Ausgabe 4-2021 : Oktober

Schwester Arlina

Hoffnung für gestrandete Migrierende in der Großstadt: Krankenschwester, Managerin, Kindergärtnerin, Telefonistin, Köchin, Psychologin, Berufsberaterin, Anwältin – all diese Rollen füllt Schwester Arlina Barral als Leiterin der Migranten-Herberge „Casa Mambré“ in Mexiko-Stadt aus.

Ein Kind schnappt sich einen Teller mit Essen. Die Migrantenherberge „Casa Mambré“ bietet ein sicheres vorübergehendes Zuhause.

Wochenlang hat Lucía* die fremde Stadt nur gerochen, gehört und einen winzigen Ausschnitt davon durch das Fenster ihres Schlafsaals erblickt. Sie hörte den Verkehr, der morgens zu einem lauten Rauschen anschwillt, langsam verebbt und am Spätnachmittag wieder beginnt, wenn die Angestellten und Arbeiter nach Hause fahren. Sie sah von der Dachterrasse aus auf die Flachdächer des Viertels mit Antennen, Stahlstreben und Wäscheleinen und in die verschachtelten Innenhöfe, die für das Zentrum von Mexiko-Stadt so charakteristisch sind. Ihr neues, vorübergehendes Zuhause roch nach Maisfladen, Abwasser und Orangenblüten. Es fühlte sich anders an als das kleine Dorf in Honduras, aus dem sie stammt. Die Achtjährige kam vor mehreren Monaten nach Mexiko. Zusammen mit ihrer Mutter und drei Geschwistern. Geflohen vor kriminellen Banden, die Lucías älteste Schwester vergewaltigt hatten, vor ihrem prügelnden Vater, vor dem Elend in einem Land, das zu den ärmsten Lateinamerikas gehört und dessen politische Elite tief in Korruption und Drogenhandel verstrickt ist. 

Oase der Ruhe

In dem vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützten Migrantenwohnheim des Scalabrinianerinnen-Ordens fand Lucías Familie nach mehreren Wochen der Flucht eine Oase der Ruhe. Wegen der Corona-Pandemie beschränkten sich die ersten Wochen allerdings auf die beiden Stockwerke der Casa Mambré. Nun aber geht es zum ersten Mal hinaus, über die sechsspurige Straße in den gegenüberliegenden Park. Die Jacaranda-Bäume blühen lila und die Vögel streiten sich laut um die besten Nistplätze. Lucía ist aufgeregt, stolpert beim Seilspringen und schlägt sich das Knie auf. 

Schwester Arlina Barral leitet die Casa Mambré.

Schwester Arlina Barral nimmt sie in den Arm, trocknet die Tränen und tupft das aufgeschürfte Knie mit einem Desinfektionstuch ab. Keine zwei Minuten später läuft Lucía wieder zu ihren neuen Freundinnen aus dem Wohnheim. „Ich bin hier das Multifunktionstalent“, sagt sie. Schwester Arlina ist nicht nur die Leiterin der Casa Mambré, sondern auch Krankenschwester, Managerin, Kindergärtnerin, Telefonistin, Köchin, Psychologin, Berufsberaterin, Anwältin. All diese Rollen muss sie ausfüllen. Die Heimleitung beansprucht sie rund um die Uhr und fordert die Management-Qualitäten der gelernten Betriebswirtin. An drei Tagen pro Woche übergibt sie den Staffelstab an eine Kollegin. Keine wichtige Entscheidung wird ohne die 54-Jährige getroffen. Und davon gibt es viele: Mal bekommt eine der schwangeren Frauen nachts Krämpfe, mal stürzt ein Kind die Treppe hinunter, mal lädt ein Spender spontan Säcke voller Reis ab, mal braucht ein Flüchtling neue Schuhe, mal rufen die Behörden an und bitten um die Aufnahme eines Notfalls. „In ganz Mexiko-Stadt gibt es nur 200 Wohnheimplätze für Migranten“, erläutert Schwester Arlina. Die Nachfrage ist groß, denn die Hauptstadt ist eine Anlaufstelle für diejenigen Migranten, die um Leib und Leben fürchten und die politisches oder humanitäres Asyl beantragen. Vom Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen oder von den mexikanischen Migrationsbehörden werden sie an die Casa Mambré überwiesen.

Eine Migrantin der Garifuna-Ethnie aus Guatemala geht mit ihrem Sohn zur Krankenstation der Herberge.
Dieses Migrantenmädchen nutzt die Sportanlage im Haus.
Doktor Carlos Andres Lariza kommt ebenfalls aus Honduras. Er hatte aber die Möglichkeit, in seinem Land und in Deutschland Medizin zu studieren. Auf dem Krankenbett in der Migrantenherberge „Casa Mambré“ liegt ein kleiner Neuankömmling, der sich einer Routineuntersuchung unterzieht.

Es sind Kubaner, Haitianer, Mittelamerikaner, Venezolaner, aber auch Menschen aus Afrika. Sie alle haben traumatische Erlebnisse hinter sich, sind oft abgemagert oder verletzt von langen Gewaltmärschen. Für einige Monate dürfen sie hier bleiben, um ihre Papiere in Ordnung zu bringen. „Sie sollen sich bei uns wohlfühlen, zur Ruhe kommen und ihr Leben neu ausrichten“, erklärt Schwester Arlina. In der Casa Mambré bekommen sie dreimal am Tag etwas zu essen und das Nötigste von Kleidern bis zu Hygieneartikeln. Sie können ihre Wäsche waschen, die Kinder werden unterrichtet, es gibt Brettspiele, Malsachen und eine Tischtennisplatte. Mehrmals die Woche kommt ein Arzt vorbei. Eine Sozialarbeiterin und ein Psychologe helfen bei Behördengängen, beim Einleben in Mexiko und beim Bewältigen von Traumata. 

Zum ersten Mal seit Beginn der Corona-Pandemie bringt Schwester Arlina Barral die Kinder in den Park. Bis jetzt durften sie monatelang nicht aus der Herberge.

Schwester Arlina steht einem Team von knapp einem Dutzend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor – fast schon ein kleiner Betrieb. In ihrem schlauchähnlichen, gläsernen Büro im Erdgeschoss laufen alle Fäden zusammen. Gerade hat sie eine Zoom-Konferenz mit einer mexikanischen Senatsabgeordneten hinter sich, in der es um die akute Migrantenkrise ging. In der rechten Hand hält sie das blaue Handy, um eine Taxifahrt für drei Migranten zum Zahnarzt zu organisieren. Dann klingelt auch noch das rote Handy, das sie in ihrer Westentasche stecken hat. Die Migrationsbehörde teilt ihr einen Anhörungstermin für einen noch minderjährigen Geflüchteten mit.

Luis, ein politischer Migrant aus Kuba, wurde an der Grenze zu den USA abgewiesen.

Auch wenn es zugeht wie im Taubenschlag, Schwester Arlina bleibt gelassen und findet sogar noch Zeit, der Köchin beim Zwiebelschneiden zur Hand zu gehen. Zwischendurch erstellt sie den wöchentlichen Putzplan, der die Bewohnerinnen und Bewohner in die Haushaltsführung mit einbindet. Feste Aufgaben und ein strukturierter Tagesablauf geben ihnen Halt, erklärt sie. Die ursprünglich von den Philippinen stammende Schwester kennt die Nöte und Bedürfnisse der Menschen gut. Ihr eigener Vater ging eine Zeitlang zum Arbeiten nach Afrika, was die Familie auseinanderriss und sie selbst mit Diskriminierung und Ausgrenzung konfrontierte.

„Ich verdanke den Schwestern mein Leben. Dafür werde ich ihnen für immer dankbar sein.“
Louis aus Kuba

Diese einschneidende Erfahrung bewegte Schwester Arlina dazu, sich nach dem Betriebswirtschaftsstudium in Manila den Scalabrinianerinnen anzuschließen, die sich auf die Arbeit mit Migranten spezialisiert haben. Der Orden schickte sie nach Mexiko, wo sie 20 Jahre lang im Erzbistum der Hauptstadt die nationale Migrantenpastoral mit aufgebaut hat. Sie kennt die Anlaufstellen, die Fallstricke und hat viele persönliche Kontakte. Das hilft ihr und den Menschen in der Casa Mambré. Seit 2020 leitet sie die Unterkunft, in der bis zu 50 Frauen, Männer und Kinder Unterschlupf finden. Für Luis aus Kuba ist es fast schon ein zweites Zuhause. Er wurde in seinem Heimatland politisch verfolgt. Sein Weg in die USA endete jäh in der Grenzstadt Tijuana. Dort wurde er Zeuge eines Gewaltverbrechens, was ihn ins Visier der Drogenkartelle rückte. Traumatisiert floh er nach Mexiko-Stadt. „Ich verdanke den Schwestern mein Leben“, sagt er. „Dafür werde ich ihnen für immer dankbar sein“.

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.

Adveniat-Weihnachtsaktion 2021

ÜberLeben in der Stadt
80 Prozent der Menschen in Lateinamerika und der Karibik leben bereits heute in den Städten. Und die Landflucht hält weiter an. Doch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wird häufig enttäuscht. Das Leben der Indigenen, Kleinbauern und Klimaflüchtlinge am Stadtrand ist geprägt von Armut, Gewalt und fehlender Gesundheitsversorgung. Und wer arm ist, kann für seine Kinder keine gute Ausbildung bezahlen. Mit seinen Projektpartnern, durchbricht das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat die Spirale der Armut: durch Bildungsprojekte in Pfarrgemeinden insbesondere auch für Frauen und Kinder, Menschenrechtsarbeit und den Einsatz für faire Arbeitsbedingungen. Unter dem Motto „ÜberLeben in der Stadt“ rückt Adveniat mit seiner diesjährigen Weihnachtsaktion die Sorgen und Nöte der armen Stadtbevölkerung in den Blickpunkt. Schwerpunktländer sind Mexiko, Paraguay und Brasilien. Die Eröffnung der bundesweiten Adveniat-Weihnachtsaktion findet am 1. Advent, dem 28. November 2021, im Bistum Münster statt. Die Weihnachtskollekte am 24. und 25. Dezember in allen katholischen Kirchen Deutschlands ist für Adveniat und die Hilfe für die Menschen in Lateinamerika und der Karibik bestimmt. 

Text: Sandra Weiss
Fotos: Hans-Maximo Musielik