Ausgabe 4-2020 : November

Sie haben keine Wahl

Wer in Deutschland wählen möchte, muss mindestens 18 Jahre alt sein – doch daran könnte sich schon bald etwas ändern. Bekommt die Jugend auf allen politischen Ebenen das Wahlrecht? Susanne und Lasse würden sich das wünschen.

Es ist wahrscheinlich der berühmteste Satz Willy Brandts. „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, sagte der damalige Bundeskanzler 1969. Was genau er damit meinte, dürfte hingegen deutlich weniger bekannt sein. Denn damit sprach er sich für eine Absenkung des Wahlalters aus. Von 21 auf 18 Jahre. Und die junge Bundesrepublik wagte mehr Demokratie, das Wahlalter sank. 
Knapp 50 Jahre später könnte es erneut soweit sein. Diesen Sommer haben sich verschiedene Politikerinnen und Politiker für das Wahlrecht ab 16 ausgesprochen – darunter Familienministerin Franziska Giffey, die SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken und der Grünen-Bundesvorsitzende Robert Habeck. Auch die FDP hat im September auf ihrem Parteitag einen entsprechenden Beschluss gefasst. Die CDU dagegen bleibt bei ihrer Position, dass Kinder und Jugendliche erst ab 18 an die Wahlurne dürfen. 

Lasse Schäfer ist Schüler in Köln. Auch er fordert das Wahlrecht ab 16. Bei der vergangenen Kommunalwahl in Köln durfte der 17-Jährige seine Stimme bereits abgeben und hat in seiner Stufe ein großes Interesse seiner Mitschülerinnen und -schüler wahrgenommen. Aber eigentlich wäre es seiner Meinung nach nur konsequent, das Wahlrecht sogar schon ab der Geburt zu gewähren. „In dieser Diskussion müssen Argumente gegeben werden, die erklären warum man überhaupt erst ab einem bestimmten Alter wählen darf“, sagt er. Es müssten Merkmale gefunden werden, die nur auf eine bestimmte Altersgruppe zutreffen und damit jüngere Menschen vom Wahlrecht begründet ausschließen würden. 

Er selbst hat sein politisches Interesse schon in der Grundschule entwickelt. „Ich habe mir damals mit meinem älteren Bruder Parteien ausgedacht und dann musste unsere Mutter uns Fragen stellen, zu denen wir uns als Partei positionieren mussten“, erzählt er. Seit der vergangenen Bundestagswahl schaue er immer wieder in Sorge auf die Entwicklungen in der Bundesregierung, denn „es hätte gut passieren können, dass es Neuwahlen gibt und dann hätte ich wieder nicht mitwählen können. Neben den politischen Konsequenzen eines Koalitionsbruchs, wäre ich enttäuscht gewesen weitere vier Jahre warten zu müssen“ Er hatte sich schon lange ausgerechnet, dass er 2021 auf Bundeseben mitwählen darf. Seinen 18. Geburtstag feiert er im kommenden Juni.

  • Lasse Schäfer

    Lasse hat sein politisches Interesse schon im Grundschulalter entwickelt und sieht das Wahlrecht als Grundrecht auch für Kinder und Jugendliche.

  • Susanne Bichlmeier

    Susanne hat noch vor Kurzem selbst erlebt, wie es sich anfühlt, nicht mitwählen zu dürfen. Sie freut sich, bei der Bundestagswahl endlich ihre Stimme abgeben zu können.

Susanne Bichlmeier kennt das Gefühl gut. Die 18-Jährige ist die neue BFDlerin (Bundesfreiwilligendienstleistende) der Kolpingjugend, sie kommt aus Mühldorf in der Nähe von München. Bayern ist eines der wenigen Bundesländer, in denen die Bürgerinnen und Bürger bei allen Wahlen erst ab 18 eine Stimme haben. Bei den Kommunalwahlen durfte sie deshalb ihre Stimme bislang nicht abgeben. „Mich hat das schon geärgert, im März waren die Wahlen, im April bin ich 18 geworden“, erzählt Susanne. Trotzdem ist sie mit ihren Eltern zu Wahlveranstaltungen gegangen und hat sich selbst informiert. Sie hat ihr politisches Interesse erst so richtig mit Beginn der Oberstufe entwickelt. Damals war sie 16. Aus ihrer eigenen Erfahrung würde sie deshalb auch sagen, dass 16 ein gutes Alter ist, um auf allen Ebenen wählen zu dürfen.

Die Kolpingjugend hat das schon auf der Bundeskonferenz 2004 im Frühjahr (Buko 2004-1) beschlossen. Zu der Zeit stand gerade das Familienwahlrecht zur Debatte und auch das Kolpingwerk sprach sich für das Familienwahlrecht aus. Die Kolpingjugend forderte damals wie heute das aktive Wahlrecht auf allen politischen Ebenen ab 16. Damit geht sie allerdings nicht so weit wie andere Jugendverbände. Die KjG (Katholische junge Gemeinde) fordert beispielsweise das Wahlrecht ab der Geburt.

Auch wenn Lasse genau das als logische Konsequenz sieht, steht er – auch in seiner Rolle als Vorstand der Bezirksschüler*innenvertretung Köln (BSV) – für ein Wahlrecht ab 16: „Das ist ein realistisches Ziel. Demokratie lebt von Kompromissen, die man eingehen muss.“ Danach könne das Wahlalter stückchenweise erstmal weiter auf 14 Jahre abgesenkt werden. Er sagt: „Man verliert doch nichts. Und in meiner eigenen Stufe habe ich beobachtet, dass mit der Stimme auch das politische Interesse kam.“ Dem Gegenargument, dass Jugendliche nicht die differenziertesten Entscheidungen treffen würden, stellt er entgegen: „Wie und wonach bewerten wir denn die Wahl – auch bei Erwachsenen?“ Außerdem würde vermehrt politisches Interesse und Teilhabe von Jugendlichen gewünscht, erklärt er. Mit einer eigenen Stimme bei den Wahlen auf allen Ebenen könne genau das Wirklichkeit werden. Kinder und Jugendliche gehören mehr in den Fokus der politischen Arbeit, meinen Lasse und Susanne.

Susanne sieht da besonders das Problem bei den Kommunalwahlen in Bayern: „Wenn Entscheidungen über Schulen oder Freizeitaktivitäten getroffen werden, können Jugendliche nicht mal durch die Wahl mitreden.“ Außerdem hat sie bei der vergangenen Wahl erlebt, dass kaum Parteien junge Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt haben. Auch das könne sich durch ein niedrigeres Wahlalter eventuell ändern. Sie freut sich auf jeden Fall, bei der kommenden Bundestagswahl endlich wählen zu dürfen. „Nächstes Jahr dann wählen zu dürfen, mitbestimmen zu dürfen, find ich schon cool.“ Für Lasse ist das Wahllokal ein Ort gelebter Demokratie: „Für mich als Demokrat sind Wahlen super wichtig, da sollten auch Jugendliche gehört werden.“  


Text: Carina Müller
Bild: mohamed Hassan/Pixabay, Henning Gerlach, Carina Müller