fabian Geib ein Weg, der für ihn nicht infrage kommen würde. Der 21-Jährige Heilerziehungspfleger ist Diözesanleiter in der Kolpingjugend im DV Speyer. Er mag es, in den Gottesdienst zu gehen und Gemeinschaft zu erleben – auch in der Kolpingjugend. „Gemeinschaft, Schulungen und Freizeiten sind einfach toll. Da verspürt man dann auch eine viel stärkere kirchliche Verankerung.“ Ein Kirchenaustritt kommt für ihn deshalb nicht in Frage. Trotzdem ist auch er nicht mit allen Positionen in der katholischen Kirche zufrieden. Verändern könne man das nur von innen. Im Kleinen vor Ort funktioniert das auch, hat er bemerkt. „Ob das aber in Rom ankommt, da bin ich mir unsicher.“ Entmutigen lässt er sich aber dadurch nicht. Diese Haltung zeigt er auch gegenüber anderen.

Fabian Geib setzt Hoffnung in den Synodalen Weg und hofft auf Veränderung in der Kirche.

Auch wir sind Kirche

Einen Anstoß, Kirche neu zu denken, will auch die Kolpingjugend Deutschland geben. Bei der Bundeskonferenz im vergangenen März hat sie den Beschluss „Auch wir sind Kirche“ verabschiedet. Dieser reagiert auf die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche und bezieht deutlich Stellung: „Wir bekennen uns zu einer Kirche, die fehlerbehaftet ist. Wir wollen dazu beitragen, träge Strukturen aufzubrechen, damit ein positiver Neuanfang möglich ist.“ 

Diesen Neuanfang wünschen sich viele junge Menschen, die ihren Glauben gerne auch in der Gemeinschaft der Kirche leben wollen. Einige, wie Conny, haben bereits Abschied von dem Gedanken genommen, dass es grundlegende Änderungen gibt und sind aus der katholischen Kirche ausgetreten. Andere, wie Johanna, sind sich unsicher und fragen sich, ob das noch ihre Kirche ist. Und wieder andere, wie Hannah oder Fabian, leben nach dem Motto „Lieber Eintreten für, als Austreten aus“. 

Gedanken machen sich viele junge Menschen. Die persönliche Entscheidung kann ihnen keiner abnehmen. Die Kolpingjugend will mit ihrem Beschluss jedoch positiv Mut machen, eine Kirche mitzugestalten, in der Glaube, Hoffnung, Liebe und der Mensch in der Mitte stehen. Und dass das alleine schwer ist, da sind sich viele junge Menschen einig. „Verändern kann man vor allem dann etwas, wenn man gemeinsam handelt“, meint Hannah. Und: „Für Veränderung muss man immer aufstehen und laut sein, reflektieren und kritisieren“, sagt Jona. Aufstehen, Mitgestalten und Mut zeigen: Diese Haltung hat auch die Kolpingjugend, wenn sie klar sagt: „Auch wir sind katholische Kirche!“ 


Illustrationen und Fotos: iStock/Anastasia Molotkova, pixabay, privat (4), Bianca Rögner