In Deutschland ist es eher schwierig, auf offener Straße mit Kippa rumzulaufen“, sagt Lenny. Der 17-jährige Schüler trägt stattdessen lieber eine Kette mit Davidstern-Anhänger – allerdings meist unter dem T-Shirt. Bis jetzt hat Lenny glücklicherweise nur wenige antisemitische Erfahrungen machen müssen. Vorsichtig ist er trotzdem, um unnötigen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Einerseits findet er das schade, „andererseits bin ich halt damit aufgewachsen, dass ich damit nicht so frei umgehen kann.“ Lennys Mutter ist Jüdin, sein Vater Christ. Daher kennt er beide Religionen und die damit verbunden Traditionen sehr gut. Das Judentum spielt für ihn eine große Rolle: „Ich bin zwar nicht wirklich fromm, esse zum Beispiel nicht unbedingt koscher und feiere auch nicht jeden Schabbat. Bei wichtigen Feiertagen bin ich aber immer dabei.“ Seit einiger Zeit bringt Lenny sich stärker in die jüdische Gemeinde ein und engagiert sich unter anderem im Kölner Jugendzentrum Jachad. „Hier sind auch andere Jugendliche, die eine ähnliche Geschichte haben. Der Austausch ist mir sehr wichtig“, so Lenny. Dort trifft er auch regelmäßig Naomi und Lia – die drei kennen sich schon seit Kindertagen. „Auch mir wurde von meinen Eltern eine natürliche Vorsicht mitgegeben, die mich im Alltag begleitet“, erzählt Lia. Als Kind habe sie ihre jüdische Identität gerne zeigen wollen, ihre Mutter hatte dies aber verboten. „Erst habe ich das nicht so richtig verstanden. Schließlich können meine Mitschüler ohne Probleme eine Kreuzkette tragen“, erinnert sich die heute 17-Jährige. Mit zunehmendem Alter habe sie den Rat der Eltern dann jedoch besser einordnen können. „Heute würde ich nicht unbedingt offen ansprechen, dass ich Jüdin bin. Wenn Leute mich fragen, bin ich aber ehrlich und beantworte auch gerne interessierte Fragen“, so die Schülerin.
Ein Leben in Vorsicht
Am 27. Januar 1945 wurden rund 7.000 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Der Jahrestag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus markiert heute das symbolische Ende eines Völkermordes, dem sechs Millionen jüdische Menschen zum Opfer fielen. Wie steht es 75 Jahre später um das Thema Antisemitismus in Deutschland – insbesondere unter jungen Menschen? Drei Jugendliche berichten aus ihrem Alltag.
Naomi ist ebenfalls 17 Jahre alt und gerade auf dem Weg zum Abitur. Obwohl sie zweisprachig aufgewachsen ist, vermeidet sie es, unter fremden Menschen Hebräisch zu sprechen. Insgesamt fühlt sich Naomi in Deutschland jedoch recht sicher, sagt sie. Trotzdem möchten die drei Jugendlichen in diesem Artikel lieber nicht mit vollem Namen und Foto abgebildet werden – ein Anliegen, das für sich spricht.
Nachdenklich machen auch die Zahlen, die aus einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hervorgehen: Mehr als die Hälfte der rund 200 000 jüdischen Menschen in Deutschland hat bereits antisemitische Erfahrungen machen müssen.
Im Juni 2019 warnte der Antisemitismusbeauftrage der Bundesregierung sogar davor, „überall in Deutschland die Kippa zu tragen.“ Ein ähnliches Bild zeigt ein Bericht des Bundesinnenministeriums, der für das Jahr 2019 zum wiederholten Mal einen Anstieg von über 10 Prozent im Hinblick auf antisemitische Straftaten feststellt. Die Experten gehen sogar davon aus, dass fast 80 Prozent der realen Übergriffe erst gar nicht zur Anzeige gebracht werden. Man kann sich also fragen: Wo fängt Antisemitismus eigentlich an?
Eine kurze Recherche zeigt, dass es keine allgemeingültige Definition des Begriffes gibt. Meist wird Antisemitismus schlicht mit Judenhass gleichgesetzt, was im Kern auch richtig ist. Dabei braucht es keine Schmierereien an Synagogen oder körperliche Angriffe auf Menschen – auch klischeehafte Bilder von Juden und Vorurteile sind Formen des Antisemitismus, die der oder dem Einzelnen gar nicht zwangsläufig bewusst sein müssen.
Es ist Einfühlsamkeit gefragt
„Antisemitismus ist etwas sehr Individuelles“, findet Lia. „Man sollte deshalb darauf achten, einfühlsam zu sein und niemanden zu verletzen.“ Denn: Was die einen mit Humor nehmen, können andere als Angriff empfinden. Ein gutes Beispiel hierfür seien geschmacklose Witze über Juden. Doofe Kommentare und Scherze über das Vergasen hat sich auch Lenny in der Schule öfter anhören müssen. „Ich spreche das dann an und erkläre, dass es nicht lustig ist, weil viele Menschen gestorben sind – auch aus meiner Familie“, sagt er. Besonders krass sei es in den ersten Teenagerjahren gewesen. „Das war im besten Fall Unwissen und vielleicht ein Austesten von Grenzen.“
An der Schule gehen Lenny, Naomi und Lia ganz offen damit um, dass sie jüdisch sind. Etwas nervig findet Lia, wenn manche Lehrer darauf übertrieben
überrascht reagieren. „Das ist einfach unangenehm. Vor allem, weil andere dann vielleicht denken, dass ich irgendwie bevorzugt werde“, sagt sie. Im Umgang mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern stellt sie keine Unterschiede fest: „Unter uns jungen Menschen spielen Herkunft und Religion keine große Rolle mehr. Antisemitisch beleidigt wurde ich bisher eigentlich nur von älteren Menschen auf der Straße.“ Beunruhigend findet sie im Hinblick auf die junge Generation dann eher, dass einige Jugendliche mit Begriffen wie Antisemitismus, Holocaust oder der jüdischen Bezeichnung Schoa gar nichts mehr anfangen können.
Ein Problem im Alltag
Viele Menschen setzen das Judentum mit dem Staat Israel gleich. Doch in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden können nicht für die israelische Politik verantwortlich gemacht werden
Negative Erfahrungen an einer Schule hat vor allem Naomi gemacht. In Bezug auf das Dritte Reich sagte ihre Geschichtslehrerin beispielsweise sinngemäß: "Ich möchte euch das gar nicht beibringen, aber die einflussreichen Juden lassen uns nicht vergessen.“ Als dieselbe Lehrerin immer wieder rechte Rhetorik verwendete und die „Schlussstrichdebatte“ im Unterricht viel intensiver besprach als die Geschehnisse in den Konzentrationslagern, versuchte Naomi zu widersprechen. „Sie hat das Weltbild der Kinder einseitig beeinflusst und das konnte ich so nicht stehen lassen“, sagt sie rückblickend. Da eine Beschwerde bei der Schulleitung keine Wirkung zeigte und auch der Hitlergruß bereits seit längerem in den Klassenzimmern alltäglich war, hat Naomi die Schule schließlich gewechselt. „Das Schlimme daran ist, dass die Lehrerin es nachfolgenden Klassen wieder genauso beibringen wird“, sagt sie. Dabei sei Aufklärung und das Sich-Erinnern angesichts vermehrt sichtbarer Fremdenfeindlichkeit – damals in Form rechtsextremer Ausschreitungen in Chemnitz – wichtiger denn je.
So scheint das öffentliche Bewusstsein für Antisemitismus spätestens seit dem Angriff auf eine Synagoge in Halle geschärft – viele sprechen von einer Zäsur. Für unsere jüdischen Mitmenschen war die Gefahr jedoch schon lange präsent: „Diese Ereignisse sind nur ein weiterer Beweis für das veränderte gesellschaftliche Klima. Der Aufschrei hätte schon längst stattfinden müssen – nicht erst seit Halle oder auch den Geschehnissen in Hanau“, findet Naomi. Eine Erklärung dafür, dass insbesondere antisemitische Straftaten zunehmen, hat sie nicht. „Vielleicht liegt es daran, dass die AfD so viel Zulauf hat und dadurch die Hemmschwelle sinkt“, sagt sie. Tatsächlich zeigen entsprechende Erhebungen des Bundesinnenministeriums, dass fast 90 Prozent der registrierten Straftaten dem rechtsextremen Milieu zugeordnet werden können.
Judentum ist noch mehr als Religion
Antisemitismus in Form von stereotypen Vorstellungen gibt es jedoch auch in der Mitte der Gesellschaft. „Das Judentum stellen sich viele Leute ziemlich vereinfacht als Glaubensrichtung vor und haben dabei vor allem das orthodoxe Judentum vor Augen. Dabei ist es eigentlich wie ein Koffer, in den die Juden früher alles reingepackt haben, was kulturell dazugehört – und da ist die Religion eben nur ein Bestandteil von vielen“, sagt Naomi. Sie würde sich selbst auch gar nicht als besonders religiös bezeichnen. Lia sieht das ähnlich: „Meine Familie ist eher kulturell-traditionell, wir feiern vor allem die jüdischen Feste – zuhause in Deutschland oder eben in Israel, wo wir noch viele Verwandte haben.“
Vorurteile entstehen sicherlich auch dadurch, dass das Judentum für viele Deutsche etwas sehr Abstraktes ist. „Ich will meine jüdische Identität deshalb noch stärker nach außen tragen – als eine Art Botschafter“, hat sich Lenny vorgenommen. Er will nicht, dass das Judentum in der Gesellschaft untergeht – gerade jetzt, wo es kaum noch Zeitzeugen gibt, die aus den Konzentrationslagern berichten können. „Ich bin mir aber noch nicht sicher, ob ich beispielsweise meinen Instagram-Account öffentlich machen soll. Dort teile ich nämlich auch Bilder aus Israel und habe Angst, dass Leute auf mich losgehen könnten.“ Gerade in Social Media verbreite sich Hass schließlich besonders schnell.
Auf verstärkten gesellschaftlichen Dialog setzt auch ein Schulprojekt, an dem Naomi beteiligt ist. „Meet a Jew“ möchte persönliche Begegnungen mit jüdischen Menschen ermöglichen und damit das bewirken, was Bücher allein nicht leisten können. So berichtet Naomi regelmäßig in Schulen von ihren Erfahrungen und gibt dem Thema ein Gesicht. „Judentum ist nämlich so viel mehr als Antisemitismus“, sagt sie. „Man liest immer nur über Anschläge und negativ besetzte Themen, aber nie über den jüdischen Alltag und all das Tolle, was passiert!“
„Wir sollten nach vorne schauen und dabei trotzdem nicht vergessen, was in der Vergangenheit geschehen ist“, meint auch Lenny. Gesellschaftlich könne sich noch viel Positives entwickeln. „Ich bin mir allerdings sehr unsicher, ob man sich irgendwann ganz unbedarft mit jüdischen Symbolen im öffentlichen Raum zeigen kann“, gibt Lia zu bedenken. „Es wird in der Gesellschaft immer eine Minderheit geben, die diskriminiert wird – egal, ob das Juden, Muslime oder andere Gruppen sind.“ Umso wichtiger sei es doch, Multikulturalität stärker anzunehmen, findet Naomi: „Auch Deutschland muss ein gesellschaftliches Verständnis dafür entwickeln, dass es Menschen mit mehreren Identitäten, Nationalitäten und unterschiedlichen Religionen gibt.“ Was sich alle drei für die Zukunft wünschen? „Dass man Menschen so sein lässt, wie sie sind, ohne besondere Erwartungen zu haben“, sagt Lia. „Ich wünsche mir, dass Menschen in erster Linie meine Persönlichkeit sehen und nicht meine Religion.“
Text: Franziska Tillmann
Fotos: Barbara Bechtloff