Ausgabe 3-2022 : Juli

Indisches Essen gegen Häkeln lernen

Wohngemeinschaften gibt es viele. Manche davon sind sehr besonders. So auch das Zusammenwohnen von Navin und Heike. Sie nehmen an dem Projekt "Wohnen für Hilfe" teil.

Für die Wäsche ist oft Heike zuständig,. um die Tomaten kümmert sich Navin.

"Kommt herein, das Essen ist schon fertig!" – mit einer strahlenden Begrüßung bittet Navin (Name auf Wunsch des Protagonisten geänder) das Redaktionsteam durch das Gartentor. Über zwei Stufen betreten wir das Einfamilienhaus in der Nähe von Freiburg und folgen dem jungen Mann in die Küche. Im Gang hängen Fotos und Gemälde an der Wand, auf dem Küchentisch steht eine Schale mit Keksen und eine Kerze. Kurze Zeit später kommt Heike, die Mitbewohnerin von Navin durch die Küchentür. "Ich hoffe, Du hast nicht zu scharf gekocht, das kann ich nicht essen", meint sie zu dem jungen Inder, während sie sich an den Tisch setzt. Navin lacht und häuft mit einem Löffel Reis auf die Teller. "Nein, nein, heute nicht." Navin und Heike leben gemeinsam in einer Wohngemeinschaft. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Wäre da nicht der nicht unerhebliche Altersunterschied der beiden. Navin ist 37 Jahre alt, Heike ist 81. 

In Freiburg ankommen

Seit Oktober 2021 teilen die beiden sich das Haus, in dem Heike bereits seit den 1970er Jahren wohnt. Navin ist nicht der erste junge Mensch, mit dem sie sich die beiden Stockwerke teilt. Bereits 14 jungen Erwachsenen hat Heike ein Dach über dem Kopf geboten. Dazu gekommen ist sie über Bekannte. "Die haben mich angefragt. Sie kennen da jemanden, der würde gerne in Freiburg studieren und sucht noch ein Zimmer. Da habe ich hier ein Zimmer bei mir angeboten", erklärt die Rentnerin. Wohnzimmer, Küche, Bad – die Gemeinschaftsräume teilen sich beide. Dazu hat jeder und jede noch ein eigenes Schlafzimmer. Wie in einer ganz normalen Wohngemeinschaft. Miete hat Heike dafür nicht viel genommen. Sie kenne die Problematik, dass es jungen Menschen oft an den nötigen finanziellen Mitteln fehle. Und so eine Zimmermiete kann da schnell schon ganz schön teuer sein. Zu teuer. 

"Manchmal möchte man beim Abendessen einfach gerne mit jemanden schwätzen."
Heike (81)

So war es auch bei Navin. Er ist vor sieben Jahren nach Deutschland gekommen. Davor hat er in Indien gelebt, dort studiert und auch gearbeitet. In Europa arbeiten war schon immer ein Ziel von ihm. Eineinhalb Jahre bevor er nach Freiburg gekommen ist, hat er dafür extra Deutsch gelernt. Dass es dann letztendlich Freiburg wurde, hat Navin sich nicht bewusst ausgesucht. Und wirklich viel wusste er über die Stadt davor auch nicht. "Dass die Natur hier so schön ist, war mir überhaupt nicht klar", erzählt er, "ich dachte, ok, es wird kalt und ich muss viel Kartoffeln essen." Navin lacht. 

Ein Quadratmeter für eine Stunde Hilfe im Monat 

Über die deutschen Klischees weiß er genau Bescheid. In Freiburg absolvierte er ein Masterstudium. Gewohnt hat er anfangs in einem Studierendenwohnheim. Auf Dauer war das für ihn aber zu teuer. Navin hat sich nach günstigeren Alternativen umgeschaut. Über das Studierendenwerk Freiburg ist er dann auf das Projekt "Wohnen für Hilfe" gestoßen. Das Motto des Projektes: Ein Quadratmeter Wohnen für eine Stunde Hilfe im Monat. Nicht selten steht bei älteren Menschen Wohnraum leer. Eine Partnerin oder ein Partner, der oder die bereits verstorben sind oder einfach ein großes Haus, aus dem die Kinder längst ausgezogen sind. Gleichzeitig gibt es jedes Jahr tausende junge Menschen, die auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum sind. Bei dem Projekt "Wohnen für Hilfe" werden genau diese beiden Parteien zusammengeführt. Für das Zimmer zahlen die jungen Menschen weniger, unterstützen dabei aber die Seniorinnen und Senioren im Alltag. Kochen, Einkäufe erledigen, im Haushalt unterstützen oder kleinere Reparaturen erledigen – die Liste an Möglichkeiten ist lang.

Navin kocht gerne – am liebsten indisch. Dass die Küche danach wieder sauber wird, ist für ihn selbstverständlich.

Bei Navin und Heike besteht sie aber vor allem aus "Einfach nur da sein". Heike ist fit und kann ihren Alltag komplett selbstständig leben. Unterstützung braucht sie eigentlich kaum. "Im Winter hat Navin mir geholfen, das Heizmaterial aus dem Keller zu holen", erzählt sie, "und einmal die Woche fegt der den Gehsteig vor der Straße. Aber wir haben das nicht so streng geregelt", sagt Heike. Navin nickt zustimmend. Die beiden sind sich einig: "Hilfe" leisten sie sich gegenseitig auf einer ganz anderen Ebene. "Es ist nicht schön, jeden Tag hier im Haus komplett alleine zu sein. Die Kinder sind ja längst aus dem Haus und manchmal möchte man beim Abendessen einfach gerne mit jemanden schwätzen", beschreibt es Heike. Sie selbst sei seit langer Zeit verwitwet, die jungen Leute im Haus halten es hier lebendig. Auch Navin gefällt es hier. "Mir hat immer ein bisschen Familie gefehlt, hier habe ich das ein bisschen", meint er. Die Kinder von Heike, die zu Besuch kommen, die Nachbarn, die man kenne – all das lässt ihn hier wohlfühlen.

"Mir hat immer ein bisschen Familie gefehlt, hier habe ich das ein bisschen."
Navin (37)

Für Navin ist es nicht die erste Wohngemeinschaft dieser Art, in der er lebt. Bereits bei zwei älteren Seniorinnen hat er gewohnt. Das Haus der ersten musste er verlassen, weil deren Sohn wieder zurückgezogen ist. Die zweite war bereits sehr alt und ist letztlich gestorben. Navin denkt trotzdem begeistert an die Zeit mit seiner letzten Mitbewohnerin zurück. "Ich habe dort viel im Garten gearbeitet, den Rasen gemäht oder die Blumen gegossen." In dem Haus konnte er auch nach ihrem Tod noch einige Monate wohnen. Und dann ist er letztes Jahr zu Heike gezogen. 

Finanziell könnte sich Navin inzwischen auch eine teurere Unterkunft leisten. Er möchte das aber gar nicht unbedingt und bleibt bei dem Projekt "Wohnen für Hilfe". Gefunden haben sich Heike und Navin über die Initiative "Wohnen für Hilfe" des Freiburger Studierendenwerkes. Auch in den meisten anderen deutschen Städten gibt es Projekte dieser Art. Initiatoren sind dabei ganz unterschiedlicher Art: Häufig sind es Studierendenwerke, die den Zugang zu den jüngeren Menschen haben, teils aber auch Seniorentreffs oder aber auch die Städte selbst. Sie dienen dann als Vermittlungsbörse und sorgen dafür, dass diese Art der WG-Nutzung nicht missbraucht wird. Navin musste einen ausführlichen Bewerbungsbogen an das Studierendenwerk senden. Welche praktischen Fähigkeiten er hat, wie viele Stunden pro Monat er Zeit hat und bei welchen anfallenden Aufgaben im Haushalt er gerne unterstützen möchte. Heike auf der anderen Seite konnte bei den suchenden jungen Menschen den konkreten Bewerbungsbogen anfordern. Ein Stückchen Sicherheit für die Seniorinnen und Senioren, die sich jemanden zunächst Fremden in die Wohnung holen. "Da fühlt man sich schon ein bisschen sicherer, wenn man die Bedingungen ein bisschen besser einschätzen kann", meint Heike. 

Auch mal ein bisschen Diskussion zwischendurch 

Im Umfeld der beiden wissen alle über diese besondere Form des Zusammenwohnens Bescheid. Navins Freunde dachten anfangs, er mache das nur wegen des günstigen Preises. "Anfangs hatten sie da auch Recht, aber inzwischen ist das nicht mehr der Grund. Ich mag es, immer wieder kleinere Arbeiten im Garten oder so zu machen und schätze das Zusammenleben sehr!", erzählt Navin. Bei Heike im Garten ist er gerade für die Tomaten zuständig. Aber nicht nur im Garten kennt sich Navin aus. "Bei technischen Problemen bin ich ganz froh, Navin hier zu haben", meint Heike und schmunzelt. Im Gegenzug bügelt sie Navins Klamotten mit. Der junge Inder ist dafür dankbar. "Ganz ehrlich, ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich gebügelt habe, das kann Heike auf jeden Fall besser!", lacht er.
 

Heike und Navin kommen gut miteinander aus – auch wenn kleinere Diskussionen immer wieder mal dazu gehören.

Aber auch wenn sich das Konzept des Wohnens auf den ersten Blick sehr harmonisch anhört – Navin berichtet, dass es gerade in seiner ersten Wohngemeinschaft immer wieder zu kleineren Missverständnissen in der Alltagskommunikation gekommen ist. "Ich glaube aber auch, dass das ganz normal ist", meint er. "Solange man darüber sprechen kann!" Heike nickt zustimmend. Auch sie hatte vor einigen Jahren auch eine schlechte Erfahrung mit einer Mitbewohnerin gemacht, die respektlos im Umgang mit ihr war. Trotzdem hat sie sich nicht die Lust nehmen lassen, wieder einen jungen Menschen bei sich aufzunehmen. Der Wunsch nach Gemeinschaft ist zu stark. Die 81-Jährige kann sich nicht vorstellen, irgendwann alleine zu leben. In einer Wohngemeinschaft mit älteren Menschen oder im betreuten Wohnen, das wäre für sie ok. Aktuell klappt es aber auch mit Navin super. Auch wenn es auch in ihrem Zusammenwohnen ein paar Herausforderungen gibt. "Ich musste mich ehrlich gesagt schon erst einmal daran gewöhnen, dass Navin mit den Händen statt mit dem Besteck isst", gibt Heike zu. "Aber das ist völlig ok!", schiebt sie sofort nach und nickt Navin bestätigend zu, "ich bin es eben nur nicht gewohnt!" Navin lächelt verständnisvoll. Auch er tut sich nicht mit allem so leicht. "Eigentlich mag ich Haustiere nicht so. Und hier gibt es eine Katze", erzählt er. Aber auch damit hat er mit der Zeit gelernt klarzukommen. Nur das Katzenfutter rieche schon sehr extrem. 
 

"Ich würde eigentlich gerne häkeln lernen. Heike kann das so gut, da kann ich mir etwas abschauen!"
Navin

Man muss eben gut kommunizieren. Das wissen auch die beiden. Im Alltag sehen sie sich vor allem in der Küche, wenn Navin nach der Arbeit kocht. Ab und an unternehmen sie aber auch gemeinsame Spaziergänge. Voneinander mitnehmen tun sie auf jeden Fall viel. "Ich würde eigentlich gerne häkeln lernen", erzählt Navin, "Heike kann das so gut, da kann ich mir etwas abschauen!" Und Heike? "Ich esse jetzt auf jeden Fall ab und an indisch! Das ist etwas Neues!", betont sie. Mit einem Zwinkern zu Navin fügt sie hinzu: "Nur nicht zu scharf!"


Fotos: Barbara Bechtloff; Esi Grünhagen/Pixabay; Sanket Shah/Unsplash