Ausgabe 4-2021 : Oktober

Bis hier und nicht weiter

In jeder Schulklasse sind im Durchschnitt ein bis zwei Kinder Opfer sexueller Gewalt. Von dieser Zahl geht die Weltgesund-heitsorganisation für Deutschland aus. Um präventiv zu handeln, gibt es bei Kolping Schulungen für ehrenamtlich Engagierte.

Matthias Schneider lässt den Blick einmal durch den Raum wandern und schaut auf eine Liste. „Dann sind ja alle da und wir können anfangen!“ Sechs Teilnehmende sitzen im Stuhlkreis im Korbinianshaus in München und warten auf die einleitenden Worte des Referenten. Direkt hinter ihm läuft bereits eine Powerpoint-Präsentation. „Miteinander achtsam leben“ leuchtet es in blauen Buchstaben von der Wand, die auch Matthias leicht einfärben – passend zur Farbe der OP-Maske in seinem Gesicht. Seit 2016 ist der 34-Jährige – kurze braune Haare, braunes T-Shirt, dunkelblaue Jeans – Jugendbildungsreferent im Kolpingwerk Diözesanverband (DV) München und Freising. Was er heute vorhat, gehört nicht nur in seiner Erzdiözese seit einigen Jahren zum Pflichtprogramm für angehende Engagierte im Ehrenamt: eine Präventionsschulung. Wer für die katholische Kirche oder katholische Verbände arbeitet, soll im Bereich sexualisierter Gewalt geschult werden.

In der Schulung diskutieren die Anwesenden über viele Situationen ausführlich.

Der Grund dafür sind nicht zuletzt auch die zahlreichen sexuellen Übergriffe, die im kirchlichen Kontext passiert sind und in den vergangenen Jahren ans Licht kamen. Die Diözesanverbände in Deutschland sind seitdem dabei, Schutzkonzepte zu entwickeln. Dazu gehört es auch, dass Ehrenamtliche ihr amtliches Führungszeugnis und eine Präventionsschulung vorlegen müssen. Nur dann dürfen sie in der Kinder- und Jugendarbeit aktiv sein. Aus diesem Grund ist heute auch Sophia hier. Die 24-Jährige studiert Soziale Arbeit und möchte im DV München und Freising als sogenannte Teamerin bei Orientierungstagen ehrenamtlich aktiv sein – also eine Art Gruppenleiterin. Was ihr dafür noch fehlt, ist die dazugehörige Schulung. Was muss sie überhaupt grundsätzlich zur Präventionsarbeit wissen? Was begünstigt und was schützt vor Taten? Und wie soll sie überhaupt handeln, wenn sie eine entsprechende Situation beobachtet? 

Ein Bewusstsein schaffen

All diese Fragen will Matthias Schneider ihr und den fünf anderen Ehrenamtlichen an diesem Abend beantworten – zumindest in Teilen. Drei Stunden hat er dafür angepeilt. Ihm ist bewusst, dass das nur ein Anfang ist. „In dieser kurzen Zeit kann man leider nur oberflächlich in die Thematik eintauchen“, sagt er. Aber ein erstes Bewusstsein schaffen, das sei schon einmal ein Start. Los geht es mit einem Wimmelbild. Auf der Wand flimmert jetzt ein Querschnitt eines Gebäudes mit zahlreichen Räumen und einem großen Außengelände. In jedem Raum sind unterschiedliche Szenen zu beobachten. Ganz schön unübersichtlich.

„Welche Situationen in diesem Bild sind kritisch?“, fragt Matthias. Schnell schießen die ersten Hände nach oben. Die Teilnehmenden entdecken sofort, was falsch läuft. „Hinten rechts im Bild, da hilft ein Mann einem Kind beim Ausziehen des Ministrantengewands. Das kann schon kritisch sein“, stellt eine Teilnehmerin fest. Doch das ist nicht die einzige Situation auf dem Bild: Eine Frau, die ungefragt ein Kind küsst, ein Mann, der versucht in die Frauentoilette einzudringen oder aber ein älterer Herr, der einen Arm um die Schulter einer Jugendlichen legt: Die Situationen sind verschieden, aber manche durchaus kritisch. „Nicht alles sind gleich sexuelle Übergriffe oder sogar strafbare Handlungen“, erklärt Matthias. Bis dahin gibt es verschiedene Stufen. Eine erste ist die Grenzverletzung. Gemeint sind damit Handlungen, die nicht strafbar, aber dennoch unangebracht sind. Ob eine Grenze überschritten wurde, hängt dabei häufig vom Erleben des betroffenen Menschen ab. Dass es dabei Unterschiede gibt, ist klar. Eine von einer Person als tröstende Geste ausgeführte Umarmung kann für das Gegenüber durchaus gleichzeitig als unangenehm wahrgenommen werden. Sexuelle Übergriffe hingegen passieren nicht zufällig. Es sind massivere und häufigere Grenzverletzungen. Aber auch hier ist eines immer der Fall: Die eigene Grenze einer Person und deren Empfinden von Nähe und Distanz werden missachtet. 

Wo ist meine eigene Grenze?

Nähe und Distanz. Wie wichtig beides ist, möchte Matthias mit einer kleinen Übung bewusst machen. „Stellt euch jeweils gegenüber und dann geht eine Person auf die andere zu – bis diese ,Stopp' sagt!“. Ein paar Sekunden und Schritte später ist überall nach und nach ein lautes „Stopp“ zu hören. Sich selbst bewusst machen, wo eigene Grenzen liegen und zu realisieren, wo die Grenzen bei anderen sind. Auch das ist ein Nebeneffekt des heutigen Abends im Korbinianshaus.

Matthias ändert die Übung jetzt etwas ab. Eine der beiden Personen, die sich eben noch gegenüber standen, soll sich nun hinsetzen. Die Teilnehmenden merken den Unterschied sofort. „Zum anderen aufzuschauen ist anstrengender und der wirkt durch den Größenunterschied gleich bedrohlicher“, stellt Alfred Maier fest. Er ist mit 55 Jahren der Älteste in der Runde. Als Vorstand des Kolping-Bildungswerkes in München und Oberbayern will er Vorbild sein. Wenn Mitarbeitende im Diözesanverband dazu verpflichtet sind, die Schulung zu machen, möchte er da als Vorstand voran gehen, sagt er.

„Erlebt habe ich zum Glück noch keine Situation, in der ich einschreiten musste.“
Sophia

In der Schulung geht es nach der kleinen Übung mit Beispielsituationen weiter. Die Teilnehmenden sollen sich auf einer Skala im Raum dazu positionieren, wie kritisch sie eine Situation sehen. „Ein Vater teilt sich mit seiner Tochter eine Badewanne“, liest Schneider ein Kärtchen vor. Die Gruppe ist gespalten. „Find ich voll ok, wenn die Tochter damit einverstanden ist“, meint eine Teilnehmerin. Von der anderen Seite des Raums kommt Widerspruch: „Naja, das ist meiner Meinung nach total von der Situation und von dem Alter abhängig“, entgegnet eine andere Teilnehmerin. Über Grenzsituationen bis hin zu strafbaren Handlungen zu sprechen und diskutieren, hilft an diesem Abend viel. Es schärft auch das Bewusstsein für Situationen. Auch, wenn das Thema vielen Teilnehmenden nicht komplett fremd ist. „Gerade im Rahmen des Studiums habe ich vieles schon einmal gehört“, erzählt Sophia. „Wirklich erlebt habe ich aber zum Glück noch keine Situation, in der ich einschreiten musste.“

Zahlen und Fakten

Dass es dazu aber schneller kommen könnte, als ihr lieb ist, zeigt Matthias im nächsten Teil der Schulung auf. Mit Zahlen und Fakten. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass in Deutschland in jeder Schulklasse im Durchschnitt ein bis zwei Kinder Opfer sexueller Gewalt sind. „Ein Drittel aller Täter sind jünger als 21 Jahre“, weiß Matthias. Und nur fünf bis zehn Prozent aller Taten werden von Frauen verübt. Eine sonderlich große Überraschung dürfte das für die meisten inzwischen nicht mehr sein. Andere Fakten erstaunen die Teilnehmenden da mehr. Etwa, dass sexueller Missbrauch in allen gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen verteilt vorkommt. Auch, dass der Täter oder die Täterin in den allermeisten Fällen aus dem engsten Umfeld des Opfers stammt.

Doch Matthias Schneider will an diesem Abend nicht nur die Fakten auf den Tisch legen. Ihm geht es vor allem auch darum, die Strategien von Täterinnen und Tätern aufzuzeigen – und den Teilnehmenden eigene Handlungsmöglichkeiten an die Hand zu geben. So sollen sie im Zweifel in einer Situation richtig reagieren können. Das ist auch der anwesenden Gruppe wichtig. „Die Täter haben eine Strategie – aber wir brauchen auch eine Strategie!“ fordert ein Teilnehmer. Matthias möchte ein paar essentielle Aspekte hervorheben. „Wichtig ist es, einem jungen Menschen erst einmal Glauben zu schenken und zuzuhören. Betroffene Kinder müssen sich an bis zu sieben Erwachsene wenden, bis ihm oder ihr wirklich geglaubt wird.“ 

Etwas an die Hand geben

Aber nicht nur das Zuhören sei wichtig. Der 34-Jährige teilt in der Gruppe ausgedruckte Handlungsleitfäden aus. Diese sollen bei Vorfällen oder beim Verdacht sexualisierter Gewalt Orientierung geben. Auf dem Handlungsleitfaden ist auch eine Art Beobachtungsprotokoll abgedruckt. Darauf kann möglichst detailliert dokumentiert werden, was genau passiert ist und warum einem eine Situation seltsam oder beunruhigend vorkam. Eine wichtige Hilfe, wenn es im Nachhinein darum geht, seine Gedanken zu rekonstruieren. Der Bildungsreferent kennt zudem noch einen häufigen Fehler, den Beobachterinnen oder Beobachter vermeiden sollen. „Ruhe bewahren! Keine voreiligen Schlüsse ziehen und den Täter nicht selbst konfrontieren. Dafür aber Rat einholen – am besten von einer professionellen Ansprechperson!“, rät er der Runde.

Matthias teilt den Teilnehmenden die Handlungsleitfäden aus.

Diese Ansprechpersonen sind deutschlandweit an unterschiedlichen Stellen zu finden. Unter anderem haben die deutschen Bischöfe 2010 eine Rahmenordnung zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlicht. Darin wurde auch festgelegt, dass jede Diözese besondere Beauftragte für das Thema Prävention benennt. Auch das Kolpingwerk Deutschland und zahlreiche Kolping-Diözesanverbände haben inzwischen feste Ansprechpartnerinnen und Vertrauenspersonen, wenn es um sexualisierte Gewalt geht. Neben den Anlaufstellen im kirchlichen Bereich können aber auch Kontakt- und Informationsstellen, wie „Zartbitter e.V.“ oder „Wildwasser“ unterstützen. Im Idealfall kommt es jedoch gar nicht erst soweit.

„Wichtig ist es, einem jungen Menschen erst einmal zu glauben und zuzuhören.“
Matthias Schneider, Bildungsreferent

Prävention fasst im Grunde alle Maßnahmen zusammen, die vorbeugend, begleitend oder aber nachsorgend sind. „Im Grunde geht es darum, ein Umfeld zu schaffen, in dem hingeschaut wird“, fasst Matthias die Maßnahmen zur Prävention zusammen. Dieses Umfeld stellt er als eine Art Heißluftballon dar, der durch verschiedene Stränge ein Kind oder einen Jugendlichen nach oben heben kann. Die Stränge fasst er in den Begriffen „Beratungsstellen“, „Ansprechperson des Trägers“, „Enttabuisierung“, „Sensibilisierung“ und dem gesetzlichen Rahmen zusammen. Ein erster Schritt in die Richtung „Sensibilisierung“ ist mit der Schulung an diesem Abend getan. Zum Abschluss der drei Stunden erhalten die Teilnehmenden ein Zertifikat. Es bescheinigt, dass man in Fragen des Kinder- und Jugendschutzes zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen informiert wurde und Verfahrenswege sowie die entsprechenden (Erst-)Ansprechpartner für das Erzbistum, den Verband oder den Träger kennt. Expertinnen und Experten sind alle noch lange nicht. Dazu ist die Thematik auch zu kopmlex und bietet viele Grauzonen. Aber es ist ein Anfang. Die ersten Schritte sind gemacht.

Info

Die Kolpingjugend möchte die Präventionsarbeit vor Ort unterstützen! Ihr wollt vor Ort Workshops oder etwa einen Selbstverteidigungskurs durchführen und braucht finanzielle
Unterstützung? Aus den Spenden der Spendenkampagne „ZukunftsFest – dein Beitrag zählt!“ können Zuschüsse beantragt werden. Weitere Infos im Jugendreferat bei Elisabeth Adolf (elisabeth.adolf(at)kolping.de).

Wer zudem die „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- oder hilfebedürftiger Erwachsener im Kolpingwerk Deutschland“ oder die „Rahmenordnung – Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen im Kolpingwerk Deutschland“ herunterladen möchte, findet diese unter folgenden Links:

Fotos: Franziska Reeg; Illustration: iStock/fedrelena

Kommentar verfassen

Jeder Kommentar wird von der Redaktion überprüft, bevor er im Onlinemagazin erscheint. An dieser Stellen wollen wir auch auf unsere Netiquette und Informationen zum Datenschutz hinweisen.

Ihr Kommentar wurde verschickt!

Wir bitten um etwas Geduld. Ihr Kommentar wird von der Redaktion geprüft bis er online gestellt wird.

OK