Ausgabe 4-2024 : November

"Ein tanzendes Kind ist ein Zeichen des Friedens"

Sie haben Freundinnen und Freunde bei Schießereien verloren. Und doch bauen sich Jugendliche in der von Gewalt geprägten kolumbianischen Stadt Tumaco mit Hilfe des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat ein selbstbestimmtes Leben auf.

Edwin Narváez (2. v. r.) trifft sich einmal in der Woche mit anderen Jugendlichen im Centro Afro. Die Jugendgruppe gestaltet gemeinsam ihre Freizeit, lernt oder organisiert Hilfe für Bedürftige.

Wenn Edwin Narváez das Haus verlässt, geht er geradeaus oder links. Den Weg nach rechts nimmt er nicht. Der ist zu gefährlich. Er könnte etwas sehen, das er nicht hätte sehen sollen. Er könnte Menschen begegnen, denen er nicht begegnen sollte. Also geht er geradeaus – vorbei an Holzhütten mit Wellblechdach, unverputzten Backsteinhäusern mit Holztüren, verschlossenen Fenstern, aus denen lautstark Musik dringt. Die Bässe begleiten den 19-Jährigen, während Motorräder an ihm vorbeirauschen. Ihr Dröhnen und Rattern mischt sich mit den Bässen und bildet den ohrenbetäubenden Soundtrack der Stadt.

Dann erreicht Edwin Narváez sein Ziel: das Jugendzentrum Centro Afro. "Der Ort, an dem ich sicher bin und mich wohlfühle. Der Ort, an dem meine Talente entdeckt und gefördert werden." Als er das Tor im hohen Maschendrahtzaun aufschließt, drängeln sich drei Kinder an ihm vorbei und stürmen lachend auf die Rasenfläche hinter dem bunt bemalten Gebäude. Beobachtet werden sie aus dem kleinen Friseursalon gegenüber. Späher melden Unbekannte sofort, jeder Schritt wird überwacht. 
 

Die Gewalt ist allgegenwärtig

Ganz im Südwesten Kolumbiens, direkt am Pazifik, liegt Tumaco. Fast die Hälfte der rund 250.000 Einwohnerinnen und Einwohner ist unter zwanzig Jahre alt. Fast alle sind afrokolumbianischer Herkunft, stammen also aus Familien, deren Vorfahren einst als Sklaven aus Afrika nach Kolumbien verschleppt wurden. 15 Prozent leben in extremer Armut. Die Einwohnerinnen und Einwohner verteilen sich auf die Hafenstadt im Delta und zwei vorgelagerte Inseln. Dort liegt das Viertel Nuevo Milenio mit dem Centro Afro. Rund 10.000 Menschen wohnen hier, viele in Holzhütten, die auf Holzpfählen über dem grau-braunen, von Müll und Schlieren durchzogenen Wasser errichtet sind. 

 

"Draußen sind Anspannung und Gewalt. Drinnen herrschen Lachen und Fröhlichkeit."
Edwin Narváez

Wie Edwins Eltern kommen die meisten in Tumaco aus dem Landesinneren. Sie sind vor den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Drogenbanden, Guerillas und Paramilitärs geflohen. Doch auch Tumaco ist nicht sicher. Seit über zehn Jahren zählt es zu den gewalttätigsten Städten Kolumbiens und zu den dreien mit den höchsten Mordraten. Denn Tumaco besitzt den wichtigsten Pazifikhafen und eine der größten Koka-Produktionen des Landes, dem Ausgangsprodukt für Kokain. Bei den Auseinandersetzungen stirbt die Jugend. Mehr als die Hälfte der hier ermordeten Personen ist zwischen 15 und 29 Jahre alt. "Ich habe meinen besten Freund bei einem Schusswechsel verloren. Er hatte nichts mit den Gangs zu tun, wir haben nur am Wasser gespielt", erzählt Edwin Narváez.

Das Centro Afro bietet Jugendlichen mit verschiedenen Angeboten Alternativen zu Drogenhandel und Gewalttätigkeit.

Das Centro Afro hilft gegen die Angst

Seit anderthalb Jahren ist es etwas ruhiger geworden im Viertel Nuevo Milenio: nicht jeden Morgen sind neue Tote zu beklagen. Das liegt nicht an dem Friedensvertrag, den die kolumbianische Regierung 2016 mit der FARC, der ehemals größten Guerilla des Landes, geschlossen hat. Denn der wird von den bewaffneten Gruppen nicht anerkannt. Es geht vielmehr um die Verteidigung des Territoriums gegenüber Gangs von außen. Also haben sich die verschiedenen bewaffneten Gruppen Tumacos zusammengeschlossen. Dennoch wird weiter erpresst, zwangsrekrutiert, gemordet. "Immerhin werden weniger Unschuldige getötet", erklärt Eva Preciado. Die 20-Jährige hat ihren Bruder verloren, der sich den Gangs angeschlossen hatte. "In Nuevo Milenio lebst du nur mit einer Sicherheit: Eines Tages werden sie dich ermorden", sagt sie und blickt in die Ferne. "Ich habe mich an die Angst gewöhnt und versuche, sie nicht gewinnen zu lassen. Aber das ist sehr, sehr schwierig." 
 

Dabei hilft ihr und anderen Jugendlichen das vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat seit vielen Jahren unterstützte Centro Afro. Ihre Welt ist geteilt: vor und hinter dem Maschendrahtzaun. »Draußen sind Anspannung und Gewalt. Drinnen herrschen Lachen und Fröhlichkeit«, sagt Edwin Narváez. Im Centro Afro haben sie gelernt, über ihre Ängste und Sorgen zu reden. Unterstützt werden sie von engagierten Mitarbeiterinnen wie Diana Quiñónez. Die ausgebildete Tänzerin bietet seit acht Jahren im Jugendzentrum körperliche Aktivitäten wie Akrobatik und Tanzen an. »Wir drücken über unseren Körper alles aus: die Frustration, die Aggressionen, den Schmerz. Ich möchte ihnen zeigen, dass man stark sein kann und doch sensibel«, sagt die Sozialarbeiterin, die immer bunt gekleidet ist und voller Energie steckt. »Dabei helfen Kunst, Zusammenhalt, Respekt, Kommunikation. Das ist harte Arbeit, körperlich und mental. Doch ein tanzendes Kind ist ein Zeichen des Friedens.« Trotz Angeboten aus dem ganzen Land ist sie ihrer Heimat Tumaco treu geblieben. Sie will die Jugendlichen unterstützen, anders zu denken und etwas zu verändern. 
 

Das Centro Afro ist für die Jugendlichen ein sicherer Ort, der ihnen ermöglicht, ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln.

"Mir wurde eingeschärft, keine starke Bindung zu Menschen aufzubauen  nicht einmal zu Familienmitgliedern, da sie jederzeit ermordet werden könnten", sagt Eva Preciado und wendet sich ab. Viele Eltern halten ihre Kinder emotional auf Distanz oder sperren sie zu Hause ein. Viele Mütter leben in ständiger Angst vor der Todesnachricht. In dieser Atmosphäre ist es für die Jugendlichen schwierig, sich als Personen zu entwickeln, eigene Erfahrungen zu machen, selbstständige Entscheidungen zu treffen. Fehler werden in Tumaco mit dem Tod bestraft. "Zu den bewaffneten Gruppen hier gehören keine Frauen. Aber du kannst dich in einen von ihnen verlieben. Und dann bist du mittendrin im schlechten Leben", erzählt Eva Preciado, die in einem Supermarkt jobbt. "Ich hatte viele Freundinnen, denen das passiert ist. Sie wurden früh Mütter, alleinerziehend. Oder sie werden psychisch, physisch und verbal misshandelt und haben sich daran gewöhnt."

Tumaco soll ein besserer Ort werden

Tumaco einfach verlassen? Darüber nachgedacht haben Eva und Edwin schon oft, aber es genauso oft wieder verworfen. "Ich möchte alles dafür tun, dass sich die Geschichten von Gewalt und Mord nicht wiederholen, dass Tumaco ein besserer Ort wird", sagt Edwin Narváez. Er kennt viele, die zu den bewaffneten Gruppen gehören, spielt mit ihnen Fußball, spricht mit ihnen, versucht sie positiv zu beeinflussen und lädt sie ins Centro Afro ein. Dort leitet er eine Jugendgruppe. Das Vertrauen, das ihm durch diese Aufgabe entgegengebracht wurde, hat Edwin Narváez motiviert. Er möchte studieren. So wie sein Bruder, der auch im Centro Afro war und zur ersten Generation von Studierenden aus Nuevo Milenio gehört. Das ist außergewöhnlich. Denn in Tumaco schließen nur sechs von zehn jungen Menschen die weiterführende Schule ab. Die wenigsten studieren oder finden einen Ausbildungsplatz. Die Arbeitslosenquote liegt bei 88 Prozent. Edwin Narváez möchte Sozialarbeiter werden, und in Tumaco Jugendlichen den Weg in eine gute Zukunft zeigen. Adveniat und KOLPING INTERNATIONAL fördern in Kolumbien und ganz Lateinamerika zahlreiche Projekte, die Jugendliche befähigen, Perspektiven für ihr Leben, ihre Zukunft zu entwickeln. 


Text: Christina Weise
Fotos: Mareille Landau

"Glaubt an uns – bis wir es tun!"

Viele Jugendliche in Lateinamerika und der Karibik haben den Glauben an eine gute und sichere Zukunft verloren. Ausreichende Schul- und Berufsausbildungen werden ihnen verweigert. Sie hungern, werden Opfer krimineller Banden oder begeben sich auf eine der lebensgefährlichen Fluchtrouten in den reichen Norden. Unter dem Motto »Glaubt an uns – bis wir es tun!« stellt das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat das Thema Jugend in den Mittelpunkt der diesjährigen bundesweiten Weihnachtsaktion der katholischen Kirche. In Jugendzentren, mit Aus- und Weiterbildungsprogrammen sowie Stipendien für den Berufseinstieg bietet Adveniat mit seinen Partnerorganisationen der Jugend in Lateinamerika und der Karibik eine Zukunft. Die Jugendlichen sind darauf angewiesen, dass auch die Spenderinnen und Spender in Deutschland an sie glauben und sie mit ihrer Solidarität unterstützen. Die Eröffnung der Adveniat-Weihnachtsaktion findet am 1. Advent, dem 1. Dezember 2024, im Bistum Augsburg statt. Die Weihnachtskollekte am 24. und 25. Dezember in allen katholischen Kirchen Deutschlands ist für Adveniat und die Hilfe für die Menschen in Lateinamerika und der Karibik bestimmt. Weitere Informationen unter www.adveniat.de

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