Ausgabe 4-2020 : November

Gleiches Recht für alle

Es war ein ständiges Hin und Her: Nun steht allerdings so gut wie fest, dass es in Deutschland ein sogenanntes Lieferkettengesetz geben wird. Doch was hat es damit eigentlich auf sich – und wie steht das Kolpingwerk Deutschland dazu? Ein Überblick.

Noch viel zu oft gehören die Hände, die Kakao-Bohnen ernten, nicht Erwachsenen: An die zwei Millionen Kinder arbeiten in Westafrika auf Kakao-Plantagen.

Es geschieht in Ghana. Es geschieht in Pakistan. Es geschieht in Indien. Und die Liste von Ländern, in denen nahezu täglich grundlegende Menschenrechte verletzt werden, ist noch viel länger. Tausende Kilometer trennen die betroffenen Staaten von Deutschland, trotzdem ist der Grund für die dortigen Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik nur eine Armlänge entfernt – beim Einkaufen. Mit dem Griff zur Jeans. Mit dem Griff zur Teepackung. Mit dem Griff zur Tafel Schokolade. Denn zusätzlich landen damit auch mangelhafte Brandschutzmaßnahmen, Hungerlöhne und Kinderarbeit im Einkaufswagen.

Rund acht Jahre ist es her, dass Nachrichtensendungen Bilder einer ausgebrannten pakistanischen Textilfabrik sendeten. 258 Angestellte verloren an diesem Tag im September 2012 ihr Leben, mehr als 30 wurden verletzt. Der Grund, weshalb sie in dem Gebäude entweder erstickten oder verbrannten: Viele Fenster waren vergittert, Notausgänge verschlossen und nur eine Tür des Gebäudes geöffnet. Für Diskussionen sorgte das Unglück hierzulande zudem, weil das deutsche Unternehmen KiK größter Kunde der Fabrik war. Im Jahr vor dem Brand kaufte der Textil-Discounter bis zu 75 Prozent der dort hergestellten Produkte.

Viele Teeblätter, die etwa auf Plantagen in Assam (Indien) geentert werden, landen unter anderem in Beuteln, die in deutschen Supermärkten auf dem Kassenband liegen. Pro Tag erhalten die Arbeiterinnen und Arbeiter allerdings gerade einmal zwischen 1,70 und zwei Euro – viel zu wenig für eine sichere Existenz. In Deutschland dürfte ihr Tageslohn in etwa dafür ausreichen, sich einen Schokoriegel kaufen zu können. Der Kakao, um diesen herzustellen, dürfte dabei sehr wahrscheinlich aus Ghana oder der Elfenbeinküste stammen. Schließlich wird etwa 70 Prozent der weltweiten Kakaoernte auf Plantagen in Westafrika angebaut. Das Problem: Die schwere körperliche Arbeit erledigen nicht nur Erwachsene, sondern auch an die zwei Millionen Kinder. Und das großteils unter ausbeuterischen Bedingungen.

Dazu beitragen, all das zu verhindern, soll in Deutschland das sogenannte Lieferkettengesetz. Eigentlich hätte es dieses Jahr verabschiedet werden sollen. Passiert ist das aber noch nicht. Nur warum eigentlich, und was genau sieht das geplante Gesetz vor? Das Kolpingmagazin gibt Antworten auf die sieben wichtigsten Fragen.

Was soll das Gesetz bringen?

Grob vereinfacht, soll es sicherstellen, dass deutsche Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten darauf achten, dass Menschenrechte und der Umweltschutz auch bei ihren ausländischen Zulieferbetrieben eingehalten werden – der globalen Lieferkette. Firmen, die menschenrechtliche Risiken in ihren Lieferketten nicht untersuchen, könnten zur Strafe mit Bußgeldern belegt und für eine gewisse Zeit von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Den Menschen in den Produktionsländern wäre es durch das Gesetz zudem möglich, vor deutschen Zivilgerichten einen Schadensersatz einzuklagen, sollte ein deutsches Unternehmen vorhersehbare und vermeidbare Schäden mitverursacht haben. Das geht bislang nicht.

Was ist bisher passiert?

Dass es in Deutschland ein Lieferkettengesetz geben wird, geht letztlich auf die Zahl 152.000.000 zurück: Die Zahl an Kindern, die weltweit täglich arbeiten müssen. Die Vereinten Nationen (UN) nahmen diese Erkenntnis 2011 zum Anlass, ihre 192 Mitgliedsstaaten dazu aufzufordern, Pläne zu machen, wie Kinderarbeit zukünftig verhindert werden kann. In Deutschland dauerte das Ganze fünf Jahre. 2014 hieß es, dass in den kommenden zwei Jahren ein solcher Plan erarbeitet werde. Und das wurde er tatsächlich. 2016 stellte die Bundesregierung schließlich ihren im Bundeskabinett beschlossenen „Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ (NAP) vor. Er ruft alle in Deutschland ansässigen Firmen dazu auf, in ihren weltweiten Lieferketten Verantwortung für menschenrechtliche und ökologische Standards zu übernehmen. Im NAP heißt es außerdem, dass die Unternehmen Mechanismen etablieren sollen, die Verstößen vorbeugen. 

Anders als zum Beispiel Frankreich oder die Niederlande sah die Bundesregierung jedoch davon ab, gleich ein Gesetz zu verabschieden – sie setzte lieber auf eine Selbstverpflichtung der Unternehmen. Sehr zum Missfallen von Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) sowie Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), die statt einer Selbstverpflichtung der Unternehmen lieber ein Gesetz gesehen hätten. Der frisch geschlossene Koalitionsvertrag zwischen der CDU/CSU und der SPD sah allerdings vor, dass ein Lieferkettengesetz nur dann folgt, wenn bis 2020 nicht die Hälfte aller Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitenden einen entsprechenden Fragebogen komplett ausgefüllt beantwortet. Die Firmen hatten dafür sogar zwei Chancen. In einer ersten Runde schickten nur 465 der 3.300 angeschriebenen Unternehmen den Fragebogen zurück. Das Resultat: Gerade einmal 18 Prozent dieser 465 Firmen gaben an, die erforderlichen Menschenrechtsstandards zu erfüllen. Die zweite Fragebogen-Runde bestätigte die Ergebnisse. Demnach erfüllten lediglich 13 bis 17 Prozent die Vorgaben des Aktionsplans. 

Das sei absolut enttäuschend, sagte Müller. „Zur Verwirklichung von Menschenrechtsstandards, die entlang der Lieferketten Kinderarbeit ausschließen und grundlegende ökologische und soziale Mindeststandards sichern“, bräuchte es „jetzt einen gesetzlichen Rahmen“. Denn nun greift ja der Koalitionsvertrag – dürften sich Müller und Heil, die erste Eckpunkte des möglichen Gesetzes bereits Anfang dieses Jahres vorstellten, zumindest gedacht haben. Einen Strich durch die Rechnung machte ihnen allerdings das Bundeskanzleramt. Das pfiff das Minister-Duo nicht nur zurück, sondern verlangte, dass auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) am Gesetz mitwirken soll. Und der blockiert seitdem – sehr zur Freude einiger Industrieverbände.

„Zur Verwirklichung von Menschenrechtsstandards, die entlang der Lieferketten Kinderarbeit ausschließen und grundlegende ökologische und soziale Mindeststandards sichern, brauchen wir jetzt einen gesetzlichen Rahmen.“
Gerd Müller, Entwicklungshilfeminister (CSU)

Woran hakt es denn?

In erster Linie wohl an der Frage der Haftung. Firmen könnten nicht für die Lieferanten ihrer Lieferanten verantwortlich gemacht werden, moniert Ingo Kramer, der scheidende Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Es sei „in der Praxis unmöglich“, eine gesamte Lieferkette zu überprüfen, „da einige große Unternehmen über 100.000 direkte Zulieferer haben können“. Der Gesetzesentwurf sei daher „weltfremd“. Ins gleiche Horn stößt auch Altmaier. Gerade Mittelständler könnten es sich nicht leisten, jedes Glied der Lieferkette zu kontrollieren, ist er überzeugt. Ein Gesetz lehne er daher ab.

Argumente, die René Fahr (siehe Interview unten) nicht wirklich nachvollziehen kann. „Es ist völlig klar, dass von den Unternehmen niemand verlangt, dass sie dafür haften, wenn tatsächlich jemand durch einen Betrugsfall entgegen aller Zusicherungen seine Produkte von Kindern herstellen lässt“, erklärt der 48-Jährige, der an der Universität Paderborn den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre innehat. „Dann können sie nichts dafür.“ Was man aber durchaus verlangen könne, sei, Mechanismen sicherzustellen, die Menschenrechte in der Lieferkette garantieren. Im Prinzip müsse eine Firma nur dokumentieren, dass sie ein entsprechendes Frühwarn- beziehungsweise Risikomanagement-System eingerichtet hat, das mögliche Menschenrechtsverstöße überprüft. „Es geht nicht darum, dass irgendwelche Anwälte künftig wild los klagen können“, sagt Fahr im Gespräch mit dem Kolpingmagazin. „Das ist so gar nicht möglich.“

Scharfe Kritik am Bundeswirtschaftsminister kommt vor allem auch von der Initiative Lieferkettengesetz. Dabei handelt es sich um ein im September 2019 gegründetes, breites zivilgesellschaftliches Bündnis von zahlreichen Menschenrechts-, Entwicklungs- und Umweltorganisationen, Gewerkschaften sowie kirchlichen Akteuren. Ihm angeschlossen haben sich auch das Kolpingwerk Deutschland und Kolping International. Besonders übel stößt der Initiative auf, dass das Lieferkettengesetz nicht für Unternehmen ab 500 Mitarbeitenden, sondern erst ab 5.000 eingeführt werden könnte. Jedenfalls dann, wenn es nach den Wünschen des Wirtschaftsministeriums geht. Weil auch der zivilrechtliche Durchsetzungsmechanismus entfallen könnte, hätten Betroffene von Menschenrechtsverletzungen kaum mehr eine Möglichkeit, vor deutschen Gerichten Entschädigungen einzufordern, heißt es in einer Pressemitteilung der Initiative. „Ein Lieferkettengesetz ohne Haftung wäre ein zahnloser Tiger“, bemängelt Johannes Schorling von der entwicklungspolitischen Organisation Inkota.

Was genau fordert die Initiative Lieferkettengesetz?

Die Initiative hat fünf Mindestanforderungen. Nur wenn diese erfüllt sind, könne ein Lieferkettengesetz wirken.

1. die zivilrechtliche Haftung (siehe oben)

2. Reichweite der Sorgfaltspflicht: Unternehmen müssten zur Sorgfalt in der gesamten Wertschöpfungskette verpflichtet werden und dürften nicht hinter die Anforderungen der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte zurückfallen.

3. Behördliche Überprüfung: Eine staatliche Behörde müsse durch das Gesetz dazu befugt werden, zu kontrollieren, ob Menschenrechts- und Umweltschutzvorgaben eingehalten werden. Für den Fall, dass diese missachtet werden, müsse die Behörde die Macht haben, Firmen gegebenenfalls zu sanktionieren.

4. Achtung der Umwelt: Das Gesetz müsse den Zusammenhang zwischen Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung anerkennen.

5. Betroffene Unternehmen: Das Gesetz dürfe nicht nur für große Unternehmen gelten. Vielmehr müsse es bei Unternehmen aus Sektoren mit großen Menschenrechtsrisiken auch kleine Unternehmen ins Auge fassen.

Wie steht Kolping zum Lieferkettengesetz?

Allein durch ihre Mitgliedschaft in der Initiative haben sich das Kolpingwerk Deutschland und Kolping International bereits klar positioniert. Um seinen Standpunkt noch einmal zu verdeutlichen, hat der Bundesvorstand des Kolpingwerkes Ende August eine ausführliche Erklärung zum Lieferkettengesetz veröffentlicht. Die im Juni bekannt gewordenen Eckpunkte für den Gesetzesentwurf von Hubertus Heil und Gerd Müller würden eine wichtige Grundlage für den anstehenden Gesetzgebungsprozess bilden. Der Bundesvorstand appellierte daher an Wirtschaftsminister Peter Altmaier, er möge sich nicht länger gegen ein solches Gesetz stellen, sondern – wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – ebenfalls dafür einsetzen. Denn ein Lieferkettengesetz sei längst überfällig. Explizit spricht sich das Kolpingwerk auch für eine zivilrechtliche Haftung von Unternehmen aus und fordert, dass das Gesetz schon für Firmen gilt, die mindestens 250 Mitarbeitende beschäftigen.

Und was meint die Bevölkerung?

Um das herauszufinden, hat Germanwatch – eine Trägerorganisation der Initiative – im September vom Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap eine repräsentative Umfrage erstellen lassen (siehe Grafik links). Demnach sprechen sich drei von vier Menschen in Deutschland für ein Lieferkettengesetz aus. 91 Prozent der Befragten gaben an, dass es Aufgabe der Politik sei, dafür zu sorgen, dass deutsche Unternehmen auch bei ihren Geschäften im Ausland Menschenrechte und Sozialstandards achten. 76 Prozent der insgesamt 1.021 befragten Personen, waren zudem dafür, Zivilklagen vor deutschen Gerichten zu ermöglichen. Eine hohe Zustimmung (83 Prozent) gab es auch dafür, Umwelt­aspekte in das Gesetz aufzunehmen.

Wie geht es jetzt weiter?

Mehrmals hat das Bundeskabinett eine Besprechung der Eckpunkte für ein Lieferkettengesetz bereits verschoben. Am 9. September protestierten Aktivistinnen und Aktivisten der Initiative daher in Berlin, wo sie einen überdimensionalen gesetzlichen Rahmen aufstellten. Mit vor Ort waren auch Markus Demele, der Generalsekretär von Kolping International, und Ulrich Vollmer, der Bundessekretär des Kolpingwerkes Deutschland. Symbolisch überreichten die Demonstranten eine Petition mit über 220.000 Unterschriften an das Bundeskanzleramt. Kurz darauf stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erstmals hinter das Gesetz.

Es wird also kommen. Die Frage ist nur, in welcher Form. „Meine große Sorge ist, dass es durch das Wirtschaftsministerium total verwässert wird und wir dann ein Lieferkettengesetz haben, das niemandem hilft“, sagt Sigrid Stapel, die Referentin für entwicklungspolitische Bildungsarbeit und Kampagnen bei Kolping International. Die Initivative wird daher vermutlich weiter ganz genau im Blick behalten, welche Eckpunkte besprochen werden, wenn das Gesetz endlich auf dem Kabinettstisch landet. Und womöglich hilft es ja, Papst Franziskus an seiner Seite zu wissen. Dieser betonte im September einmal mehr, wie wichtig ein Lieferkettengesetz sei – sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene.  

Die Chance sehen

Ein Interview mit René Fahr, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Bonn

  • René
    Fahr

Dass das Lieferkettengesetz bisher nicht beschlossen wurde, liegt in erster Linie am Bundeswirtschaftsministerium. Warum stellt sich Peter Altmaier so dermaßen quer?
Fahr: Ich rätsele selbst ein wenig drüber, weshalb es so vehement von jemandem wie Peter Altmaier bekämpft wird – und ich kann es mir nur mit Unwissenheit erklären. Aber es ist ja nicht nur er. Was mich auch als Wissenschaftler stark getroffen hat, war die Stellungnahme des Wirtschaftsweisen Lars Feld zum Lieferkettengesetz. Denn ein Politiker, der wahrscheinlich seine Klientel vermeintlich schützen möchte, ist das eine. Aber Feld sieht es ja leider genauso. Sie kommen gar nicht auf die Idee, das als Chance zu sehen.

Wie meinen Sie das?
Fahr: Es wird immer nur die Gefahr gesehen, dass man riesige Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen Staaten hat. Aber das Argument ist ein wenig seltsam, denn in anderen Staaten wie Frankreich, den Niederlanden oder Großbritannien gibt es längst implementierte Gesetze. Außerdem ist zu spüren, dass es ein immer größeres Bewusstsein der Verbraucherinnen und Verbraucher für fair produzierte Lebensmittel gibt. Wenn man sein Unternehmen da frühzeitig bereit macht und nicht erst auf ein geändertes Verbraucherverhalten reagieren muss, kann man sich eine große Chance erkaufen. Was passiert, wenn man zu lange in seinem eigenen Status Quo denkt, hat man bei der Automobilindustrie gesehen, die viel zu lange am Verbrennungsmotor festgehalten hat.

Wird es in Deutschland ein Lieferkettengesetz geben?
Fahr: Kompliziert wird der Prozess dadurch, dass jetzt drei Ministerien involviert sind. Allerdings haben wir den Druck, dass das Gesetz im Koalitionsvertrag versprochen wurde. Zudem haben Hubertus Heil und Gerd Müller das Gesetz zu einer persönlichen Sache gemacht – beide mit einer hohen Reputation und Glaubwürdigkeit. Ich weiß nicht, wie lange Peter Altmaier es schafft, noch auf Zeit zu spielen. Ich finde es schon sehr komisch, weil sich die Hauptkritikpunkte an Dingen wie Haftungsregeln entzünden. Aber man haftet ja nur dafür, einen Überwachungsprozess für die Lieferkette sicherzustellen – nicht für die Folgen, nicht für Dinge, die nicht in der eigenen Hand liegen. Wer damit ein Problem hat, ist nicht anständig. Für den müsste man sich in einer Volkswirtschaft wie Deutschland schämen, denn der hat dann am Markt eigentlich auch nichts zu suchen. 

Die Fragen stellte Marian Hamacher.


Text: Marian Hamacher
Fotos: Rodrigo Flores/unsplash, Universität Bonn