Ausgabe 3-2023 : August

Das Herz vergisst nie

Neun Missbrauchsopfer aus der Erzdiözese München und Freising wünschen sich mehr Engagement in der Aufarbeitung. Um ein Zeichen zu setzen, pilgern sie mit dem Fahrrad nach Rom zum Papst – mit dabei ein goldenes Herz. Pauline Erdmann, Volontärin beim Sankt Michaelsbund in München, hat die Gruppe auf ihrem Weg in die Ewige Stadt begleitet.

Elf Tage lang insgesamt 720 Kilometer, 4500 Höhenmeter auf dem Fahrrad hinter sich zu bringen, um von München nach Rom zu kommen, das muss man schon wirklich wollen. Anfang Mai hat sich eine Gruppe von neun Betroffenen sexuellen Missbrauchs aus der Erzdiözese München und Freising dieser Herausforderung gestellt. Unter dem Motto: "Wir brechen auf! Kirche, bist du dabei?" ging’s aufs Fahrrad. Ihr Ziel: Ein Treffen mit Papst Franziskus und damit die Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche weiter vorantreiben. Und ich durfte dabei sein und die Gruppe medial begleiten.
 

Pauline Erdmann, Volontärin beim Sankt Michaelsbund, hat die Pilgerradtour nach Rom medial begleitet.

Am Samstag, den 6. Mai, ging es mit einer Auftaktveranstaltung auf dem Marienplatz in München los. Es war früh am Morgen, als sich bereits die ersten Teilnehmer*innen auf dem Platz versammelten. Spannung und Aufregung lagen in der Luft – auch bei mir, die nicht wusste, was mich die nächsten Tage erwarten würde. Es war kalt und es fing an zu nieseln, irgendwie passte es zu der Thematik. Und dann ging es los, die Pilgergruppe setzte sich in Bewegung. Mit ihnen rund 50 weitere Radfahrer*innen, die aus Solidarität die erste Etappe mitfuhren – ein absoluter Gänsehautmoment.

Auch wenn sich die Teilnehmenden anfangs untereinander nicht kannten, hatte ich den Eindruck, als sei schnell eine Gemeinschaft entstanden. Die Thematik des Missbrauchs war immer präsent. Während der Tour tauschten sich die Pilger*innen über das Erlebte aus, weinten und lachten gemeinsam. Auch Spannungen waren teilweise spürbar und die Nerven lagen blank. Während der Reise gab es teilweise geplante Treffen mit Klerikern in Kirchen. Vor allem da wurde die Komplexität des Themas spürbar, da die Begegnungen einzelne Betroffene triggerten. Ungewissheit, wie das Treffen mit dem Papst sein würde, inklusive. 

"Wir sind keine Betroffenen, wir sind Überlebende."
Dietmar Achleitner, Initiator der Pilgerradtour

An Papst Franziskus haben die Pilger konkrete Forderungen: Sie möchten, dass er sich auf die Seite der Opfer stellt. Die Täter sollen bestraft und die Bischöfe, die ihrer Verantwortung nicht hinreichend nachgekommen sind, zur Rechenschaft gezogen werden. Zudem soll der Papst dafür sorgen, dass schnell transparente und verbindliche Maßnahmen erstellt und auch umgesetzt werden. In ihrem Brief, den sie dem Papst übergeben wollen, schreiben sie: "Die Opfer von Missbrauch und Gewalt aus dem Erzbistum München und Freising kommen Ihnen, Heiliger Vater, 
mit offenen und zugleich verwundeten Herzen entgegen." 
 

Zusätzlich zum Brief gibt es noch ein weiteres Geschenk an Papst Franziskus: ein goldenes Herz, das aus Stäben zusammengewoben auf einem massiven Stein steht. Dietmar Achleitner, einer der Pilger und Initiator der Reise, beschreibt das Herz wie folgt: "Es sieht aus wie mein eigenes Herz. Es ist schwer, gebrochen und verletzt." Das Kunstwerk "Heart" ist von dem Künstler Michael Pendry. Richard Kick, Sprecher des Betroffenenbeirats des Erzbistums München und Freising sagt dazu: "Das ist kein rotes Herz mit einem Pfeil durch, sondern ein fragiles. Das ist das Herz, das möglicherweise bei vielen in der Brust schlägt, wenn sie davon sprechen, dass es zerstört oder durchsichtig ist." Das Herz steht als Symbol für die Liebe und Empathie zwischen allen Menschen. Es drückt den Wunsch aus, dass die Kirche den Betroffenen mit Liebe und Empathie begegnet. Zusätzlich soll es ein Zeichen der Solidarität sein mit allen Opfern von Gewalt – sexualisierte, spirituelle und physische Gewalt – nicht nur im klerikalen Kontext, erklärt Kick weiter.
 

Steine, die die Teilnehmenden auf der Tour sammelten und beschrifteten. Das Thema Missbrauch war immer präsent.

Während der Tour stellte ich mir immer wieder dieselben Fragen: Wie viel Leid mussten die Radler*innen ertragen? Wie viele vergebliche Versuche gegen den Missbrauch anzukämpfen? Ich war beeindruckt von diesem unerschütterlichen Mut, den die Pilger*innen aufbrachten. Beeindruckt war ich aber auch von der enormen Aufmerksamkeit, die die Tour mit sich brachte. Viele Medien in Deutschland, Österreich und Italien berichteten von der Pilgerradtour. Passanten sprachen die Radler*innen an, ob sie es seien, die auf dem Weg nach Rom sind, Autos fuhren hupend an der Gruppe vorbei und bekundeten ihre Begeisterung. 

Und dann war es endlich soweit! Am Dienstag, den 16. Mai, hatte es die Gruppe geschafft. Gegen 15 Uhr erreichten die Radpilger*innen den Piazzale Socrate – einen Platz, von dem aus man auf Rom herabblicken kann. Und das war der Moment, bei dem auch bei mir alle Dämme brachen. Ich war überwältigt von der Aussicht auf die Ewige Stadt und glücklich, es geschafft zu haben. Zitternd führte ich die ersten Interviews und konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Die Pilger*innen hatten während der Tour Steine gesammelt und beschriftet. Es sind Gefühle in Worte gefasst: Wut, Scham, Wertlos, Traurig, Machtstruktur, Suizid oder Würdelosigkeit. Auf einem Stein standen vier Namen. Namen von Opfern, die mit dem Missbrauch nicht mehr zurechtgekommen waren und sich das Leben genommen hatten. Diese Steine bleiben in Rom, erzählten mir die Teilnehmenden. Sie werden im Garten des römischen Begegnungszentrums der Erzdiözese München und Freising gelegt. Neben einer Nachbildung der Münchner Mariensäule. Dem Platz, an dem die Gruppe gestartet war. 
 

"Der Papst hat das Herz gespürt. Das Zeichen der Menschlichkeit, der Liebe ist angekommen."
Richard Kick, Mitorganisator

Viel Zeit, um sich auszuruhen blieb nicht. Am nächsten Tag ging es direkt weiter zur Papstaudienz. Wie wird die Audienz wohl ablaufen? Wie wird der Papst reagieren? Wird er uns überhaupt zuhören? Diese Fragen beschäftigten auch mich. Und dann war er da: Papst Franziskus. Die Aufregung wich Erleichterung. Der Papst wirkte von der Begegnung mit der Pilgergruppe sichtlich ergriffen und teilweise sprachlos. Dass ihm das Treffen am Herzen lag, zeigte er dadurch, dass er aus seinem Rollstuhl aufstand und sich fast zehn Minuten mit den Radpilgern unterhielt. Auf Deutsch bedankte er sich bei ihnen und bat die Pilgerinnen und Pilger für ihn zu beten, so wie er es ebenfalls für die Gruppe tun würde.

Höhepunkt der Pilgerradtour: die Audienz beim Papst Franziskus und die Übergabe des goldenen Herzens durch Richard Kick.

Nach der Audienz zeigten sich die Pilgerinnen und Pilger der Gruppe bewegt. Darunter Herbert Fuchs: "Mir fehlen die Worte! Ich bin die ganze Zeit am Wasser. Ich weine, was ich als Kind nie konnte." Viele Jahre konnte er nicht über den Missbrauch sprechen. Aus Scham schwieg er – über 50 Jahre. Jetzt hofft er, damit abschließen zu können.

Das hoffe auch ich. Für ihn, für die anderen Pilger*innen und für alle anderen Missbrauchsbetroffenen auf dieser Welt. Ich hoffe, dass diese Tour etwas bewirkt hat, dass es weiter geht. Für mich ist klar: Diese Pilgerradtour wird mir für immer in Erinnerung bleiben! Fast zwei Monate später bin ich immer noch überwältigt und vor allem dankbar für das Erlebte, das entgegengebrachte Vertrauen und vor allem den Mut, den die Betroffen bewiesen haben.


Über die Pilgerradtour gibt es auch ein Youtube-Video. Den Film "Mit dem Fahrrad nach Rom – Betroffene von Missbrauch pilgern zum Papst" findest du » hier.


Text: Pauline Erdmann
Fotos: Pauline Erdmann, Tatyana Sidorova/iStock

 

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