Ausgabe 4-2024 : November

Tierisch menschlich

Auf einem Gutshof der Adolph Kolping Stiftung Paderborn in Großeneder betreibt das Kolping Schulwerk das Projekt "Start-off": Schulmüde Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren werden hier mit viel Praxisbezug auf einen Schulabschluss vorbereitet. Tiere spielen dabei eine tragende Rolle.

Ein kräftiger Wind weht die üppigen blonden Haare von Carolin Amthor-Bröker um ihren Kopf, während sie die Glocke der Tiny Church zum Morgenimpuls läutet. Sie ist die Projektleiterin des Kolping Gutshofes. "You shall not kill" steht auf der Glocke. Die "Peacebell" wurde von dem Musiker Michael Patrick Kelly entworfen und aus Kriegsschrott gegossen. Nun hängt sie als Geschenk des Bonifatiuswerkes am Eingang der Tiny Church. Die kleine mobile Kirche – sie ist die erste ihrer Art in Kolpinghand – steht auf ihren Rädern im Schatten der großen Roteiche, die majestätisch das Zentrum des Gutshofes bildet.

"Wir geben hier Sicherheit und schaffen den Raum, damit die Jugendlichen erstmal schauen können, was sie selber überhaupt wollen", sagt Carolin Amthor-Bröker, Projektleiterin des Kolping Gutshofes.

Ein Herz mit Narben

Nach und nach steigen die Jugendlichen, die hier an dem "Start-off" Programm teilnehmen, mit dem pädagogischen Team die drei Stufen der Kirche hoch. Alle zwölf Menschen finden hier gut Platz. Sebastian Böhlen sitzt vor Kopf. Der junge Erzieher wurde nach seinem Anerkennungsjahr am Hof übernommen und ist jetzt fester Bestandteil des Teams. Er leitet den heutigen Impuls. Nachdem er eine anrührende Geschichte über die Schönheit eines vernarbten Herzens vorgelesen hat, verteilt er kleine Ausmalbilder mit anatomischen Herzen an alle. Cat Stevens singt "Heart of Gold", die Jugendlichen und die Mitarbeitenden nehmen die Buntstifte zur Hand. Durch die offene Tür dringt das Rauschen des Windes in der großen Eiche. Es herrscht eine konzentrierte, fast kontemplative Stimmung.

Das vernarbte Herz ist ein treffendes Bild für die Jugendlichen, die hier still sitzen und malen. Sie alle sind innerlich verletzt. Das macht es ihnen schwer, im gängigen Schulsystem zu funktionieren. Viele gehen schon seit Jahren nicht mehr zur Schule. Als Gründe nennt Eva Klare-Kurtenbach, Geschäftsführerin vom Kolping Schulwerk und Leiterin des Gutshofes, unter anderem Mobbing­erfahrungen, Missbrauch, Drogenkonsum und Straffälligkeit. Erste negative Erfahrungen mit der Schule sammelten viele schon in der Grundschule, sagt sie.

Gefühle, Wünsche und Ziele

Jetzt sind sie hier. Dieser sonnige Freitag im August ist der dritte Tag des neuen Jahrgangs auf dem Hof. Die ersten Tage nutzten die Jugendlichen und das Team dazu, sich kennenzulernen und gemeinsam anzukommen. Viel Zeit hat die Gruppe auf dem Heuboden verbracht, der sich über den Stallungen befindet. Hier riecht es nach Geborgenheit – aber auch nach Freiheit und Abenteuer. Vor großen Heurädern liegen Strohballen zum Sitzen angeordnet im Kreis. In einer Lücke zwischen ihnen steht ein Whiteboard. Hier haben die Jugendlichen ihre Gefühle, Wünsche und Ziele erarbeitet und aufgeschrieben. Was da steht, berührt und erzählt etwas über die Menschen, die hierher kommen: 'Mehr soziale Kontakte' oder 'mehr Stabilität'. Natürlich geht es auch um den Abschluss und das Finden eines Ausbildungsplatzes. Das, was für viele junge Menschen selbstverständlich ist, hat sich für die Jugendlichen hier zu einer scheinbar unüberwindbaren Hürde aufgetürmt.

Der Heuboden ist Treffpunkt der Gruppe.

Erste Pläne

Der 16-jährige Danilo will den Hauptschulabschluss Klasse 10 machen, danach dann Berufsschule. Welchen Beruf er lernen möchte, weiß er noch nicht genau. "Wir machen hier ja noch Praktika und da wollte ich mich mal umgucken", sagt er. Leni ist auch sechzehn und hat schon einen Traumberuf. Sie möchte Sozialarbeiterin werden. Dazu muss sie den Hauptschulabschluss Klasse 9 und später dann Abitur machen, um studieren zu können. 
 

Struktur, die Halt gibt und nicht überfordert

Danilo und Leni werden morgens gemeinsam mit anderen Teilnehmenden um kurz nach acht Uhr aus dem 23 Kilometer entfernten Brakel mit dem Kleinbus abgeholt. Andere kommen selbstständig. Der Tag auf dem Hof fängt um neun Uhr an. Nach einer gemeinsamen Vorbereitung auf den Tag, bei der Aufgaben verteilt und das Essen geplant wird, müssen die Tiere versorgt werden. Im Moment sind das eine kleine Schafherde, Hühner, Fische und vier Zwergagame – exotische Reptilien, die in einem Terrarium wohnen. Nach dem Wochenende werden noch eine kleine Ponyfamilie samt Esel und Kaninchen einziehen. Täglich müssen Ställe gesäubert, Tiere gefüttert und auch mal ein kleiner Gesundheitscheck gemacht werden. Von 11 bis 13 Uhr findet dann der Unterricht statt. Hierzu kommen externe Lehrer*innen und unterrichten Mathe, Englisch, Deutsch, Ethik und BWL. Die Unterrichtsblöcke sind bewusst klein gehalten und in den Tagesablauf integriert. So können die Jugendlichen leichter lernen, sich zu disziplinieren und zu konzentrieren.
 

Nach dem gemeinsame Mittagessen, das eine Gruppe von Jugendlichen vorbereitet hat und das im großzügigen, rustikal eingerichteten Esszimmer des alten Gutshauses eingenommen wird, beginnt das Nachmittagsprogramm. Die Jugendlichen arbeiten mit den Tieren, bauen etwas oder gehen kreativen Aktivitäten nach. Der Tag endet für alle um 16 Uhr. Dann werden die Schüler und Schülerinnen wieder nach Brakel gefahren oder machen sich selbständig auf den Weg.

Allen eine Chance geben

Auf dem Hof erfüllen die Jugendlichen ihre Schulpflicht und können Versäumnisse aufholen. "Wir haben ein sehr unterschiedliches Leistungsniveau", sagt Amthor-Bröker. Meist streben die Jugendlichen einen Hauptschulabschluss der Klasse 9 an, in den letzten beiden Jahren haben zwei aber auch den Realschulabschluss geschafft.

"Jedem eine Chance geben, sich zu entwickeln und Dinge anzueignen, die man braucht, um lebensfähig zu sein."
Eva Klare-Kurtenbach

Eva Klare-Kurtenbach ist selbst Kolpingschwester. Der Hof sei gut geeignet, um die Idee Adolph Kolpings erlebbar zu machen, sagt sie. "Allen eine Chance geben, sich zu entwickeln und Dinge anzueignen, die sie brauchen, um lebensfähig zu sein", gehört für die 51-jährige zur DNA des Kolpinggedankens. Und zwar "egal, wie der Hintergrund ist", sagt sie.

Auch die Tiny Church, die die meiste Zeit auf dem Hof steht, soll dazu beitragen. Neben Morgenimpulsen, die hier hin und wieder stattfinden sollen, werde die Kirche als "besonderer Ort für die Jugendlichen" pädagogisch eingebunden. Beispielsweise als Rückzugsort für vertrauliche Gespräche, erklärt sie. Oder einfach, um mal eine Auszeit nehmen zu können. In diesem Sinne ermöglicht sie es, den Aspekt der "Herzensbildung" – einem wesentlichen Bestandteil der Bildungsidee Adolph Kolpings – in die Betreuung der Jugendlichen einzubringen.

Die Tiere helfen den jungen Menschen, Verantwortung zu übernehmen und ihr Verhalten zu reflektieren.

Es ist schön, willkommen zu sein

Danilo war schon zwei Monate vor den Sommerferien in der Start-Off Maßnahme. Wie wichtig die Tagesstruktur hier ist, wird deutlich, wenn er erzählt: "Ich war lange nicht in der Schule und hatte nur noch wenig Freunde. Mit denen habe ich mich in diesen Ferien jeden Tag verabredet und mir so eine Tagesstruktur geschaffen. Das hat die Schule hier schon geschafft." Auch für Leni ist es eine Chance, hierhin zu kommen. Vor allem die Tiere und die anderen Jugendlichen findet sie toll. "Wenn man aus schwierigen Schulverhältnissen kommt, ist es schön, hier willkommen zu sein", sagt sie. "Obwohl wir hier erst drei Tage zusammen sind, verstehen wir uns so gut. Wir haben hier alle den gleichen Knall!" fügt sie lachend hinzu.

"Ich war lange nicht in der Schule und hatte nur noch wenig Freunde. Mit denen habe ich mich in diesen Ferien jeden Tag verabredet und mir so eine Tagesstruktur geschaffen. Das hat die Schule hier schon geschafft", sagt Danilo.

Selbstvertrauen im sicheren Rahmen aufbauen

Carolin Amthor-Bröker beschreibt den Kern der Arbeit auf dem Gutshof so: "Wir geben hier Sicherheit und schaffen den Raum, damit die Jugendlichen erstmal schauen können, was sie selber überhaupt wollen." Bisher hätten die jungen Menschen Druck von allen Seiten verspürt und Ausgrenzung erlebt. "Hier schaffen wir eine Gemeinschaft, die nicht ausgrenzt. Durch Beziehungsarbeit gibt es einen sicheren Rahmen, und dadurch wird das Selbstvertrauen aufgebaut", sagt sie. Und ergänzt: "Die Jugendlichen brauchen unser Feingefühl und das Wissen, jeden Tag wieder neu anfangen zu können. Egal wie gestern war." Die Tiere helfen dabei. Denn indem die Jugendlichen Verantwortung für die Tiere übernehmen, schlüpfen sie in eine andere Rolle. Es wird wichtig, dass sie morgens kommen und die Tiere versorgen. Klare-Kurtenbach sagt: "Für uns würden sie das nicht machen. Denn mit Menschen haben sie oft tiefe Enttäuschungen erlebt. Die Tiere berühren sie auf ganz andere Weise." So entsteht ein direkter und emotionaler Kontakt zu den Tieren

Eva Klare-Kurtenbach, Geschäftsführerin vom Kolping Schulwerk und Leiterin des Gutshofes

Weich und fest

Nach dem Mittagessen an diesem Freitagnachmittag treffen sich die Jugendlichen mit Sebastian Böhlen auf der Schafwiese. Während Schafe sonst vor Menschen weglaufen, scheint es diese kleine Herde kaum abwarten zu können, von den Jugendlichen begrüßt zu werden. Ein Junge berührt das Fell eines Schafes, erst zaghaft, dann graben sich seine Hände tief in das dichte, weiche und zugleich feste Fell. Das Schaf genießt die Berührung, während der Junge sichtbar entspannt. Danilo umarmt ein anderes Schaf gleich ganz, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht. Nicht umsonst werden die Tiere hier auch Pädagogen genannt.

Tiergestütze Intervention

Neben dem täglichen Kontakt mit den Tieren, kommen Fachkräfte für tiergestützte Intervention auf den Hof, um mit den Schülern zu arbeiten. Dabei werden Tiere bewusst eingesetzt, um bei Menschen therapeutische Fortschritte zu erreichen. Das kann auf verschiedene Arten erfolgen. Klare-Kurtenbach beschreibt eine Methode, um Selbstwirksamkeit zu erfahren, so: "Wie stelle ich mich hin, wie gehe ich in eine Situation und wie reagieren die Tiere auf mich?". Denn Tiere spüren das Verhalten, die Körpersprache und die Tonlage der Menschen und verhalten sich dazu entsprechend. Die Jugendlichen können diese Erfahrungen mit Tieren einfacher zulassen als mit Menschen.

Eine andere Möglichkeit ist es, das Verhalten von Tieren in einer Herde zu beobachten und daraus Parallelen zum eigenen Verhalten in der Gruppe zu ziehen. Das könne dann bearbeitet und reflektiert werden, sagt Klare-Kurtenbach.

Behutsam auf den Beruf vorbereiten

Im Verlauf des Jahres, das die Gruppe hier verbringt, sollen die Teilnehmenden auf eine Ausbildung und den Berufsalltag vorbereitet werden. Um herauszufinden, welcher berufliche Weg jeweils der richtige ist, machen alle Schüler*innen verschiedene Praktika. "Dabei begleiten wir die Jugendlichen sehr eng und über einen langen Zeitraum", sagt Amthor-Bröker. Um Frustrationen auf beiden Seiten und vorzeitigen Abbrüchen vorzubeugen, sei ein behutsames Vorgehen wichtig. Zum ersten Kennenlernen im Betrieb kommen die Pädagogen mit. Angefangen wird mit einem halben Tag pro Woche, und steigert sich dann langsam bis zu mehreren Wochen. "So haben die Jugendlichen die Sicherheit, immer zu uns zurückzukommen und über alles sprechen zu können", sagt sie.

Man kann nicht jeden mitnehmen

Natürlich gibt es auch Rückschläge. "Ab und zu fällt jemand in sein altes Muster zurück und kommt nicht mehr", sagt Klare-Kurtenbach "Wir schöpfen dann alle Möglichkeiten aus, telefonieren mit den Eltern, fahren mehrmals hin. Aber irgendwann muss man akzeptieren, dass man nicht jeden mitnehmen kann."  In den zwei Jahren, die die Maßnahme jetzt hier am Hof läuft, sei das aber nur zweimal passiert.

Den Schalter umlegen

Der Einsatz für jeden Einzelnen lohnt sich allerdings. Carolin Amthor-Bröker erzählt von einer Schülerin aus dem letzten Jahr. Angefangen habe sie mit "null Bock" und Drogenproblemen, habe sich auf dem Handy ständig Videos angeschaut: 'Wie lebe ich obdachlos und bin trotzdem glücklich'. "Wir haben uns dann die Videos gemeinsam mit ihr angeschaut und mit ihr wissenschaftlich an dem Thema gearbeitet, wie Sucht entsteht", sagt Amthor-Bröker. "Und irgendwann hat sich der Schalter umgelegt, und sie hat beschlossen: Ich ändere jetzt mein Leben." Mittlerweile macht sie eine Ausbildung zur Sozialassistentin.

Wenn hier am Hof alle diesen Tag beendet haben, wird der Platz unter der großen Eiche leer sein. Denn die kleine Kirche ist auf dem Weg nach Soest zu der Verleihung der Konrad-Martin-Medaille an Dagmar Hanses, die sich im nordrhein-westfälischen Landtag für die Interessen von Jugendlichen und jungen Menschen stark macht. Aber das ist eine andere Geschichte.

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