Ausgabe 3-2022 : Juli

Und auf einmal steht da auch Kolping…

Das Missbrauchsgutachten über die sexualisierte Gewalt im Bistum Münster nimmt nicht nur Bischöfe und Verantwortliche aus dem Bistum in den Blick. Die Studie weitet mit seinem historischen Ansatz den Blick der Verantwortung auf die Laien – und das Kolpingwerk.

 

Studie bedeutet neue Zeitrechnung

Eigentlich ist die Studie aus Münster für Betroffene sexualisierter Gewalt keine neue Offenbarung. Das Forscherteam um Prof. Großbölting beschreibt methodisch sehr gut die ganze Breite des Missbrauchs in der katholischen Kirche – mit all seinen Grausamkeiten für die Opfer. Grausamkeiten, die für viele Betroffene als Überlebende dieser Taten Tag für Tag bis heute spürbar sind, die bis heute Auswirkungen haben. Das formulieren Betroffene – mal laut und emotional, mal leise und sachlich – seit geraumer Zeit. 

Und dennoch beginnt eine neue Zeitrechnung. Da ist einerseits die Deutlichkeit, mit der die Dinge – endlich – beim Namen genannt werden. Aus Vertuschung wird das, was es wirklich ist: Strafvereitelung. Damit ist nicht nur der Missbrauch die Straftat, sondern auch der spätere Umgang der Verantwortlichen in den Bistümern. Bischöfe und Andere haben sich strafbar gemacht – nicht nur in Münster. Es bleibt aus Betroffenensicht zu hoffen, dass die Verjährungsfristen zu Ungunsten der Straftäter verändert werden, auch wenn damit »respektable« Persönlichkeiten der katholischen Kirche in Deutschland in das Visier der Ermittler geraten werden. Und noch etwas wird deutlich: Der Begriff der Täterorganisation manifestiert sich. Wenn nur das Wohl der Institution im Kontext missbrauchter Kinder und Jugendlicher gesehen wurde, und das über alle Hierarchieebenen hinweg bis in die Jahre nach 2010 hinein mit einer ungeheuren Konsequenz und Stringenz, dann bleibt eben nur ein Begriff dafür über: Täterorganisation!

Eine weitere Kategorie von Verantwortung

Aber diese Studie weitet das Thema Missbrauch auf eine weitere Kategorie von Verantwortung für den Missbrauch über die Täterorganisation hinaus: Auf das katholische Milieu, in dem Wegsehen, nicht wahrhaben wollen, in dem das "Nicht-sein-kann-was-nicht-sein-darf" dazu geführt hat, dass Täter sich vor Verfolgung und Anzeige sicher sein konnten. Die Studie formuliert das mit dem englischen Begriff "Bystander": Menschen in unseren Gemeinden und Verbänden, die so unfassbar viel gewusst haben. Aber eben nicht den Opfern zu Hilfe eilten, sondern schwiegen, wegsahen bis hin dazu, dass sie auf Opfer und deren Angehörige Druck ausgeübt haben.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen: Ähnliche Studien werden für Paderborn, Mainz, Freiburg noch in diesem Jahr und für Essen Anfang 2023 erwartet. Die Ergebnisse werden gleich gelagert sein!

Ein für das Kolpingwerk besonders prägnanter Abschnitt der Münsteraner Studie ist dabei weniger die Fallstudie, in dem ein ehemaliger Diözesanpräses als Serientäter identifiziert wird. Er findet sich in der Aussage einer Zeitzeugin: "Dieselbe Zeitzeugin, in deren Elternhaus aufgrund der Tätigkeit des Vaters im Kolpingverband häufig Priester zu Gast waren, erinnerte zudem eine Herrenrunde, die offenbar eine durch sexuellen Missbrauch bedingte Versetzung eines Priesters thematisierte: 'Ich saß im Ohrensessel meines Großvaters und die Männer beachteten mich gar nicht. Und sie sprachen darüber: Wo ist denn jetzt eigentlich der und der? – Ja, hast Du nicht mitbekommen, dass der seine Hände nicht von kleinen Jungen lassen konnte? Und dann haben alle schäbig und laut gelacht. Ich glaube, es war Methode, auch bei Kolping, übergriffige Priester hin- und herzuschieben. Und ich fürchte, auch mein Vater muss davon gewusst haben.'" (Großbölting, et al: Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Münster, 2022, S. 406-407)

Johannes Norpoth (55) ist Kolpingbruder und selbst Missbrauchsbetroffener. Er ist Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz und Mitglied im Zentralkommitee der deutschen Katholiken (ZdK).  Er war über viele Jahre auf Bundes- und Diö­zesanebene im Kolpingwerk engagiert, unter anderem im Bundesvorstand des Kolpingwerkes Deutschland und als Diözesanvorsitzender im Diözesanverband Essen.

Das Missbrauchsthema bekommt in unserem Verband dadurch eine neue Gestalt. Die sexualisierte Gewalt wird zu einem realen Bestandteil unserer Verbandsgeschichte. Unser Verband wird seine Rolle im Missbrauchsskandal prüfen und diesen Teil seiner Geschichte aufarbeiten müssen – endlich.

Es braucht eine Haltung – keine Methoden!

Alle Verbandsebenen, alle Kolpingschwestern und Kolpingbrüder – müssen sich der Verantwortung bewusstwerden und akzeptieren: Ja, auch das Kolpingwerk, auch Kolpingschwestern und Kolpingbrüder tragen Verantwortung am Missbrauchsskandal. Ja, auch sie haben dazu beigetragen, dass den Tätern geglaubt und den Opfern nicht geholfen wurde. Ja, auch Kolping hat seinen Anteil zum täterfreundlichen Umfeld beigetragen. 

Es braucht ein solches Bewusstsein und ein klare eigene Haltung. Eine Haltung, in der die eigene Verantwortung deutlich wird; in der die Betroffenen im Zentrum stehen; in der kein Platz ist für Strafvereitelung und Intransparenzen in der Aufklärung; die geschützte Räume eröffnet, in denen sich Opfer offenbahren können.

Und genau dazu braucht es den ganzen Verband: Jetzt, jede und jeden, alle Kolpingschwester und -brüder! Wie sagte es der selige Adolph Kolping schon: "Schön reden tut es nicht, die Tat ziert den Mann!" Nehmen wir ihn doch einfach mal beim Wort! In diesem Sinne: Treu Kolping!


Fotos: tatyana_tomsickova/iStock; privat