Ausgabe 3-2022 : Juli

Kriegen wir den Verkehr auf die Kette?

Es ist gut für das Klima, hält fit und an vielen Orten ist man sogar schneller, als mit dem Auto unterwegs: Kein Wunder, dass das Fahrrad immer beliebter wird. Aber wie steht es eigentlich um dieses Verkehrs­mittel in Deutschland und wo können wir uns noch etwas abschauen?

Drahtesel, Velo, Radl oder einfach nur Fahrrad: Es ist und bleibt das CO2-freundlichste Verkehrsmittel.

Na, wann wart ihr das letzte Mal auf Eurem Drahtesel unterwegs? Heute morgen auf dem Weg zur Arbeit oder in die Schule? Oder ist das doch schon etwas länger her und Euer Fahrrad steht schon seit Monaten im Keller herum? Egal, wie es bei Euch gerade aussieht, klar ist, das Fahrrad ist aus den meisten Haushalten nicht mehr wegzudenken. Hier einmal drei spannende Zahlen für Euch:

  • 6.838 Kilometer ist die Gesamtlänge der Radwege an Bundes-, Landes- und Kreisstraßen in Deutschland.
  • 79,1 Millionen Fahrräder wurden 2020 in Deutschland gezählt. Also fast ein Rad pro Person. 
  • 1.026,215 km ist der Rekord für die längste in 24 Stunden gefahrene Strecke mit dem Fahrrad. Aufgestellt hat den Rekord der österreichische Ultra-Radfahrer Christoph Strasser.

"Critical Mass"

Bei so vielen Rädern und Kilometern an Radwegen sollte man meinen, dass es Fahrräder im deutschen Straßenverkehr leicht haben. Im Vergleich zu den Autos sind sie auf den Straßen dann aber doch oft die Verlierer. Um auf den Radverkehr in Deutschland aufmerksam zu machen, gibt es die Bewegung »Critical Mass«. Aber was steckt da eigentlich genau dahinter? Wir haben mit einem der Initiatoren aus Köln, Marco Laufenberg, darüber gesprochen.

Marco, sag mal...

Ein Interview mit

  • Marco
    Laufenberg

… Was genau ist Critical Mass?

Marco: Critical Mass ist eine (scheinbar) zufällige Zusammenkunft von Menschen bzw. Radfahrern zu einer größeren Menge. Die "kritische Masse" ist dann erreicht, wenn sich die Umgebung (in diesem Fall durch das Tempo) daran anpassen muss. Man kann das sehr gut vergleichen mit der Menschenmenge, die nach einem Fußballspiel zur Straßenbahn strömt, diese Masse bestimmt den Weg und es ist nicht einfach, aus ihr heraus abzubiegen oder in einer anderen Geschwindigkeit zu gehen. Auch das ist eine "kritische Masse".
 

Marco Laufenberg (51) ist zu allen Gelegenheiten auf dem Rad unterwegs. Erst dieses Jahr hat er sich sein erstes Auto gekauft, weil er aufs Land gezogen ist.

… Was erhofft Ihr Euch durch Critical Mass?

Marco: Wir sind nicht "gegen" irgendwelche anderen, sondern wir finden Fahrrad fahren toll und möchten einfach eine Tour machen und den anderen zeigen, dass wir da sind, gleichberechtigt sind und vor allem, dass wir Spaß haben! Das klappt wunderbar, oft sehen uns Menschen vom Straßenrand oder aus ihren Autos und fahren dann beim nächsten Mal mit. Wir fahren übrigens strikt nach der Straßenverkehrsordnung, jeder auf eigene Gefahr mit einem verkehrstüchtigen Fahrzeug!

… Was müsste Deiner Meinung nach passieren, damit mehr Leute mit dem Fahrrad unterwegs sind?

Marco: Es fahren immer mehr Menschen Fahrrad, der Trend ist eindeutig und er ist nicht mehr aufzuhalten. Und je mehr Menschen Rad fahren, desto mehr motivieren sie andere, es ihnen gleich zu tun. Schlimm wird es, wenn Entscheider, die keine sonderliche praktische Ahnung und Erfahrung haben, meinen "etwas tun" zu müssen: Das endet oft in Infrastruktur, die man vielleicht für drei bis acht Kilometer akzeptabel benutzen kann, die aber darüber hinaus unbrauchbar ist. 

… Wo kann sich Deutschland noch etwas abschauen, was das Fahrradfahren angeht?

Marco: "Das" Paradies für Radfahrer gibt es nicht. Weder in den Niederlanden, noch in Kopenhagen. Dort gibt es viel Gutes (zum Beispiel viele, sehr breite Wege außerhalb der Ortschaften), aber auch Schlech­­tes (schmale Wege im Süden der Niederlande).  

Fahrradparadies Kopenhagen?

Auch wenn Kopenhagen für Marco nicht unbe­dingt das Fahrradparadies ist – für viele ist es das. Ángel lebt in Kopenhagen und ist dort täglich mit dem Rad unterwegs. Ursprünglich kommt der 36-Jährige aus Venezuela. Fahrrad gefahren ist er dort nicht oft – viel zu gefährlich! In Kopenhagen sieht das für den Grundschullehrer anders aus. Mindestens fünf bis sechsmal in der Woche ist er auf seinem Drahtesel unterwegs – ob zur Arbeit, zum Sporttraining oder zu Freizeitaktivitäten. Er sagt selbst, ein Auto ist in der dänischen Hauptstadt absolut kein "Muss". Aber warum ist Fahrradfahren in Kopenhagen so toll? 

Ángel kann in Kopenhagen entspannt auf ein Auto verzichten. Die Stadt ist für den Fahrradverkehr gut ausgelegt.

Zum einen sind die Fahrradspuren in der Stadt für viele Radfahrenden ausgelegt und sehr breit gebaut. Eine Richtlinie schreibt vor, dass Radwege mindestens eine Breite von 1,70 Metern haben müssen – das ist deutlich größer, als viele Fahrradstreifen in Deutschland. Meistens sind die Radwege in der dänischen Hauptstadt aber sogar noch breiter. Größtenteils stellen sie dabei sogar eine eigene Fahrspur dar und sind nicht einfach nur Teil der normalen Straße. Zur Abtrennung sind die Radwege oft auf einer anderen Höhe gebaut und heben sich so gut von der Autospur ab. Das sorgt dafür, dass die Verkehrsteilnehmenden sich nicht mehr gegenseitig behindern und der Verkehr flüssiger wird. Hört sich alles ganz schön gut an! Aber auch in der vermeintlich tollsten Fahrradstadt gibt es immer wieder Probleme: Es fehlen Stellplätze für die Räder, und manchmal gibt es sogar Fahrradstau! Zum Glück hält das die Leute trotzdem nicht davon ab, auf ihr Auto zu verzichten – auch Promis nicht! So treten 60 Prozent der Abgeordneten des dänischen Parlaments jeden Tag auf dem Weg zum Büro in die Pedale. Und wann schwingt Ihr Euch das nächste Mal aufs Fahrrad?


Fotos: Tiffany Nutt/Unsplash, privat