Ausgabe 4-2020 : November

Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!

Wenn wir über rechtes Gedankengut in unserer Gesellschaft sprechen, ist oft von einem Generationenproblem die Rede. Würden nur junge Menschen wählen gehen, sähe die Parteienlandschaft anders aus - liberaler. Doch das stimmt so leider nicht ganz...

Schaut man sich zum Beispiel die Wahlergebnisse aus Brandenburg und Sachsen an, wo die AfD jeweils als zweitstärkste Kraft in den Landtag einzog, fand die rechtspopulistische Partei vor allem bei unter 29-Jährigen großen Anklang. Ist das eine neue Entwicklung? Und was können wir dieser entgegensetzen? Eine Suche nach Erklärungen und ein Plädoyer für eine vernünftige Diskussionskultur.

Jugendliche werden gezielt in ihrem popkulturellen Umfeld angesprochen

"Wir sind Kämpfer, der Sturm zieht auf im ganzen Lande, geh mal lieber weg mit deiner Autotune-Migranten-Bande.“ So lautet eine der harmloseren Aussagen aus den Songs von Chris Ares – einem rechtsextremen Rapper, der seit einigen Monaten im Visier des Verfassungsschutzes steht. Darf eine Person mit öffentlicher Plattform so gezielt provozieren und indirekt zu Gewalt aufrufen? YouTube und Spotify beantworten diese Frage mit „nein“ und haben die Lieder mittlerweile gesperrt. Das Feedback der überraschend zahlreichen Fans spricht jedoch eine ganz andere Sprache: Mit seiner letzten Veröffentlichung schaffte es der Rapper bis auf Platz eins der deutschen iTunes-Charts. 

Eigentlich sieht Chris Ares wie ein Typ von nebenan aus – keine Spur von Bomberjacke oder Springerstiefeln. Er ist das Spiegelbild einer rechten Szene, die sich immer stärker ausdifferenziert hat und für Außenstehende somit schwer als solche zu erkennen ist. 

Mittlerweile gibt es patriotische Tierschützer, rechte Hipster in Poloshirts, wortgewandte Influencer, die Verschwörungstheorien auf Instagram befeuern, und sogar rechtsradikale Comedians. Dahinter steckt eine ausgeklügelte Strategie: Alles, was bei jungen Menschen beliebt ist, wird auf rechts gedreht. Alle Plattformen, auf denen sich Jugendliche gerne aufhalten, werden mit entsprechenden Inhalten befüllt. 

„Man muss wissen, wie rechte Gruppierungen ticken. Denen ist natürlich bewusst, dass ihre Anhängerschaft sehr klein wäre, wenn sie nur Zeltlager veranstalten würden, bei denen man Trachten anzieht und Volkslieder singt. Wenn man den gesellschaftlichen Diskurs mitbestimmen will, muss man seine Ideologie so anpassen und herunterbrechen, dass sie die Jugend von heute anspricht. Das haben die Rechten schon immer gut gekonnt“, erklärt Stefan Rochow – Berater beim Aussteigerprogramm EXIT-Nord und früher selbst Hoffnungsträger im rechten Milieu. Der heute 44-Jährige weiß, wovon er spricht: Einige Jahre war er im Parteivorstand der NPD aktiv bis er sich nach einer Neuentdeckung des Christentums im Jahr 2008 von seiner früheren Gesinnung distanzierte. 

Aus dem Internet auf die Straße: Den Anhängerinnen und Anhängern der Identitären Bewegung sieht man ihre rechte Gesinnung nicht sofort an.

Rechts als Lifestyle – beispielhaft für die von Stefan Rochow beschriebene Entwicklung ist auch die sogenannte Identitäre Bewegung. Schaut man sich Fotos entsprechender Aufmärsche an, könnte man darauf auch eine Versammlung von BWL-Studierenden vermuten und keine vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte Gruppierung. Kein Wunder, denn die rechten Aktivisten inszenieren sich gerne als intellektuelle Rebellion gegen den Mainstream. Das ist symptomatisch für eine Entwicklung, die auch eine kürzlich veröffentlichte Modellstudie des Kolpingwerkes Deutschland zum Thema rechte Jugend aufzeigt.

Die rechte Szene ist oft eine Blackbox

„Wir beobachten eine Intellektualisierung der rechten Jugendszene“, fasst Projektleiter Victor Feiler zusammen. „Das ist vor allem deshalb gefährlich, weil wir über eine sehr heterogene Szene mit geschlossenen Zirkeln sprechen.“ Während nach außen hin nur einzelne Stimmungsmacher sichtbar werden, bleibt die schweigende Mehrheit im Hintergrund. Dadurch ist es beispielsweise für Lehrer oder Sozialarbeiter zunehmend schwierig, gefährdete Jugendliche anzusprechen. Aber warum scheint radikales Gedankengut für junge Menschen überhaupt so attraktiv zu sein? 

"Positionen, die vorher anrüchig waren, werden nun medial besprochen."
Stefan Rochow

Orientiert man sich am öffentlichen Tenor, könnte man auf die Idee kommen, dass rechte Jugendkultur ein neues Phänomen ist. „Dabei war diese Entwicklung schon immer da. Wahlanalysen zeigen, dass auch die NPD stets eine Jugendpartei gewesen ist“, sagt Stefan Rochow. Das typische Einstiegsalter liege bei 14 oder 15 Jahren – und damit mitten im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung. „Rechte Gruppierungen setzen dort an, wo junge Menschen anfangen, sich vom Elternhaus zu lösen und eigene Wege zu gehen“, so Rochow. Die Einstiegsmotive seien dabei sehr unterschiedlich: „Für viele ist es erst mal nur ein Akt der Rebellion. Sie suchen sich eine möglichst radikale Position, um zu provozieren.“ Während man früher noch als Punk mit bunten Haaren anecken konnte, muss es mittlerweile der „HTLR“-Pulli sein. Die wahre Identifizierung mit der rechten Agenda kommt laut Rochow dann meist nachgelagert im zweiten Schritt.

So weit, so bekannt. Was sich in den vergangenen Jahren tatsächlich verändert hat, ist laut Experten vielmehr die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft über Themen mit Berührungspunkten zur rechten Agenda diskutieren. „Das Erstarken der AfD hat dazu geführt, dass Positionen, die vorher eher anrüchig waren, nun auch medial besprochen werden“, sagt dazu Rochow. Ein gutes Beispiel sei die Berichterstattung zur Flüchtlingskrise: „Wir haben recht schnell nicht mehr über Formen der Integration, sondern über das Thema Kriminalität gesprochen.“ Damit habe man die Perspektive der Rechtspopulisten übernommen.

Zusätzlich befeuert wird diese Entwicklung durch ein mangelndes Problembewusstsein in der Bevölkerung. „Hakenkreuzschmierereien werden oft als jugendlicher Übermut abgetan. Auch die Ordnungsbehörden und die Polizei kümmern sich meist nicht darum“, erläutert Victor Feiler ein weiteres Ergebnis des Modellprojekts. „Durch die fehlende Empörung fühlen sich junge Menschen in ihrer rechten Gesinnung bestärkt.“ Eine Teilmeinung wird somit zur gefühlten Mehrheitsmeinung. Einen positiven Resonanzraum finden gefährdete Jugendliche zudem online: „Heutzutage muss man sich nicht mehr parteipolitisch engagieren oder mit Gleichgesinnten treffen. Für eine Radikalisierung reicht es, am Schreibtisch zu sitzen“, bestätigt auch Stefan Rochow. „Viele Jugendliche schauen einschlägige YouTube-Videos und landen dann in entsprechenden Social-Media-Gruppen. So verfangen sie sich in der eigenen Filterblase.“ Wer kann dann noch helfen?

Laut Victor Feiler sind es vor allem Gleichaltrige, die Sympathien zu rechtem Gedankengut bemerken können – sei es im Freundeskreis oder in der Schulklasse. „Sie können den Radikalisierungsprozess durchbrechen und auf Augenhöhe diskutieren.“ Dabei sei es wichtig, das Gespräch zu suchen und das Gegenüber nicht sofort pauschal abzustempeln. „Gefährdete Jugendliche sehen die Ablehnung des Gegenübers nämlich oft als Bestätigung der eigenen Position an“, ergänzt Stefan Rochow. Die derzeit viel besprochene Cancel-Culture bewirkt hier also nicht wirklich etwas. Stattdessen kann es helfen, Fragen zu stellen. Wieso denkst du so? Warum glaubst du, dass das so ist? „Fragen bringen das Gegenüber dazu, das eigene Weltbild erklären zu müssen. Jemanden zum Nachdenken zu bringen, ist die beste Chance, die man in einer solchen Situation hat“, bekräftigt Rochow. 

Stefan Rochow ist Kolpingmitglied und unterstützt bei EXIT-Deutschland Menschen beim Ausstieg aus dem rechtsextremen Milieu.

Korrekte Begrifflichkeiten sind wichtig

Gerade weil rechte Gruppierungen so unübersichtlich sind, ist es dabei wichtig, zwischen Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus zu unterscheiden. Um das richtig einzuordnen, helfen die Maßgaben des Verfassungsschutzes. „Rechtsradikale versuchen unsere Gesellschaft zu verändern, und zwar innerhalb der Richtlinien unserer Verfassung. Die Ansichten können durchaus radikal sein und an die Wurzel gehen – unsere Demokratie muss das aber aushalten können“, erklärt Stefan Rochow. Demgegenüber bewegen sich Rechtsextreme bereits außerhalb des Verfassungsrahmens: „Die Trennlinie verläuft da, wo unser Grundgesetz infrage gestellt wird. Leider sind die Grenzen bei der AfD oft fließend.“ Rechtspopulismus kann demnach in die eine und in die andere Richtung ausschlagen. „Wenn Björn Höcke von der Überwindung eines ‚verfaulten Systems‘ spricht, wird für mich deutlich, dass es um mehr als das Aufzeigen gesellschaftlicher Missstände geht. Das ist gefährlich“, findet Rochow. 

Neben jungen Menschen sieht Victor Feiler auch die Jugendverbände in der Verantwortung. „Wir haben gesehen, dass politische Bildung oftmals nicht hinreichend auf das rechte Klientel ausgerichtet ist. 

"Gleichaltrige können Radikalisierungsprozesse schneller erkennen und entsprechend reagieren.“
Victor Feiler

Viele Schülerinnen und Schüler haben zum Beispiel eklatante Wissensmängel, wenn es um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und zivilgesellschaftliches Engagement geht.“ An dieser Stelle können Jugendverbände wie die Kolpingjugend, die einen starken Fokus auf das Thema Bildung legen, ein Vakuum füllen. „Ein wichtiger Teil der Präventionsarbeit kann dabei auch sein, jungen Menschen mehr Medienkompetenz zu vermitteln“, findet Stefan Rochow. Die Recherche und das Einordnen von Informationen wird in der digitalen Welt schließlich immer wichtiger – gerade wenn es um den rechten Resonanzraum geht. Dort wird regelmäßig eine vermeintlich einseitige Berichterstattung der Medien angeprangert, was mit der entsprechenden Medienkompetenz im Einzelfall jedoch schnell widerlegt ist.
Auch in der öffentlichen Diskussion kommt den Jugendverbänden eine wichtige Funktion zu: Wenn man dieser Tage in die Facebook-Kommentarspalten schaut, sieht man meistens eine Aneinanderreihung von Positionen und Gegenpositionen. Wenn nur noch extreme Meinungen sichtbar sind, wie soll dann die bürgerliche Mitte zu Wort kommen? In Zeiten zunehmender Polarisierung ist es deshalb umso wichtiger, eine eigene Haltung zu haben und diese nach außen hin zu vertreten. Die Kolpingjugend kann dies als zivilgesellschaftlicher Akteur überzeugend leisten und somit einen ausgleichenden Ton in gesellschaftliche Debatten bringen. 

Bei schleichenden Radikalisierungsprozessen ist ein frühes Eingreifen des sozialen Umfelds wichtig. Sind die Jugendlichen bereits zu tief im rechten Milieu angekommen, ist ein Ausstieg weitaus schwieriger - zu groß sind der Gruppenzwang und die Angst vor dem Verlust der neuen Freunde.

Aber ist die Lage tatsächlich so ernst? Stefan Rochow überspitzt seine Antwort bewusst: „Wenn wir nicht aufpassen und schnellstmöglich zu einer vernünftigen Debattenkultur zurückkehren, wird es zumindest bald eine Spaltung in der Gesellschaft geben, die ich hoch gefährlich finde.“


Fotos: Momentmal/pixabay, rochow-medienagentur/Dario Rochow, Picture Alliance/Rolf Kremming