Ausgabe 2-2023 : Mai

Gegen das Vergessen

Rosen treiben über den Schwedtsee an der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Niemand spricht ein Wort. Die Stille dröhnt in meinen Ohren. Es ist ein Besuch,

den ich nie vergessen werde.

Rosen auf dem Schwedtsee, im Gedenken an die Opfer des ehemaligen KZ Ravensbrück

An einem kalten Freitagmorgen, einen Tag vor der Bundeskonferenz 2023, machen sich 40 Kolpinggeschwister auf den Weg nach Ravensbrück. Ziel ist die Mahn- und Gedenkstätte des ehemaligen Frauen-Konzentrationslagers (KZ).

Das KZ Ravensbrück war das größte Frauenlager im nationalsozialistischen Deutschland. Etwa 121.200 Frauen, Kinder und weibliche Jugendliche sind in den Jahren 1939-1945 hier registriert worden. Ab April 1941 kamen rund 20.000 Männer hinzu. Man geht davon aus, dass 28.000 Menschen in Ravensbrück ermordet wurden. Außerdem wurden etwa 20.000 Ravensbrücker Häftlinge in der Endphase des Krieges auf einen Todesmarsch getrieben. Wie viele Menschen auf dem Weg ihr Leben ließen, ist nicht bekannt. Am 30. April 1945 befreite die Rote Armee das KZ Ravensbrück mit ca. 2.000 dort zurück gelassenen Kranken.

Die Kolpingjugend auf dem Weg zum Eingang der Mahn-und Gedenkstätte Ravensbrück
Das idyllische Bild trügt: Statt verschneitem Wanderweg, der Weg zum Lagereingang. Tausende Menschen wurden einst wie Vieh hier entlang getrieben.
Der Weg ist weit und es ist bitter kalt. Warm eingepackt braucht die Kolpingjugend etwa eine Stunde bis zur Ankunft am Eingangstor.

Zu Beginn ihrer Haft wurden alle Gefangenen vom Bahnhof durch das Dorf zum Lagereingang getrieben. Wir brauchen gut eine Stunde, bis wir den beschwerlichen, schneebedeckten Weg zurückgelegt haben. Anders als die Gefangenen damals, tragen wir Winterjacken, Handschuhe, Schals und Mützen. Trotzdem hat die Kälte uns im Griff.

Das Eingangstor markierte die Schwelle zwischen Leben und Tod. Dort angekommen, wurden die Häftlinge gezwungen, ihre Kleidung abzulegen und aus Sicht des Regimes auch ihren Status als Mensch: sie wurden zu einer Nummer. Als ich selbst durch dieses Eingangstor trete, denke ich an die Menschen, die ausgezehrt, kahlgeschoren, verängstigt und zum Teil nackt stundenlang an genau dieser Stelle ausharren mussten. Der Platz hinter dem Tor ist gewaltig.

Das Eingangstor zum ehemaligen KZ Ravensbrück
Die Kolpingjugend erfährt viele Details über die Zustände im ehemaligen Arbeitslager. Im Hintergrund Teile des ehemaligen "Industriehofes", mit einigen der Produktionsstätten, in denen die Gefangenen Zwangsarbeit leisten mussten.
Im Hintergrund die ehemaligen Wohnhäuser der Aufseherinnen. Einige von ihnen beinhalten jetzt Ausstellungen. Gezeigt werden Ravensbrücker Fundstücke aus NS Zeiten.
Hinter dem Eingangstor empfing die Besucherinnen und Besucher eine bedrückende Atmosphäre.

Die Deportierten mussten Zwangsarbeit leisten. Außerdem waren sie täglich der unberechenbaren Willkür der Aufseherinnen und schwerer Folter ausgesetzt. Hunger, Krankheit, medizinischen Experimente und Erschießungskommandos besiegelten ihr Schicksal. Ab 1945 führte man die Todgeweihten in die provisorische Gaskammer und ermordete sie dort. Anschließend wurden die leblosen Körper in den lagereigenen Krematorien verbrannt. Deren Anblick lässt mich erschaudern. Lange halte ich es nicht aus in der Halle, in der Menschen zu Asche verbrannt wurden.

Kolping wirkt: Aktiv gegen das Vergessen

Heute ist das ehemalige KZ ein Ort des Erinnerns und Gedenkens. Der Diözesanverband Berlin im Kolpingwerk Deutschland engagiert sich hier bereits seit vielen Jahren: "Generationsübergreifend. Ehrenamtlich. Beständig. Gegen das Vergessen!" Die Einrichtung einer Begegnungsstätte für Überlebende im Haus der Lagergemeinschaft wird 1996 zum ersten großen Projekt; die Kolpingjugend machte es gemeinsam mit polnischen Jugendlichen in einem ersten Workcamp begehbar.

"Wir hatten die Möglichkeit unsere Emotionen zu teilen, die Betroffenheit, Wut und Trauer über vergangene und derzeitige Geschehnisse offen darzulegen und Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft zu formulieren."
Felicitas H., ehemalige Teilnehmerin eines KJ Workcamps
Sebastian Rybot, einer der Diözesanleiter der KJ DV Berlin, erläutert die Arbeit der KJ in der Mahn-und Gedenkstätte Ravensbrück.

Der Kolpingjugend DV Berlin möchte mit seinem Engagement für das Thema sensibilisieren, damit sich die Gräueltaten von früher nicht wiederholen. "Die Teilnehmer*innen werden pädagogisch an die geschichtlichen Hintergründe rangeführt. Viele Gespräche und kultureller Austausch finden statt. Wer einmal in einer Gedenkstätte ehrenamtlich geholfen hat, wird die Existenz des Holocaust nicht anzweifeln", sagt Sebastian Rybot, Diözesanleiter der KJ Berlin.

 

Das Wahrzeichen der Mahn-und Gedenkstätte "Die Tragende" von Will Lammert

Wahrzeichen der Gedenkstätte ist die "Tragende" von Will Lammert. Die bronzene Frauenfigur, die von einem sieben Meter hohen Sockel über den Schwedtsee auf die Stadt Fürstenberg blickt, trägt kämpferisch eine zusammengebrochene Mitgefangene.

In ihrem Schatten hält Kolping nach den Besuchen Andachten ab, in denen an die Häftlinge erinnert wird, etwa mit dem "Lagergebet von Ravensbrück". Die polnische Gefangene Urszula Wińska passte 1941 das "Vater Unser" an die damalige Situation an und betete "ihre Version" im Stillen während des täglichen Appells. An einem Sonntag nahm sie allen Mut zusammen, sprach ihr Gebet laut und berührte damit alle umstehenden Häftlinge tief. Viele lernten "das Lagergebet" und gaben es an andere weiter. Das Gebet brachte die Menschen Gott näher, gab ihnen Halt und Hoffnung in einer aussichtslosen Situation.

Lagergebet: Pacierz obozowy

Vater unser, der Du bist im Himmel
Und siehst unser heimatloses Leben,
Nimm uns in Obhut, Deine treuen Kinder,
Stille die Tränen, die unsere Seele trüben.

Geheiligt sei Dein Name hier auf fremder Erde,
Wo wir dem Vaterhaus gewaltsam entrissen,
Unter den Feinden und heimlich beten müssen.

Dein Wille geschehe! rufen wir demutsvoll,
Glaubend, daß Leid und Freude von Dir kommen müssen,
Dass Du uns alles gibst, Großer, Allmächtiger Gott.
Und der tiefe Glaube wird unser Schicksal versüßen.

Herr, unser tägliches Brot karge uns nicht! 
Gib Kraft zum Überleben, und für die Seele den Glauben,
Dass unsere Verbannung nicht ohne Ziel ist,
Dass wir vielleicht durch unsere alten Sünden leiden.

Vergib unsere Schulden, durch die Schwäche entstanden,
Wenn Zwiespalt, Schmerz, Verzweiflung unsere Seelen füllen. 

Und wenn manche, oh Herr, unter dem Kreuz fallen.
Führe uns nicht in Versuchung, die die Seele verdürbe,
vor allen Bösen rette uns vielmehr
Und gib uns eine glückliche Heimkehr.

Und die Kraft, und die Herrlichkeit
Amen

Urszula Wińska

Ein See voller Rosen

Friedlich liegt der Schwedtsee – der einst das Lager begrenzte – zu Füßen der "Tragenden". Doch die Ruhe trügt, denn der See war einst Schauplatz der unvorstellbaren Gräueltaten des NS-Regimes: Seinerzeit versenkten die Nazis die Asche tausender Körper in ihm.

Nach der Andacht überreicht die Kolpingjugend allen Anwesenden eine Rose. Ich lasse sie – als Zeichen des Gedenkens – auf den See hinaustreiben. Spätestens zu diesem Zeitpunkt rollen Tränen des Mitgefühls, der Scham, der Erschütterung und der Trauer über meine Wangen. Mit einem letzten Blick auf die Rosen verlasse ich diesen tragischen Ort, der mich mit seiner Stille sehr bewegt. Dennoch bin ich dankbar für diese lehrreiche Erfahrung und bewundere, wie Kolping gegen das Vergessen wirkt.

Die "Tragende" mit Blick auf den Schwedtsee

Fotos: Tim Schroers, Carina Winzen

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2 Kommentare

  • Heinrich
    am 22.05.2023
    Mit großer Aufmerksamkeit habe ich im mir in diesen Tagen zugestellten Kolping Magazin 02_23 den Bericht "Gegen das Vergessen" gelesen. Eine vorbildhafte Aktion! Gerade in den heutigen Tagen muss mit Aktionen - wie dieser - einem "Wehret den Anfängen" zugearbeitet werden. Insofern bin ich dem Kolping-Diözesanverband Berlin und seiner Kolpingjugend für ihren überzeugenden Einsatz in Ravensbrück dankbar; denn durch ihr Engagement zeigen die Berliner Kolpinggeschwister, dass es nie wieder Verfolgung von Menschen sowie Konzentrationslager geben darf.
  • Ulrike Watson
    am 05.06.2023
    Ein sehr berührendes Erlebnis. Ein Tag gegen das Vergessen. Schöner, trauriger Bericht.
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