Ausgabe 3-2022 : Juli

12 Leute in einem Zimmer

Seit Monaten herrscht in der Ukraine Krieg. Aber wie ist die Situation für ukrainische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die nur aus der Ferne helfen können? Natalia ist eine von ihnen. Seit Februar hilft sie täglich.

Natalia lebt seit eineinhalb Jahren in Köln. Dort fühlt sie sich sehr wohl.

Natalia kann sich genau an den Kriegsbeginn in der Ukraine erinnern. "Es war Karneval in Köln und eigentlich wollte ich mit meinen Freundinnen und Freunden dort feiern", erzählt sie. Aber dann habe sie früh um sechs Uhr morgens am 24. Februar die Nachrichten gecheckt. An Feiern war erst einmal nicht mehr zu denken. Die 23-Jährige wohnt seit eineinhalb Jahren in Köln. "Ich liebe diese Stadt", schwärmt sie. Ihren ersten Studien­abschluss hat die heute 23-Jährige in Kiew gemacht. Danach ist sie für ihren Wirtschaftsmaster nach Deutschland gekommen – und geblieben. Natalia ist Ukrainerin und im Zentrum des Landes aufgewachsen. Dort, wo seit einigen Monaten nun ein brutaler Krieg herrscht. Für viele ist der – obwohl er in Europa stattfindet – weit weg. Für Natlia aber ganz nah. Die ersten Wochen nach Kriegsbeginn lebte Natalia im Ausnahmezustand. Sie habe kaum geschlafen, erinnert sie sich zurück. Über das blau-gelbe Kreuz, eine Hilfsorganisation für die Ukraine, wurde sie schnell ehrenamtlich tätig. "Ich wusste nicht, was ich sonst hätte machen sollen. Ich habe mich hilflos gefühlt", beschreibt sie die Situation.

Familie noch in der Ukraine

Natalias Eltern und ihre Schwester sind noch in der Ukraine. Natalia hält nicht nur den Kontakt zu ihnen. Für viele ukrainische Bekannte und Verwandte und wiederum für deren Bekannte und Verwandte wird sie zur Ansprechpartnerin. Vor allem für die, die sich auf den Weg in Richtung Deutschland machen. Wo es Schlafmöglichkeiten gebe, ob sie übersetzen könne, ob sie jemanden wisse, der vom Bahnhof abholen könne – Natalia hätte wahrscheinlich doppelt so viele Stunden am Tag gebraucht, um alles, bei dem sie gerne geholfen hätte, unterzubringen. Ihre Einzimmerwohnung mit 35 Quadratmetern wird in den nächsten Wochen das vorübergehende Zuhause für viele Ukrainerinnen und Ukrainer. "Ich kann mich an eine Nacht erinnern, in der ich zwölf Leute in meiner Wohnung zu Besuch hatte", erzählt Natalia. Ein absoluter Ausnahmezustand.

"Ich mag es, wenn ich Leuten helfen kann. Und so, wie ich gerade diese Hilfe leiste, brauche ich sie vielleicht selbst mal."
Natalia

Die meisten der Gäste blieben nicht lange und zogen von Natalias Wohnung in andere Unterkünfte. Natalia kennt viele Leute, die helfen: Leute, die Wohnraum anbieten, die übersetzen, die zu Behörden begleiten. An normalen Alltag ist für die 23-Jährige trotzdem nicht zu denken. Für Freizeitaktivitäten bleibt wenig Zeit. "Zum Sport gehe ich jetzt um sieben Uhr morgens", sagt Natalia. Von ihrem Arbeitgeber hat sie Sonderurlaub bekommen. Die ehrenamtliche Hilfe steht im Fokus. 

Anfang April erfährt Natalia dann, dass ihr Vater in der Ukraine an die Front muss. Natalia organisiert über Social-Media einen Spendenaufruf für Kleidung und Helme. Sie fährt in die Ukraine und bringt die Materialien zu ihrem Vater und Kollegen von ihm. Eine Aktion, die nicht ohne Risiko war. Natalia durfte den genauen Ort, an dem ihr Vater ist, nicht kennen. Sie trafen sich, übergaben wenige Minuten die Materialien, bevor die Sirenen losgingen. Insgesamt war Natalia im April zwei Wochen in der Ukraine. Mit ihrem Vater hält sie seitdem telefonisch Kontakt. Natalias Mutter ist noch in der Ukraine und möchte dort auch bleiben. Keine einfache Situation für die Familie.

Natalias Vater ist noch in der Ukraine. Übers Handy haben sie oft Kontakt.

Natalia wirkt in ihren Erzählungen dennoch voller Energie und Tatendrang. Woher nimmt sie diese Energie? "Ich mag es, wenn ich Leuten helfen kann. Und genauso, wie ich gerade diese Hilfe leiste, brauche ich sie vielleicht selbst einmal." Erst vor kurzem hat sie gemeinsam mit anderen Ehrenamtlichen eine Veranstaltung für ukrainische Frauen organisiert, bei der diese Unterstützung beim Erstellen von Lebensläufen bekamen. Natalia gibt ihre ehrenamtliche Hilfe viel. "Es ist einfach schön, zu sehen, wie viel man gemeinsam schaffen kann, wenn alle Leute nur bei einer Kleinigkeit helfen." Und das, was Natalia macht, das ist auf jeden Fall schon lange viel mehr als eine Kleinigkeit.


Fotos: pexels.com/Mathias Reding; privat